Labudde / Vowinkel: Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung. Rezensiert von Holger Plank

Dirk Labudde[1] mit Heike Vowinkel[2] /: „Digitale Forensik. Die Zukunft der Verbrechensaufklärung“ [3]. ISBN: 978-3-431-05032-5, 236 Seiten, Verlag Bastei Lübbe, Berlin, 2022, 16,99 €, E-Book und Hörbuch verfügbar für 14.99 € bzw. 13.99 €

Das populärwissenschaftlich gestaltete Buch auf der Grundlage von Fällen behandelt im wesentlichen drei rechts­tat­sächlich-fallbezogene Themenkomplexe, die bei der jüngeren gutachtlichen und Forschungsarbeit der Autoren eine besondere Rolle spielen: Die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Tatortrekonstruktion, die Zukunft der Foto- und Videoanalyse und die Zukunft der (digitalen) Gesichtsrekonstruktion.

Dirk Labudde ist seit vielen Jahren als innovativer IT-Forensik-Experte bekannt und in vielfältiger Weise als Sachverständiger mit der Justiz und den Sicher­heitsbehörden in Kontakt. Es gibt einige fachlich / inhaltlich bemerkenswerte Beispiele koordinierter (Forschungs-) Zusammenarbeit, bspw. die seit 2014 be­stehende Aus- und Fortbildungsvereinbarung zwischen der sächsischen Polizei und der Hoch­schule oder die 2017 zwischen der Hochschule Mittweida und dem Landeskriminalamt Sachsen geschlossene Kooperationsvereinbarung zur Fortent­wicklung verschie­dener netzwerkanalytischer Softwarewerkzeuge unter seiner Ägide. Labudde ist zudem Mitglied des Advisory Board des Zusammenschlusses von Lehrenden und / oder Forschenden in der Informatik / Informationstechnik an Hochschulen und Akademien der Polizei, welche jährlich die Fachtagung „Po­lizei-Informatik“ veranstaltet.[4] Die Tagungsbeiträge werden seit 2016 in einer Buchreihe, hrsg. von Wilfried Honekamp, im Rediroma-Verlag veröffentlicht. Er hat sich mit einigen sehr lesens- und beachtenswerten Fachbeiträgen[5] außerdem um die (Fort-) Entwicklung der Cyberkriminologie und -kriminalistik verdient ge­macht.

Wie er in seiner hier vorgestellten jüngsten und gleichzeitig ersten „True Crime-Veröffentlichung“ an einigen Stellen nachweist, mangelt es ihm dennoch nicht an der erforderlichen kritischen Distanz des Sachverständigen zum Fall und zu den ermittelnden, dringend ein Gutachten benötigenden Sicherheits­behörden. Schon gar nicht mangelt es ihm an der wissenschaftlichen Selbstreflexion, was das eigene Fach­gebiet und die indivi­duelle Expertise inhaltlich, ethisch und juristisch vertretbar gutachtlich kasuistisch zu leisten im Stande ist.

Viele seiner Tools und digital­forensischen (Eigen-) Entwicklungen hat er auf der Grundlage gerichtlicher und forensischer Erkenntnisse als Projektleiter mit Drittmittelfinanzierung fortent­wickelt und inzwischen für den IT-forensischen Einsatz standardisiert.

Seit Mai 2022 kooperiert das unter Leitung von Labudde an der Hochschule Mittweida betriebene „Fraunhofer Lernlabor für Cybersicherheit“ zudem mit dem Chemnitzer IT-Sicherheitsdienstleister „axilaris“ zur Evaluierung von IT-Sicher­heitsrisiken für Unternehmen. Das digitalforensische Portfolio des Autors wächst also beständig.

Sein jüngstes populärwissenschaftlich gestaltetes Buch auf der Grundlage von Fällen, an denen der Autor mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beteiligt war, gliedert sich in 11 Kapitel und behandelt dabei nach einer allgemeinen Einführung in die Thematik (Kap. 1, „Digitaler Spurensucher“) drei rechts­tat­sächlich-fallbezogen entwickelte Themenkomplexe, die bei seiner jüngeren gutachtlichen und Forschungsarbeit eine besondere Rolle spielen:

  1. Die Möglichkeiten und Grenzen „digitaler Tatortrekonstruktion“ (Kapitel 2 – 5),
  2. die „Zukunft der Foto- und Videoanalyse“ (Kapitel 6 – 8),
  3. die „Zukunft der (digitalen) Gesichtsrekonstruktion“ (Kapitel 9 und 10)

Jeder Komplex wird mit einem kritisch-reflexiven Exkurs abgerundet, in wel­chem die aus der beschriebenen begleitenden Fallarbeit evidenten IT-foren­si­schen, kommunikativen, fachlichen, ethischen oder auch die juristischen Impli­kationen bzw. zu erwartende künftige Möglichkeiten / Notwendigkeiten noch­mals kurz reflexiv einge­ordnet werden. Das Buch schließt mit einem Ausblick (Kapitel 11, „Die Zukunft der Digitalen Forensik. Wie sich die Strafverfolgung ändern muss“).

Die (IT-) Forensik, so Labudde, sei eine „Querschnittswissenschaft“. „Medizin, Biologie, Physik, Chemie, Psychologie (…) und mittlerweile auch die Infor­ma­tik“ greifen hierbei ineinander. Die Begründung der „modernen Forensik“ datiert er auf die Zeit der zunehmenden Bedeutung von Spuren im Ermittlungs­verfahren Ausgang des 19ten Jahrhunderts. Als spurenkundlichen Pionier zitiert er hierbei insbesondere Edmond Locard. Dessen (Locard`sche) Regel[6]

„überall dort, wo er (der Täter) geht, was er berührt, was er hinterlässt, auch unbewusst, all das dient als stummer Zeuge gegen ihn. Nicht nur seine Fingerabdrücke oder seine Fußabdrücke, auch seine Haare, die Fasern aus seiner Kleidung, das Glas, das er bricht, die Abdrücke der Werkzeuge, die er hinterlässt, die Kratzer, die er in die Farbe macht, das Blut oder Sperma, das er hinterlässt oder an sich trägt. All dies und mehr sind stumme Zeugen gegen ihn. Dies ist der Beweis, der niemals vergisst. Er ist nicht verwirrt durch die Spannung des Augenblicks. Er ist nicht unkonzentriert, wie es die menschlichen Zeugen sind. Er ist ein sachlicher Beweis. Physikalische Beweismittel können nicht falsch sein, sie können sich selbst nicht verstellen, sie können nicht vollständig verschwinden. Nur menschliches Versagen diese zu finden, zu studieren und zu verstehen kann ihren Wert zunichte machen“,

sei sowohl in der analogen als auch (grundsätzlich mit einigen Besonderheiten auch) in der digitalen Welt[7] als „digitales Austauschprinzip“ anwendbar, wenn­gleich rechtstatsächlich der „tech­nologische Wettlauf zwischen Tätern und Er­mittlern“ im digitalen Zeitalter aus verschiedenen Gründen nach wie vor unter „ungleichen Startbedingungen“ ver­laufe (S. 12). Das liege u. a. an dem im Ver­gleich mit dem allgemein bzw. kasu­istisch verfügbaren, forensisch relevanten Umfang digitaler Daten krassen Miss­verhältnis zum aktuell verfügbaren und IT-kundigen Personal bei den Sicher­heitsbehörden sowie an deren ausbaubedürftiger Ausstattung, deren mitunter noch zu sehr an der analogen Welt orientierten auf­bauorganisatorischen Ansied­lung und an mitunter nicht digitalspezifisch organi­sierten Falleinbindungs- und Aus­werteroutinen in der kasuistischen Ablaufor­ganisation. Neben nach wie vor dynamisch anpassungsbedürftigen juristischen Rahmenbedingungen, insbeson­dere auch hinsichtlich des ermittlungsbeglei­tenden und -initiierenden Einsatzes von KI-Tools, fehle es mitunter auch an der ermittlungsbehördlichen Einsicht, dass im Digitalzeitalter IT-spezifische Er­mittlungsmethoden auch bei jedweden „analog verübten“ Verbrechen wesent­liche be- und auch entlastende Indizien zutage fördern würden (S. 14 f.). In diesen Kontext ist auch seine Aussage (S. 230) einzuordnen: „Nur wer analoge und digitale Spuren als Einheit begreift und zu deuten versteht, hat heute eine Chance, Verbrechen aufzuklären.“

Es ist erfrischend, wie Labudde in allen Fallgestaltungen kritisch-reflexiv an seine gerichtlichen und forensischen Erfahrungen anknüpft, seine Methodik und den je­weiligen Erkenntnisgewinn in „Popper`scher Manier“ fortlaufend auf den Prüfstand stellt und auf dieser Grundlage seine Vorgehensweise und die selbst- bzw. fort­entwickelten digitalen Open-Source Tools verfeinert / anpasst / modifiziert. Ein we­sentlicher selbstreflexiver Punkt ist auch der Umgang mit seinen kommunikativen sachverständigen Erfahrungen auf gerichtlicher „Hauptverhandlungsbühne“ und die Erkenntnis, wissenschaftssemantisch geprägte Kommunikationsstrategie an die un­terschiedlichen Erwartungen der Prozessbeteiligten anzupassen! Begleitend ange­rissen werden auch immer wieder bedeutsame juristische / (rechts-) ethische Frage­stellungen in Bezug zur potenziellen Leistungsfähigkeit digitaler forensischer Tools im sensiblen Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit bzw. hinsichtlich der Zumutbarkeit für Opferangehörige. Letztere Frage spielt z. B. im Komplex „Tatort­rekonstruktion“ bei der optischen Gestaltung von digitalen Dummys eine Rolle. Ist es forensisch notwendig und / oder ethisch vertretbar, diese in Aussehen, Kleidung und Gestalt dem Opfer weitgehend in Form eines Avatars anzugleichen und damit den Nebenklägern, wie bspw. in dem geschilderten Fall des „toten Mädchens unter der Teufelstalbrücke“ (S. 44), im Rahmen von zahlreichen Sturzsimulationen die personifizierte Konfrontation mit dem wahrscheinlichsten Tathergang zuzumuten.

Obgleich „populärwissenschaftlich“ aufgebaut und erzählt und damit leicht und flüssig lesbar, behandelt das Buch zahlreiche forensisch grundlegend bedeutsame Problem­stellungen und ermöglicht auf Grundlage der reflektierten Gedanken des Autors in der Folge die (gezielte) Formulierung rechts­tatsächlich fundierter Frage­stellungen, unter anderem etwa zur

  • Frage der „Waffengleicheit“ zwischen Sicherheitsbehörden und Verdächtigen oder Störern, die Labudde vorwiegend IT-technisch am Beispiel „EncroChat“ und „Sky ECC“ bzw. hinsichtlich der in den Sicherheitsbehörden außerhalb von Cyber-Dezernaten vorhandenen IT-Ausstattung entwickelt,
  • Frage des Verhältnisses zwischen Ermittlern und (internen / externen) digitalen Forensikern und in der Folge auch
  • zur grundsätzlichen Frage des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Po­lizei
  • aber auch zur Frage des Änderungsbedarfs bei der Vermittlung von IT-Fähigkeiten innerhalb der Sicherheitsbehörden oder etwa
  • zur Frage der Notwendigkeit eines verbindlichen Rechtsrahmens für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Forensik.

All diese Fragen und zahlreiche andere Gedanken, die Labudde in den kasuistischen und seinem Schlusskapitel aufwirft, zeigen, dass eine rechtstatsächliche Lösung allerdings kein Sprint sein dürfte, sondern eher „Langstreckenfähigkeiten“ erfordert.

Alles in allem ist dem Wissenschaftler Labudde mit dem Buch eine interessante, leichte, digitale „True-crime-Kost“ gelungen, die aber auch für Kriminalisten immer wieder reflexiven Tiefgang bereit hält.

Holger Plank, im Januar 2024

[1] Prof. Dr. rer. nat. Dirk Labudde ist Physiker, Bioinformatiker und Professor für Forensik und Bioinformatik an der Fakultät für Angewandte Computer- und Biowissenschaften der Hochschule Mittweida (zugegriffen: 17.04.2023), University of Applied Sciences, in Sachsen. Er hat 2014 den Bachelor-Studiengang „Digitale Forensik“ an der Hochschule Mittweida gegründet. Seitdem ist er mit seinem Lehrstuhl als Sachverständiger und Berater für die digitale Forensik für Ermittler, Staatsanwälte und Gerichte tätig.

[2] Journalistin, Autorin, aktuell Textchefin t-online.

[3] Website des Verlags, zugegriffen: 17.04.2023.

[4] Zuletzt am 14. / 15.03.2023 in Villingen-Schwenningen.

[5] Bspw. Labudde / Mohaupt, 2017, „Bioinformatik im Handlungsfeld der Forensik, Springer-Verlag; Labudde / Spranger, 2018, „Forensik in der digitalen Welt“, Springer Verlag; Beiträge in den von Rüdiger / Bayerl im Springer Verlag hrsg. Sammelbänden „Cyberkriminologie. Kriminologie für das digitale Zeitalter“, 2020 (zusammen mit Spranger) und „Handbuch Cyberkriminologie“, 2022 (zusammen mit Demus et al.); „Die Enkel von Locard“, in „Informatik Spektrum“, 2021 (44), S. 355 – 363 (zusammen mit Povalej et al.).

[6] Edmond Locard, „Die Kriminaluntersuchung und ihre wissenschaftlichen Methoden“, Berlin, 1930.

[7] Vgl. hierzu auch Povalej et al., 2021, Fn. 5.