Martina Klausner – Choreografien psychiatrischer Praxis

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Klausner, Martina; Choreografien psychiatrischer Praxis; Eine ethnografische Studie zum Alltag in der Psychiatrie. Bielefeld, Transcript-Verlag, 2015, 344 Seiten, ISBN 978-3-8376-3065-7, 37,99 Euro

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Psychiatrie wie Strafvollzug sind für viele Außenstehende eine „Black Box“. Man vermeidet den Gedanken daran (ähnlich wie bei Krankenhäusern und Hospizen) und mag sich gar nicht genau vorstellen, was dort passiert. Und selbst wenn man dies möchte, dann gibt es wenige Möglichkeiten, sich ein direktes und unverfälschtes Bild von dem zu verschaffen, was bspw. in der Psychiatrie passiert.

Damit sind nicht die immer wieder (leider) angebotenen „Zoobesuche“ gemeint, die für die Patienten meist lästig, für die Besucher wenig aufschlussreich sind, sieht man einmal von optischen Eindrücken oder inhaltlich intensiven und geführten Besuchen in kleiner Gruppe ab.

Umso wichtiger sind Beschreibungen aus dem Innenleben dieser Einrichtungen. Selbstberichte gibt es dabei durchaus, bessere und schlechtere. Bislang eher selten sind systematische und strukturierte Beobachtungen, wie sie Martina Klausner in ihrem Buch nun vorlegt. Sie hat über vier Jahre hinweg immer wieder eine psychiatrische Anstalt besucht, sich dort jeweils länger aufgehalten und mit Hilfe von Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie ihre Beobachtungen strukturiert und analysiert. Herausgekommen bei dieser Feldforschung ist ein gleichermaßen intensiver wie analytisch wertvoller Bericht, der Einsichten in das geschlossene System Psychiatrie vermittelt. Klausner geht dabei vor allem der Frage nach, wie versucht wird, Menschen, die tief in die Krise geraten sind, durch die in der Klinik eingesetzten Praktiken der Behandlung soweit zu stabilisieren, dass sie wieder in ihre Lebenswelt außerhalb der Institution zurückkehren können (S. 13). Von „Heilung“ ist da keine Rede, eher von fit machen für die harte Realität, Rückkehr in die Klinik eingeschlossen.

Neben dem hohen methodischen Anspruch, den das Buch verfolgt (und einlöst) sind die auf den ersten Blick ganz alltäglichen Beobachtungen aus der Klinik das, was das Buch so lesenswert macht. Für Studierende (einschl. Doktoranden) lohnt der Blick auf und in die Methodik besonders, da Klausner hierauf besonderen Wert legt. Für methodisch weniger Interessierte dürften es die Schilderungen des Alltags und ihre Analysen sein, die fesseln.

Auch fernab des konkreten Bezuges ist beispielsweise die Fragestellung, wie und woher Wissen in den Anstaltshandlungen generiert wird, welche Rolle dabei das Setting spielt und welches Wissen als „legitim“ angesehen wird (S. 15). Wie wird „Psychiatrie-Machen“ gelernt, das ist eine der Fragen, denen die Autorin nachgeht und die man 1:1 auch auf andere Bereiche (wie das Polizieren) übertragen kann. Ja, vieles wird einem dabei sogar bekannt vorkommen, wenn man liest, wie die Psychiatrie als Institution nicht nur die Patienten verändert sondern auch die dort Tätigen. Die Polizei als durchaus vergleichbare „geschlossene Gesellschaft“ hat ähnliche Auswirkungen auf die Akteure.

Eindrucksvoll beschreibt die Autorin, wie sich das individuell-institutionelle Wissen bei den Akteuren mehr oder weniger von ihnen bemerkt andockt und wie die Patienten wissen, wie sie mit diesem Wissen und den daraus folgenden Abläufen (z.B. bei der Behandlungsplan- oder Prognoseerstellung oder der Erstellung des Befundes) umzugehen haben. Ärzte, frühere Befunde und Aufenthalte in der Psychiatrie hinterlassen Spuren, die nicht nur in der Aktenkarriere nachvollziehbar sind, sondern auch unmittelbare Verhaltens-Spuren bei den Betroffenen beobachtbar machen.

Aus vielen Befunderstellungen und psychiatrischen Erfahrungen erwächst der „psychiatrische Blick“: „Am Ende reicht ein Blick, um eine Verdachtsprognose zu stellen“ (S. 97) – und dieser Verdachtsprognose wird erst einmal bis zum Beweis des Gegenteils gefolgt. Nur: Wer soll das Gegenteil beweisen? Parallelen zur polizeilichen „Befunderstellung“ und Verdachtsgewinnung sind dabei ganz offensichtlich. Ebenso die Tatsache, dass fast nichts davon aus dem Studium resultiert. „Psychiatrie machen“ lernt man ähnlich wie Polizieren in (und von) der Praxis. Dessen bewusst zu sein und darauf zu reagieren ist im Übrigen die große Herausforderung fast aller universitären Studiengänge. Nur wird es selten so deutlich beschrieben und analysiert wie hier.

Nachdenkenswert (und auf polizeiliches Handeln durchaus übertragbar) ist übrigens auch der Vergleich des Agierens in der Psychiatrie mit der Choreografie eines Tanzes, den die Autorin (S. 61) zieht. Ähnlich wie bei Tanzschritten, so sind auch die Alltagshandlungen in der Psychiatrie nicht explizit vorgegeben, sie werden durch Lernen am Modell (andere Ärzte, Psychologen, Pfleger) und im Modell (der Anstalt) überliefert. Dabei werden diese Abläufe immer wieder neu justiert, allerdings so sachte, dass sich die Beteiligten dessen meist gar nicht bewusst sein dürften.

Insgesamt ein nicht leicht lesbares Buch, aber ein wichtiges.

Thomas Feltes, Oktober 2015