Hannelore Cayre: Die Alte. Rezensiert von Thomas Feltes

Hannelore Cayre: Die Alte.  Argument-Verlag + Ariadne 1240, Hamburg 2019, 208 Seiten, gebunden mit Lesebändchen · ISBN 978-3-86754-240-1, 18.- Euro

Dieses Buch ist eine Freude. Nicht nur der Inhalt (dazu unten), sondern schon die Aufmachung (tolle, handliche Größe, gute Bindung mit Lesebändchen) erfreuen jeden, der gerne Bücher in die Hand nimmt. Dafür gebühren Verlag und Verlegerin ein herzliches Dankeschön. Dieses Buch hat diese Mühe wirklich verdient, wie übrigens viele andere, die dieser kleine Verlag herausbringt. Ein Sonnenstrahl im Nebel der ach so politisch korrekten anderen Verlage (s. auch dazu unten!).

»Die Alte« wurde Ende 2019 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet (Platz 1 International). Im Januar 2020 stand das Buch auf Platz 1 auf der Krimibestenliste von Deutschlandfunk und Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zurecht? Ganz klar! Warum? Nicht, weil eine Frau Dealer und Polizei austrickst,

wie der Deutschlandfunk in seiner Besprechung des Buches titelt, wobei der Rezensent es auf den Punkt bringt: „Cayres Prosa ist von rasanter Lakonie, biestig, boshaft, ätzend, tödlich präzise, scheuklappenfrei und dabei sensibel. Ihre Komik balanciert dabei clever zwischen Handlungs- und Sprachkomik, aber wer in „Die Alte“ eine Satire sehen möchte, irrt, so fürchte ich. Satire überzeichnet. Hannelore Cayres Romans dagegen trifft die gesellschaftlichen Verhältnisse schon fast hyperrealistisch.“[1] Dieses Hyperrealistische ist es, das den Leser in den Bann zieht, denn der Roman von Cayre öffnet dem Leser die Augen – wenn er bereit ist, zu lesen und zu denken.

Worum geht es? Eine Arabischübersetzerin in Paris führt ein Scheißleben. Die Kohle ist knapp, die alte Mutter liegt im Sterben, die Welt biegt sich vor Ungerechtigkeit. Dann tut sich unverhofft eine Chance auf, die einfach ergriffen werden muss. Und alles wird anders, als sie (erst teilweise, dann immer mehr) die Seiten wechselt. Obwohl – eigentlich bleibt sie auf der Seite „der Guten“, nur eben anders.

Der Roman beschreibt vortrefflich, was passiert, wenn eine von Verantwortung und Geldsorgen zermürbte Mittfünfzigerin beschließt, dem Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen zu begegnen. Entlarvend, wir kleinbürgerlich vieles im Detail daherkommt, was von den Sicherheitsbehörden großspurig als „organisierte Kriminalität“ bezeichnet wird. Wie die Verlagsbeschreibung sagt: „Eine scharfe Bestandsaufnahme und ein Feuerwerk aus bösem Witz mit schamlosen Ausfällen gegen ein selbstherrliches, durch und durch verlogenes System.“ Dazu passt allerdings nicht unbedingt die „Warnung“ am Anfang des Buches. Dort steht als „Hinweis des Verlags“: „Warnung: Dieser Roman enthält diverse politisch unkorrekte Ausdrücke. Um den Sarkasmus der Autorin nicht zu entstellen, wurden sie präzise ins Deutsche übernommen. Alles andere wäre erst recht unkorrekt.

Den feinen Sarkasmus erkennt man wohl erst auf den zweiten Blick, wie der Rezensent in der FAZ: „Der Hinweis des Verlages macht Hoffnung, und diese wird nicht enttäuscht. Was die französische Autorin Hannelore Cayre hier auf nicht einmal zweihundert Seiten auffährt, ist großes Erzählkino, absolut politisch unkorrekt, staatsverdrossen kapitalismuskritisch, seelenabgründig tief, dabei selbstironisch und witzig. Obendrein in einen der cleversten Plots seit langem verpackt. Mit einem Wort: Langsam lesen, es geht viel zu schnell vorbei.“[2]

Wie die Verlegerin, Else Laudan, schreibt: „Ihre Lebensodyssee entfaltet sich in Rückblicken als ­lässig-beißender Kommentar zur Vergangenheit und Gegenwart französischer Verhältnisse samt Kolonialgeschichte und Terrorangst. Über Jahre hegt sie das Gefühl, das viele Frauen kennen: dass sich etwas ändern muss, dass es so nicht mehr geht. Dann nutzt sie einen Glückstreffer und wird von heute auf morgen Die Alte, eine Frau ohne Moral, aber mit Witz und Wut und genug Wissen, um Klischee und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Das macht als Lektüre gewaltigen Spaß – zumal ihre Schöpferin, die Strafverteidigerin Hannelore Cayre, keine Gelegenheit auslässt, mit leichter Hand und doch deutlich die ganze Absurdität dessen zu zeigen, was gemeinhin als normal akzeptiert wird.“

Geld ist alles. Diese schonungslose Wahrheit wird gleich zu Beginn des Buches präsentiert: „das Kondensat von allem, was sich kaufen lässt in einer Welt, in der alles zum Verkauf steht. Es ist die Antwort auf alle Fragen. Es ist die Sprache von Babel, die alle Menschen verbindet“ (S. 9). Und es sind die kleinen, genau sitzenden, tiefgehenden Schläge, die das Buch gleichermaßen politisch korrekt (Achtung: das ist immer eine Frage der Sichtweise) machen wie zum Schmunzeln führen: „Rassisten aller Couleur, seid gewiss, dass die erste und letzte Person, die euch mit dem Löffel füttert und euren Intimbereich wäscht, eine Frau ist, die ihr verachtet!“ (S. 57). Und es geht (eigentlich immer) um Drogen. Die Protagonistin arbeitet als Übersetzerin für die Polizei und stellt fest: „Vierzehn Millionen Menschen in Frankreich, die mal Cannabis probieren, und achthunderttausend Bauern in Marokko, die von diesem Anbau leben. Die beiden Länder sind befreundet, und dennoch: Die Bengel, deren Schacher ich den lieben langen Tag belausche, verbüßen schwere Gefängnisstrafen, weil sie ihr Hasch an die Kinder der Bullen verkaufen, die sie verfolgen, an die der Richter, die sie verurteilen, …“ (S. 71).

Und die Moral von der Geschicht´? Für Polizisten: Traue keiner/m Übersetzer*in in einem Verfahren (gleich, in welcher Richtung, ob be- oder entlastend, und das gilt abseits jeglicher Romanfiktion), verliere nicht das große Ganze aus den Augen beim alltäglichen Kampf gegen die (im Ergebnis doch so kleine „organisierte Kriminalität“ im Drogenhandel und schaue durchaus mal über deinen eigenen Polizei-Horizont hinweg dorthin, wo tatsächlich das große Geld bewegt und die großen Deals gemacht werden: Bei Großunternehmen der Automobilindustrie, bei Banken und Versicherungen und auch in der (internationalen) Politik. Auch der sog. „islamistische Terrorismus“ wird (zurecht) von Cayre relativiert: Es gibt eben „auf der Welt eine Handvoll hornkranker Loser, die ihre fünfzehn Minuten Ruhm wollen. … Du musst dir einfach sagen, dass sie lediglich eine neue Todesart erfunden haben, die so zufallsbedingt ist wie Krebs oder Verkehrsunfälle“ (S. 160). Ja, die Wahrscheinlichkeit, sich an einem/einer (bayerischen?) Brezel zu verschlucken und dabei zu Tode zu kommen, ist tatsächlich (wieder keine Fiktion) um ein vielfaches höher als die, durch einen Terrorakt zu sterben…

Ach so, auch Strafverteidiger bekommen ihr Fett weg: sie sind „naturgemäß narzisstisch, verlogen, Schürzenjäger und treulos“ (S. 108). Wer davon mehr will, dem sei das bereits 2009 im Unions-Verlag erschienene Buch der gleichen Autorin „Der Lumpenadvokat“ empfohlen[3]; aber nur Pflichtverteidigern, nicht den „smarten“ der oberen Liga, die so viel verdienen wie ihre Klienten.

Und zum Schluss noch die kriminologische Quintessenz, die auch für Deutschland gilt: „Man wird mich nicht davon abbringen …, dass diese Verschwendung von Mitteln, diese Verbissenheit, mit der man das Haschischmeer, das Frankreich überschwemmt, mit dem Dessertlöffel auszulöffeln versucht, in erster Linie zur Überwachung gewisser Bevölkerungsgruppen dient, insofern sie erlaubt, bei Arabern und Schwarzen zehnmal am Tag Personenkontrollen durchzuführen. Wie dem auch sei, ich habe praktisch fünfundzwanzig Jahre lang vom Drogenhandel gelebt, genau wie die tausende Beamte, die für seine Ausrottung zuständig sind, und die zahlreichen Familien, die sich ohne dieses Geld nur von Sozialleistungen ernähren könnten. Selbst in den Vereinigten Staaten ist man in Sachen Entkriminalisierung nicht so bescheuert wie bei uns, und das will was heißen. Man leert dort die Gefängnisse, um für echte Kriminelle Platz zu schaffen. Nulltoleranz, Nullreflexion, das ist die Drogenpolitik; die· man in meinem Land verfolgt, dabei wird es doch von den Klassenbesten regiert. Aber zum Glück haben wir unsere Weinbauregionen … Von morgens bis abends blau sein, das immerhin ist erlaubt. Pech für die Muslime, sollen sie eben picheln wie alle anderen, wenn sie Lust haben, sich ihr Innenleben zu verschönern“ (S. 71).

Thomas Feltes, Januar 2020

[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/hannelore-cayre-die-alte-eine-frau-trickst-dealer-und.2150.de.html?dram:article_id=465104

[2] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/krimi/die-franzoesische-krimiautorin-hannelore-cayre-zeigt-den-drogenhandel-von-einer-anderen-seite-16566478.html

[3] Nur noch antiquarisch verfügbar.