Tamara Verena Pitz, Robe versus Brief im Diversionsverfahren. Zum spezialpräventiven Potential jugendstrafrechtlicher Einstellungsvarianten. Rezensiert von Leif Artkämper

Tamara Verena Pitz, Robe versus Brief im Diversionsverfahren. Zum spezialpräventiven Potential jugendstrafrechtlicher Einstellungsvarianten unter Empfehlung einer Diversionsrichtlinie, 365 Seiten, 96,00 Euro, ISBN 978-3-8487-6435-8

Die Autorin beschäftigt sich mit der Frage, wie die Justiz in Zeiten ressourcenbegrenzter Personalpolitik, schwindender sozialer Kontrolle und medienwirksamer Sanktionsappelle bestmöglich auf jugendtypische Kriminalität junger Ersttäter (im Diversionsverfahren) reagieren sollte. Um diese Frage zu beantworten begnügt sich die Autorin nicht, bereits bestehende Forschungsergebnisse auszuwerten und zu vergleichen, sondern führt eine eigene – recht breit angelegte (n= 350) – empirische Studie durch, in der sie erforscht, „ob innerhalb der informellen Verfahrenserledigung nach § 45 Abs. 1 und Abs. 2 sowie des § 47 Abs. 1 JGG eine Diversionsvariante im Hinblick auf Spezialprävention und Verfahrensökonomie den anderen überlegen ist.“

Um die aufgeworfene Forschungsfrage zu beantworten, stellt die Autorin zuerst die theoretischen Grundlagen sowie die Rahmenbedingungen, die bei der Beantwortung der Frage zu berücksichtigen sind, dar. Hier wird ausführlich auf die Zielrichtung des Jugendstrafverfahrensrecht eingegangen und die prozessualen Grundsätze dargestellt. Der Autorin gelingt es hier in beeindruckender Weise die Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens herauszuarbeiten und diese darzustellen.

Darauf folgend beschäftigt sich die Autorin mit der dogmatischen Herleitung, der Geschichte und den möglichen Störfaktoren der Diversion, um sodann diese Ergebnisse auf die jugendrechtliche Diversion zu übertragen und diese ausführlich und fundiert, nebst den Problemen, die die Diversion birgt, darzustellen und abschließend aktuelle Diversionsrichtlinien vorzustellen.

Das dritte – den Schwerpunkt des Werks ausmachende – Kapitel beinhaltet die eigens durch die Autorin durchgeführte Studie. Hierzu wird zuerst auf bereits durchgeführte Studien verwiesen und die Ergebnisse dieser Studien dargestellt und verglichen. Darauf folgend beschreibt die Autorin die in der Studie verwendete Methodik und hinterfragt sie kritisch. Dies führt dazu, dass die später präsentierten Ergebnisse nachvollziehbar und vor allem transparent sind. Die Autorin nimmt bei der Darstellung und Bewertung der Forschungsergebnisse größtmögliche Differenzierungen vor, damit die Ergebnisse tatsächlich vergleichbar sind und erreicht es so, dass die Störfaktoren, die die Studie beeinflussen können, größtenteils eliminiert werden und ansonsten bei der Bewertung der Studie berücksichtigt werden.

Die Ergebnisse werden von der Autorin differenziert dargestellt und bieten somit die Grundlage für das daran folgende Fazit. Die Studie lässt anhand der Rückfallstudie den Schluss zu, dass die Diversion im Rahmen der Hauptverhandlung erfolgversprechender ist. In Zahlen ausgedrückt wird die Rückfallquote nach Diversion in der Hauptverhandlung mit 13 % geringer als bei der Diversion ohne Hauptverhandlung angeben. Gerade auch der Vergleich innerhalb der Einstellung mit Sanktion (Vergleich von den Einstellungen nach § 45 Abs. 2 und § 47 Abs. 1 Nr. 3 JGG) und der sanktionslosen Einstellung ( § 45 Abs. 1 und § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG) zeigt eine deutlich geringe Rückfallquote bei Durchführung einer Hauptverhandlung. Zwar erscheinen die Ergebnisse der Studie auf den ersten Blick, da sie eine geringere Rückfallquote bei richterlichem Kontakt des Jugendlichen attestieren, konträr zu den Forschungsergebnissen von Dollinger et al. sowie des Rezensenten zu sein, da diese bei der Untersuchung, wie die Hauptverhandlung auf den Jugendlichen wirkt, festgestellt haben, dass es zu immensen Verstehensproblemen durch den Jugendlichen kommt. Allerdings ist hier vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Forschungsfragen und dem entsprechend divergierenden Forschungsgegenstand nicht von einem Wiederspruch auszugehen. Vielmehr zeigen die unterschiedlichen Studien einen allgemeinen Reform- und Verbesserungsbedarf der jugendgerichtlichen Praxis auf.

Diesen Reformbedarf nimmt die Autorin so dann im letzten Kapitel des Werks auf, in der sie einen Vorschlag für eine Diversionsrichtlinie entwickelt. Anzumerken ist bereits hier, dass das Werk auch bereits ohne die Herausarbeitung der Empfehlung der Diversionsrichtlinie einen großen Mehrwert für Forschung und Praxis, da die Autorin auf beeindruckende Weise die dogmatischen Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens, sowie die des Diversionsverfahren mit der eigens durchgeführten Studie verknüpft und die Wirkungsweisen darstellt und erläutert.

Der Vorschlag für die Richtlinie versucht sodann einen bestmöglichen Interessensausgleich zwischen allen wiederstreitenden Faktoren zu finden. Hierbei erfolgt eine Abwägung aller verfahrensrechtlichen aber auch praktischen Gegebenheiten, um diese weitestgehend zu berücksichtigen. Insgesamt kann das Ergebnis der Autorin überzeugen und eine Umsetzung in der Praxis wäre wünschenswert und könnte die jugendrechtliche Diversion verbessern.

Insgesamt kann das Buch jedem Strafjuristen, der in Jugendsachen tätig ist, aber auch jedem – im weitesten Sinne verstanden – Verfahrensbeteiligten (JGH, Polizei etc) ans Herz gelegt werden. Neben den dogmatischen Ausführungen, die jedoch eine hohe Verständlichkeit aufweisen, führt das Werk durch die durchgeführte Studie zu einer Sensibilisierung des Lesers. Gerade in vielen nicht vordergründigen – auch kriminologischen – Bereichen, die ansonsten in der Praxis teilweise übersehen werden könnten, sensibilisiert das Werk und führt somit zu teilweise neuen Ansichten, die zu einer Berücksichtigung von wichtigen Forschungsergebnissen in der Praxis führen können.

Leif Artkämper, Juli 2020