Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren (Hrsg.), DHS Jahrbuch Sucht 2020. Rezensiert von Thomas Feltes

Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren (Hrsg.), DHS Jahrbuch Sucht 2020. Lengerich, Pabst-Verlag, 2020, ISBN 978-3-95853-589-3, 20.- Euro

Aus aktuellem Anlass soll hier zu Beginn der Buchbesprechung auf das Kapitel „Delikte unter Alkoholeinfluss“ eingegangen werden, auch, weil im Nachgang zu den Ereignissen in der Stuttgarter Innenstadt (sog. „Krawallnacht“ Ende Juni) das Buch (indirekt) auf der Website von „Psychologie-Aktuell“ (aus dem gleichen Verlag) beworben wurde. Dort steht: „Eine alltägliche Rauschgift-Personenkontrolle eskalierte in Stuttgart zu einer gewalttätigen Straßenschlacht zwischen Polizeibeamten und mehr als 500 (überwiegend alkoholisierten) Jugendlichen. Die Überraschung war in der Öffentlichkeit groß – doch in der Fachwelt relativ klein. Die Ursachen sind mehrschichtig. Das Jahrbuch Sucht 2020 erläutert, warum in jährlich fast 19.000 Fällen Betrunkene „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ leisten“. Interessanter als dieser doch sehr allgemeine Hinweis ist dann ein Zitat eines Stuttgarter Streetworkers. Für Serkan Bicen hat der Gewaltausbruch in Stuttgart einen gesellschaftlichen Riss gezeigt: „Auf der einen Seite Jugendliche, die wenig Geld haben und im Freien mit Alkohol oder Rauschgift feiern wollen – und auf der anderen Seite die wohlhabende Stadtgesellschaft, die sich in Edelrestaurants oder Bars amüsiert. Sowohl die etablierten Bürger als auch Polizisten verhalten sich gegenüber der jugendlichen Spaßgesellschaft häufig „respektlos“, berichtet Bicen. „Das sind überwiegend normale junge Leute, die da nur sitzen und feiern, und dann stürmt eine Hundertschaft Polizisten auf sie zu und will die Ausweise sehen.“ Oft folgt darauf die schroffe Anweisung der Beamten, nachhause zu gehen. „Ich kritisiere das Auftreten von Ordnungshütern, die vielen Kontrollen …“, die während der Corona-Zeit verschärft und vermehrt wurden. Serkan Bicen beobachtete, wie sich mehr und mehr Frust gegen die Polizei aufbaute, – war dann jedoch von der extremen Massivität der Entladung überrascht.

Dazu passt, was Stanley Friedemann und Martin Rettenberger im Jahrbuch Sucht 2020 (S. 157 ff.) als „wirksame Mechanismen“ beschreiben: Alkohol reduziert Ängste und schwächt Hemmungen, Alkohol stimuliert, die Agilität steigt, die Aggressionsschwelle sinkt, Alkohol erschwert die Fähigkeit zu kontrolliertem Verhalten. Während man dieser Analyse durchaus zustimmen kann, sind in diesem Kapitel die Zahlen (hier aus der PKS) etwas unreflektiert übernommen worden. Es ist wenig aussagekräftig, wenn die Autoren darauf hinweisen, das 11,1% aller Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss standen – denn hier sind in der Auflistung des BKA alle möglichen Delikte aufgenommen, darunter auch Betrug und Sachbeschädigung. Viel wichtiger ist die Beschäftigung mit den Delikten, die schweren individuellen und gesellschaftlichen Schaden verursachen. Hier liegt dieser Prozentanteil deutlich höher: Bei Vergewaltigung beispielsweise bei 25,5% und bei Totschlag bei 32,2%. Ein weiterer Kritikpunkt kommt hinzu: Die Autoren übernehmen die Zahlen aus der PKS quasi unkritisch 1:1, ohne den sicherlich auch ihnen bekannten Aspekt auch nur zu erwähnen, dass die Erfassung eines Alkoholeinflusses durch die Polizei bei der Aufnahme der Anzeige von (zu) vielen Bedingungen abhängig ist und daher ziemlich unzuverlässig. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass nur bei höherem Alkoholpegel die Bedeutung für das spätere Strafverfahren schon bei den ersten Ermittlungsschritten erkannt wird; es hängt auch damit zusammen, dass gerade bei alkoholgewöhnten Personen Ausfallerscheinungen oder andere Merkmale, an denen man Alkohol“genuss“ feststellen könnte, oftmals unauffällig bis nicht vorhanden sind. Unkritisch werden auch die Zahlen zum Alkoholeinfluss beim Widerstand gegen die Staatsgewalt wiedergegeben (54,8% bei 31.346 Tatverdächtigen), wobei es hier mehr als nahegelegen hätte, sich mit der Konfliktdynamik in diesen Konstellationen und der Rolle des Alkohols dabei zu beschäftigen.

Sehr positiv hingegen sind die an die Zahlen anschließenden „theoretischen Erklärungen“ zu bewerten, weil hier tatsächlich einmal eine übergreifende Analyse erfolgt und der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Kriminalität erläutert wird. Aber auch hier wären beispielsweise Ausführungen zum Zusammenspiel von Alkoholkonsum und psychischen Störungen sinnvoll und notwendig gewesen, ebenso wie eine Beschäftigung mit der Frage, wie das Zusammenspiel von Alkohol, Drogen und repressiven Polizeimaßnahmen zu unerwünschte „Risiken und Nebenwirkungen“ polizeilichen Handelns (bis hin zum „lagebedingten Erstickungstod“) führen kann, wie mannigfache Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen[1].

Das DHS Jahrbuch Sucht 2020 der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) liefert die neuesten Zahlen und Fakten zum Konsum legaler und illegaler Drogen in Deutschland. Expertinnen und Experten aus Forschung und Praxis informieren über aktuelle Trends bei einzelnen Suchtstoffen, zu abhängigem Verhalten und über die Versorgung Suchtkranker.

Insgesamt werden in dem Handbuch nach einer Einführung in Suchtstoffe, Suchtformen und ihre Auswirkungen alle gängigen Suchtstoffe und Suchtformen, richtigerweise in der Reihenfolge ihrer Bedeutung bzw. gesellschaftlichen und sozialen Schädlichkeit: Alkohol; Tabak; Medikamente (darunter ein eigener Teil für Psychotrope und andere Arzneimittel mit Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial sowie ein Teil zu psychoaktiven Medikamenten im Straßenverkehr); Illegale Drogen; Glücksspiel; Essstörungen. Ein eigenes Unterkapitel ist „Delikten unter Alkoholeinfluss“ gewidmet, ebenso wie “Suchtmitteln im Straßenverkehr“. Weitere Kapitel stellen die Suchtkrankenhilfe in Deutschland vor und behandeln aktuelle Themen, hier: „Die volkswirtschaftlichen Kosten von Alkohol- und Tabakkonsum in Deutschland“ sowie „Sucht und Depression (am Beispiel Alkoholkonsumstörungen“.

Das jährlich erscheinende Standardwerk hat seinen Schwerpunkt natürlich auf der Darstellung und Kommentierung von Zahlen und quantitativen Entwicklungen. Ungeachtet dessen ist es (leider nur ansatzweise) darüber hinausgewachsen, sieht man sich die dem Band vorausgeschickten „Thesen“ des Vorsitzenden der Deutschen hautstelle für Suchtgefahren an. These 1: Gesellschaft ermöglicht und fördert Sucht, These 2: Sucht als „Zivilisationskrankheit“ verändert die Gesellschaft. „Es muss vorrangig um Veränderungen der Verhältnisse in der Gesellschaft gehen und sekundär um Hilfestellungen für das Verhalten Einzelner“ – so Heribert Fleischmann in seinem Vorwort (S. 8).

Die Tatsache, dass Glücksspiel, Essstörungen und Medikamente ebenfalls und gleichrangig mit anderen Süchten behandelt werden macht auch deutlich, dass man die Fokussierung auf stoffgebundene Abhängigkeiten richtigerweise aufgegeben hat. Dennoch fehlt es in dem Buch an einem übergreifenden Beitrag, der sich mit der generellen Frage beschäftigt, warum Menschen (unter den Bedingungen unserer Gesellschaft, s. die Thesen von Fleischmann) süchtig werden und bleiben. Ebenso werden die volkswirtschaftlichen Kosten von Alkohol- und Tabakkonsum behandelt (S. 225), aber auch hier bleibt es an einer eher deskriptiven Darstellung; eine wissenschaftliche Einordnung und Bewertung erfolgt leider nicht. Und vor allem fehlen die gesamtgesellschaftlichen Kosten suchtbedingten Verhaltens. Diese werden (ähnlich wie bei Straftaten) leider immer noch zu selten untersucht und thematisiert[2].

Welche „Veränderungen in der Gesellschaft“ also notwendig sind, die der Vorsitzende der DHS in seinem Vorwort anmahnt, bleibt leider ungesagt. Aber vielleicht wäre das Handbuch auch damit überfordert. So aber kann es als Steinbruch und Faktenbasis für wissenschaftlich-analytische und auch kritische Beschäftigungen mit den Süchten in unserer Gesellschaft dienen, auch wenn hier weitere Süchte zu nennen wären, die man vielleicht in der Auflage 2021 aufnehmen sollte, wie die PC- oder Handysucht, deren schädliche Auswirkungen (z.B. auch auf den Gesundheitszustand der Nutzer) bekannt sind. Auch andere Abhängigkeiten wie die Arbeitssucht könnten vielleicht in einem übergreifenden Einleitungsbeitrag thematisiert werden um deutlich zu machen, dass die stoffgebundenen Süchte nur eine Seite der Abhängigkeitsmedaille sind, und die Frage, wo und wie man abhängig wird, mehr von der individuellen und gesellschaftlichen Ausgangslage als von dem konkreten Suchtstoff abhängig ist.

Thomas Feltes, Juli 2020

[1] Vgl. https://taz.de/Tod-im-Polizeigewahrsam/!5684340/ sowie https://taz.de/Pfefferspray-fuehrt-zu-Herzversagen/!5525831 und https://taz.de/Psychologe-ueber-toedliche-Polizeischuesse/!5408530/

[2] Vgl. aber Horst Entorf (2014): Was kostet uns die Kriminalität? … und welche Kosten sind durch Kriminalitätsbekämpfung vermeidbar? Verfügbar unter https://mpra.ub.uni-muenchen.de/56627/