Seth W. Stoughton, Jeffrey J. Noble, Geoffrey P. Alpert: Evaluating Police Uses of Force, rezensiert von Thomas Feltes

Seth W. Stoughton, Jeffrey J. Noble, Geoffrey P. Alpert: Evaluating Police Uses of Force. New York, New York University Press, ISBN 978-1479814657, 326 S., ca. 55.- Euro

Polizeigewalt ist im Moment auch bei uns in aller Munde. Die Studie von Tobias Singelnstein hat im vergangenen Jahr für Aufsehen und Kritik (vor allem von Polizeigewerkschaften) gesorgt[1]. 3.375 Fälle von berichteter Polizeigewalt gingen in die Analyse ein, wobei ein Großteil der berichteten Fälle im Dunkelfeld blieb (weil nicht angezeigt), also nicht zu einem Strafverfahren führte. In der Stichprobe ist das Dunkelfeld etwa sechsmal größer als das Hellfeld. Damit wären es ca. 12.000 Fälle von Polizeigewalt pro Jahr in Deutschland. Strafverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten weisen dabei eine auffallend hohe Einstellungs- sowie eine besonders niedrige Anklagequote auf – dies gilt übrigens auch für die USA (S. 60). Das hier besprochene Buch liefert eine gründliche und wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas und gibt Hinweise, wie man Polizeigewalt evaluieren kann.

Umso wichtiger ist es, einen genauen Überblick einerseits über die entsprechenden Ereignisse zu bekommen, und andererseits über die rechtlichen und polizeiinternen Vorgaben dazu. Während erstere in Deutschland verfügbar und auch kommentiert sind (z.B. in den entsprechenden Kommentaren zu den Polizeigesetzen der Länder), sind die polizeiinternen Richtlinien z.B. zum Schusswaffeneinsatz als VS-NfD klassifiziert, also nicht verfügbar. Ganz anders in den USA, wo diese gesetzlichen und administrativen Standards bekannt sind. Die Darstellung und Kommentierung dieser Standards sowie auch die Erwartungen der jeweiligen Gemeinden und der Bürger werden im ersten Teil des Buches von Stoughton, Noble und Alpert vorgestellt und kommentiert (S. 9 -151). Auch wenn diese Regelungen für Deutschland auf den ersten Blick nicht relevant erscheinen, so lohnt doch ein Blick in diese Kapitel des Buches um zu erkennen, wie detailliert in den USA der Einsatz von Gewalt durch Polizeibeamte geregelt ist.

Auch wenn (in den USA) nur in 1,8% aller Kontakte der Polizei mit Bürgern Gewalt angedroht oder tatsächlich angewendet (S. 1), und selbst bei Verhaftungen nur selten Gewalt angewendet wird, so summiert sich dies doch auf rund 600.000 Fälle von Polizeigewalt pro Jahr. Nicht nur diese Absolutzahl, sondern auch die Tatsache, dass jede Anwendung von Gewalt (potentiell) das Vertrauen der Bürger in die Polizei beschädigen kann (S. 3, wie zuletzt der Fall George Floyd), macht deutlich, dass es Sinn macht, sich in einer umfassenden Studie mit dem Thema zu beschäftigen. Eine solche gründliche Auseinandersetzung (wie hier auf mehr als 300 Seiten) fehlt für Deutschland, was man einerseits bedauern muss, andererseits aber auch ein Schlaglicht auf die Situation hierzulande wirft.

Aber umso wichtiger ist es, die hier besprochene Studie intensiv zur Kenntnis zu nehmen.

Sicherlich ist es richtig, dass man die Situation in den USA nicht mit Deutschland vergleichen kann; die Autoren machen aber, ebenso wie viele andere einzelne Studien zur Polizeigewalt, deutlich, dass bestimmte Grundstrukturen und Abläufe durchaus länderübergreifend vergleichbar sind. Dies haben wir auch in unserer Studie „Police Use of Force“ gezeigt. 2004 hatten wir im Rahmen eines Projektes zur individuellen Legitimation polizeilicher Gewaltanwendung Gruppendiskussionen mit Polizeibeamten durchgeführt. Das Projekt wurde von der DFG finanziert und stand im Kontext einer internationalen Forschergruppe, die sich mit Polizeigewalt beschäftigte und vergleichbare Studien in rund einem Dutzend Ländern weltweit durchführte. Die Ergebnisse wurden zwischen 2007 und 2009 veröffentlicht[3]. In einer zusammenfassenden Präsentation hatten wir die Methode sowie die wesentlichen Ergebnisse 2007 in der Deutschen Hochschule der Polizei vorgestellt[4]. Wir hatten verschiedene Faktoren (organisationsbezogene, personenbezogene, situationsbezogene und wahrnehmungsbezogene) analysiert und kamen zu dem Ergebnis, dass Eskalationsangst und Autoritätserhalt eine wesentliche Rolle spielten.

Lässt sich eine eskalierende Situation mit den Ressourcen der Organisation und Person nicht im Rahmen des rechtlich Gebotenen lösen, kombiniert sie sich zusätzlich mit einer subjektiven Bewertung einer emotionalen Kränkung, Ehrverletzung oder Provokation, so kann eines der identifizierten Rechtfertigungsmuster für polizeiliche Übergriffe aktiviert werden: Angriff auf die Autorität des Staates, mangelnder Respekt gegenüber der gesellschaftlichen Rolle der Polizisten, Angriff auf die eigene Person. Wir hatten bereits damals darauf hingewiesen, dass rechtliche Aspekte bei diesen Begründungsszenarien deutlich in den Hintergrund treten und Legalität durch (subjektiv empfundene) Legitimität ersetzt wird. Polizeiliche Aus- und Fortbildung kann, so meinten wir, von der Kenntnis dieser Eskalationsspirale profitieren, in dem sie bei den teilweise inkompatiblen Basiszielen (Autoritätserhalt, Eskalationsverbot), den Rahmenbedingungen (Organisation, Person, Situation) und/oder den offensichtlich entscheidenden Wahrnehmungsmustern (Kränkung, Ehrgefühl, Provokation) in präventiver Absicht ansetzt. Auf diese Weise könne dem Ziel des zivilisatorischen Minimums der Gewaltanwendung auch und gerade auf Seiten der Träger des Monopols physischer Gewaltsamkeit ein Stück nähergekommen werden.

Inzwischen wird man realistisch betrachtet zu dem Ergebnis kommen müssen, dass sich seit unserer, nun schon 16 Jahre zurückliegenden Studie wenig verändert hat. Umso wichtiger ist es, sich immer wieder mit der Thematik zu beschäftigen, auch und besonders, wenn die aktuelle Diskussion in Deutschland (leider) viele Abwehrmechanismen in der Polizei auslöst. Da ist ein Buch wie das hier besprochene besonders wertvoll, denn es analysiert sachlich, objektiv und wissenschaftlich die Abläufe, die sich in Verbindung mit Gewaltanwendungen durch Polizeibeamte ereignen – und noch einmal: Dabei macht es keinen Unterschied, dass sich die Autoren auf die USA beziehen, zumindest nicht in den letzten Kapiteln des Buches, in denen es um taktische Überlegungen (S. 153 ff.) und Handlungsoptionen (S. 191 ff.) geht. Auch wenn die Ausbildung der amerikanischen Polizei eine andere ist (und die Anzahl der tödlichen Schüsse die in Deutschland um ein Vielfaches übersteigt, S. 89 f.): Vieles, was die Autoren schreiben, ist 1:1 auf Deutschland übertragbar. Nebenbei bemerkt: Auch zum Taser-Einsatz (S. 213) oder dem Einsatz von Polizeihunden (S. 219 f.)

Eine intensive Beschäftigung mit den „Use-of-Force-Modellen“, die von den Autoren ab S. 105 vorgestellt werden, würde auch in der Polizeiausbildung in Deutschland sinnvoll sein, vor allem aber bei der Aufarbeitung von entsprechenden Ereignissen. Dies gilt auch für die vorgestellten Handlungsmodelle (ab S. 160), bei denen die Autoren auch auf den Ansatz von Daniel Kahneman („schnelles und langsames Denken“) eingehen, den wir auf die Situation in Deutschland übertragen hatten[5]. Vor allem aber die Grundeinstellungen, mit denen Polizeibeamte im Einsatz tätig sind, können durchaus verglichenen werden: Dazu gehört die Tatsache, dass es ein Ausbildungsziel ist, den Polizeibeamten zu vermitteln, dass man immer alles kontrollieren und jede Auseinandersetzung gewinnen muss (S. 176). Diese im wahrsten Sinn des Wortes fatale Grundeinstellung ist Ursache für viele Situationen, die aus dem Ruder laufen, angefangen von unnötigen, unverhältnismäßigen und für unbeteiligte Dritte gefährlichen Verfolgungsfahrten[6] bis hin zu übereiltem Schusswaffeneinsatz[7] oder überschießender Gewaltanwendung mit Todesfolge[8]. So ist beispielsweise der lagebedingte Erstickungstod (S. 203) spätestens seit Ende der 1990er Jahre auch in der deutschen Polizei bekannt, als Wolfgang Mallach in Villingen-Schwenningen gemeinsam mit Medizinern dieses Phänomen erforschte und Handlungsanweisungen (einschl. eines Trainingsvideos) für Polizeieinsätze entwickelte[9].

Der überzogene Kontrollwahn auch in Situationen, in denen keine unmittelbare, schwere Gefahr für Leib oder Leben besteht, hängt einerseits mit (zu) hohen Erwartungen der Beamten an sich selbst zusammen, andererseits aber vor allem mit einem Führungsversagen: Verlieren ist nicht zulässig, wird als Schwäche und Makel empfunden. Deeskalationstechniken wie „Verbal Judo“ (S.179) oder das LEED-Modell sind etwas für Weicheier.

Letztlich sind auch die Forderungen, welche die Autoren am Ende ihres Buches entwickeln (S. 227 ff.), für Deutschland relevant: Mehr und bessere Informationen über das zu erwartende Einsatzgeschehen (d.h. die Lage vor Ort), mehr Distanz wahren im Einsatz und vor allem: eine beständige Auswertung und Analyse entsprechender „Vorkommnisse“. Letzteres mag auch in Deutschland geschehen, nur wird die Öffentlichkeit darüber leider zu wenig informiert. Die nötige Transparenz wird als hinderlich gesehen in der Polizei, in der man keine Fehler machen darf und daher, folgt man der im Juli 2020 in Verbringung mit der Forderung nach einer Rassismus-Studie in der Polizei von Seehofer und Reul vertretenen Philosophie, dass was nicht sein darf auch nicht sein kann – also wir keinen Rassismus haben, weil er verboten ist, und keine Fehler gemacht werden, weil das ja bedeuten würde, dass man Vorschriften verletzt hat. Fehlerkultur? Fehlanzeige. Auch das leider nichts Neues im Jahr der Diskussion über Rassismus und Gewalt in der Polizei in Deutschland.

Thomas Feltes, Juli 2020

[1] https://kviapol.rub.de/

[3] Die deutsch- und englischsprachigen Aufsätze stehen hier zur Verfügung:

[4] Die Präsentation steht hier zur Verfügung.

[5] Feltes/Jordan: Schnelles und langsames Denken im Polizeiberuf. Ein Beitrag zu Risiken und Nebenwirkungen polizeilicher Sozialisation. In: „Handbuch Polizeimanagement“ (hrsg. von J. Stierle, D. Wehe und H. Siller), Springer-Verlag Heidelberg 2017, S. 255 – 276, verfügbar hier.

[6] Vgl. Feltes: Polizeiliche Verfolgungsfahrten und der Jagdinstinkt. Kriminologisch-polizeiwissenschaftliche Anmerkungen zu einem wenig beachteten Phänomen. In: Polizei & Wissenschaft 2011, 1, S. 11-23, verfügbar hier.

[7] https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/experte-kritik-toedlicher-polizei-einsatz-bremen-groepelingen-100.html

[8] https://taz.de/Tod-im-Polizeigewahrsam/!5684340/

[9] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8608166.html