Behr, Rafael u.a.: Gemeinwesenorientierte Sicherheitsarbeit. Festschrift für Bernhard Frevel. Rezensiert von Holger Plank

Behr, Rafael / Groß, Hermann / Hirschmann, Natalie / Hunold, Daniela / Jacobsen, Astrid / Mensching, Anja / Schmidt, Peter / Schöne, Marcel (Hrsg.)[1]: Gemeinwesenorientierte Sicherheitsarbeit. Festschrift für Bernhard Frevel. [2] ISBN 978-3-86676-817-8, 371 Seiten, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt a. M., Schriftenreihe „Empirische Polizeiforschung“, Band 28, 2023, 34,90 €

In 26 Beiträgen ehren die 35 Autoren des vom aktuellen Organisationsteam des AK Empirische Polizeiforschung herausgegebenen Sammelbands den empirischen Polizeiforscher, Sozial- und Politikwissenschaftler und Hochschullehrer Bernhard Frevel.[3] Die Autoren, die schon aufgrund ihrer multiperspektivischen wissenschaftlichen Pro­venienz aus den Rechts-, Sozial-, Geschichts-, Polizei- und Politikwissenschaften, der Kriminologie und dabei gleichermaßen aus der Hochschul- wie auch aus der Polizeilandschaft stammend, reflektieren ihre vielfältigen Forschungsinteressen explizit mit diversen Anleihen aus den zahllosen Veröffentlichungen[4] und Pro­jekten Frevels und auf dessen engeren Forschungsfokus,

  • die interdisziplinär vernetzte Sicherheitspolitik auf kommunaler Ebene und ihre Handlungspraktiken,
  • einen multidisziplinären, von zahlreichen kommunalen, staatlichen und zi­vilgesellschaftlichen Akteuren getragenen „Plural-Policing-Ansatz“ als Idealbild einer am Gemeinwesen orientierter Sicherheitsarbeit,
  • die Aktivierung, Stärkung und Nutzung von „collective efficacy“[5] und hieraus erwachsender „social cohesion“ in den Quartieren unter kommuni­kativer Stimulation des Wissens, der Erfahrung und Wahrnehmung des So­zialkapitals über alle Bevölkerungsgruppen hinweg und der damit ver­bundenen Stärkung der Resilienz,
  • die dauerhafte Verankerung dieser facettenreichen Aspekte dieser multi­variaten Ansätze in der Aus- und Fortbildung der Polizei (vgl. hierzu auch den Aufsatz von Aden, „Wissenschaftliche Polizeiausbildung – Trends, Defizite und Perspek­tiven“, S. 231-240) und schließlich
  • die nachhaltige politische Bildung (siehe hierzu den Beitrag von Kopke & Kuschewski, „“Politische Bildung und Polizei: Zwei Projekte im Porträt“, S. 241-266) in der und für die Polizei als notwendige Voraus­setzung für das Verständnis sozialwissenschaftlicher Zusammenhänge des von Frevel u. a. vertretenen multiperspektivischen Ansatz des „Polizierens“.

Leider ist es in einer kurzen Besprechung nicht möglich, auf alle Beiträge des Bandes näher einzugehen, obwohl jeder einzelne es verdient hätte. Ein anderer Rezensent würde subjektiv vielleicht eine andere Auswahl, als die hier ge­wählte und naturgemäß von meinem Forschungsinteresse beeinflusste, treffen. Ich konnte jedoch in allen Beiträgen interessante Gedankenansätze und mir z. T. noch nicht en détail bekannte Informationen entdecken und rezipieren, auch wenn John & Hirschmann in ihrem Aufsatz (S. 70 f.) bemerken, dass „die Publikation von Forschungserkenntnissen in Sammelbänden (wie in der wissenschaftlichen Literatur häufig anzutreffen) für den Wissenstransfer in die Praxis nach dem „Push-Prinzip“ nur wenig Erfolg versprechend ist, nehme ich jedenfalls für mich in diesem Zusammenhang den „Pull-Faktor“ in Anspruch.

Zunächst bilanziert Liebl (S. 3-20) den Anspruch und Einfluss der Arbeit des „neuen“ AK Empirische Polizeiforschung seit dem Jahr 2006. Mit einer Übersicht der Themen, der bei den jährlichen Tagungen Vortragenden, deren Themen und der Teilnehmer erkennt er durchaus Nachdenkenswertes für den vom AK intendierten Wissen­schafts-Praxis-Wissenschafts-Transfer[6] empirischer Erkennt­nisse der Polizeiforschung. So falle z. B. der niedrige Anteil aktiver Polizei­angehöriger und von Vertretern der Disziplinen Psychologie und „kritische Soziologie“ auf, und zwar sowohl im Kreise der Referenten als auch bei den Besuchern selbst. Bemerkenswert sei zudem, dass einige Landespolizeien keinerlei Interesse zeigten, sich an den Tagungen in ihren Ländern passiv oder aktiv zu beteiligen. Das ist bedauerlich, konterkariert es doch sowohl den intendierten Wissens­transfer als auch die Einbindung der Polizei in eine nachhaltige Diskussion zur Notwendigkeit und hinsichtlich des Nutzens der Polizeiforschung für eine evidenzbasierte kommunale Sicherheitsarbeit.

Groß & Schmidt (S. 23-38) steuern einen interessanten und in seinen Erkennt­nissen durchaus z. T. kritischen Beitrag zur „Revitalisierung“ eines werteba­sierten Leitbildes der hessischen Polizei bei. Ein Prozess, der u. a. extern durch die Forderung der Expertenkommission „Verantwortung der Polizei in einer pluralistischen Gesellschaft“[7] gefordert und unterstützt worden ist. Sie be­schreiben die Prozessorganisation und die Operationalisierung unter breiter Be­teiligung der hessischen Polizeibeamten und -beamtinnen, die mehrfachen Rückkoppelungsschleifen zur Validierung der Ergebnisse und die aufwändigen Bemühungen zur Implemen­tierung des Leitbildes. Offenkundig, so die Autoren (S. 36 f.), bestehe aktuell ein erheblicher Bedarf an „Selbstvergewisserung und Identitätsfestigung“ innerhalb der Polizei. Außerdem, so die Autoren kritisch, setze ein gemeinsames Leitbild für die gesamte hessische Polizei eine „Einheit der Organisation“ voraus, „die es so nicht gebe und auch niemals gegeben habe.“ Gleichwohl betrachten sie den diskussionsgeleiteten Geneseprozess als Gewinn, plädieren aber für eine zusätzliche prozessbegleitende wissen­schaftliche Eva­luation der Wirkungen.

Sehr interessant ist auch der polizeihistorische, essayistisch formulierte und reichhaltig bebilderte Beitrag von Spieker (S. 39-53) zur Entwicklung des Leitbildes von Polizisten als „Freund und Helfer“, als „Schutzmann“, dessen Entwicklung und Missbrauch im 20. Jahrhundert seit der ersten Erwähnung in einem Ausstellungskatalog im Jahr 1926 und wie diese semantisch seit jeher problematischen Termini im aktuellen Lichte der Diskussion zur „Bürgernähe“ der Polizei ausgeformt werden (könnten). Mittelbar reflektieren Mensching (S. 178-185) und insbesondere Behr (S. 186-202) in ihren zusätzlich mit anderen Facetten bereicherten Beiträgen auch auf dieses nicht ganz unproblematische Selbstbild.

Ein zentrales und vor dem Hintergrund der aktuell politisch und zivilge­sellschaftlich kontrovers geführten Migrationsdebatte hochaktuelles Anliegen Frevels greift Howe (S. 93-103) in ihrem Aufsatz „Ansätze für Analyse und Handlungsempfehlungen kommunaler Sicherheit in von Migration geprägten Quartieren“ auf. Sie reflektiert dabei auf das von Frevel koordinierte BMBF Verbund-Forschungsprojekt „Migration und Sicherheit in der Stadt“[8] (miggst). Das in verschiedenen Quartieren mehrerer Kommunen durchgeführte empirische Projekt lenkt den Fokus vor allem auf den problematischen Kontrast einer zumeist negativ zuschreibenden Außenperspektive auf heterogene, migrantisch geprägte Quartiere (sogenanntes „Othering“) und die vorhandenen Möglichkeiten und Chancen der kommunikativen Stimulation des gerade wegen der Pluralität und Diversität in den Quartieren vorhandenen reichhaltigen „Sozialkapitals“. Das Ideal der „collective efficacy“ durch permanente „Kommunikation, anhaltenden Aushandelns darüber, was geht und was nicht“ schafft Vertrauen und Zusammenhalt („social cohesion“) und letztlich entsteht daraus Resilienz. Voraussetzung ist jedoch, dass alle sozialen Gruppen in angemessener Form ein­gebunden und gehört werden. Aus der Außenperspektive sollte klar werden, dass „die gesellschaftlich dominanten, häufig unhinterfragten, normativ (üb)erhöhten Vorstellungen einer ‚guten Gesellschaft‘ zu starken, kaum erfüllbaren Erwar­tungen an die Quartierbewohner führen, wenn sie Merkmale des ‚Fremden‘ oder ‚unerwünschten‘ aufweisen.“[9]

Zum Nachdenken regt auch ein zwar hoch abstrakter, dennoch interessanter, weil etwas anderer Blick auf den interdisziplinären Frevel`schen Policing-Ansatz aus der Feder von Bode & Seidensticker (S. 128-142) an. Sie greifen den von Terpstra et al. 2019[10] geprägten Begriff „Abstract Police“ auf und weisen in diesem Kon­text auf potenzielles innerpolizeiliches und Hierarchie übergreifendes Konflikt­potenzial hin. Wenn digitale Datenanalysen zunehmend Grundlage des Arbeits­alltags der operativen Polizeiarbeit werden und dort mit traditionellen, auf Erfahrungswissen basierenden Konzepten und Kompetenzen kollidieren, entstünden nicht nur Dissonanzen. Die Folge könne auch eine ge­fährliche „De­kontext­ualisierung“ polizeilichen Handelns sein, die u. U. den lokalen Kontext verliere und – neben den innerorganisatorischen Verwerfungen – auch zu Pro­blemen im Verhältnis Bürger-Polizei führen könne. Als Vorschlag zur Lösung des Zielkonflikts führen sie den Begriff „Holistic Policing“ ein, der sich aus Elementen eines so­wohl informationsgeleiteten, Evidenz und Raum basierten als auch Problem orientierten Policings speist. Damit könnten in einer vor dem Hintergrund der Digitalisierung signifikant im Wandel befindlichen Polizei die unterschiedlichen Felder Datafizierung und lokal kontextualisierte Erfahrungen wiederum kontextualisiert werden. Ihr Beitrag weist auf eine mit der gezielten lagebezogenen Bewertung immer größer werdender Datenbestände und ihren (abstrakten) analytischen Tücken verbundene Problemstellung hin, die in dieser konkreten Ausprägung relativ neu ist und Anlass geben sollten, potenzielle Wirkungen auch in diese Richtung tiefergehend zu analysieren.

Mensching problematisiert in einem lesenswerten Aufsatz (S. 178-185) mit dem provokanten Titel „Die Polizei als organisationale Produzentin von (Un)Si­cherheit“ Inhalt und Tauglichkeit der Wechselbeziehungen zwischen den Be­griffen „Sicherheit-Risiko und Gefahr“ als Grundlage polizeilichen Handelns und arbeitet in diesem Kontext verschiedene Zielkonflikte heraus. Etwa, wenn die Polizei herausgefordert ist, „Kriminalitätsfurcht auch dann abzubauen, wenn es hinsichtlich der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit der Opferwerdung eben keine Entsprechung auf der Risikoebene gibt“ („Kriminalitätsfurcht-Paradoxon“). So entstehe eben u. U. die Gefahr, dass die Polizei durch ihr Handeln unbeabsichtigt (Un)Sicherheit produziere. Gerade weil das Risiko stetig steigender und z. T. divergierender Sicherheitsanforderungen in einer fragmentierteren Gesellschaft zunimmt, müssten sich Forschung und Polizeipraxis ganz im Frevel’schen Sinne künftig intensiver mit nicht intendierten (Neben-) Wirkungen sicherheitsbe­hörd­lichen Handelns auseinandersetzen.

Es war und ist Frevel ein Anliegen, die zahllosen Facetten einer am Gemeinwesen orientierten Sicherheitsarbeit möglichst umfassend als zentrale Botschaften Er­folg versprechenden Polizierens möglichst umfassend in der Aus- und Fort­bildung der Polizei zu verankern. Insofern bildet der Beitrag von Aden (S. 231-240) einen geeigneten Abschluss des kurzen inhaltlichen Spotlights auf den beachtlichen Sammel­band. „Wissenschaftlich (in Bachelor- und Masterstu­diengängen) ausgebildete Polizeibeamte und -beamtinnen verändern die Polizei­praxis“, so Aden zutreffend; sie treffen dort allerdings auch auf z. T. verfestigte, hoch resistente, auf Erfahrung und ohne wissenschaftliche Anreicherung be­ruhende Einstellungen und Hand­lungspraxen. Das erzeugt besondere Heraus­forderungen, z. B. bei der „Theorie-Praxis-Verzahnung“, die Aden in seinem kurzen Beitrag prägnant und kritisch beleuchtet. Hierbei geht er insbesondere auf Verzerrungen und unnötige Konflikte ein, die durch die Rückkoppelung der Po­lizeipraxis in ein zwar hochschulrechtlich verankertes, dennoch überwiegend ohne echte Wissenschaftsfreiheit und vor­wiegend polizeiintern verantwortetes Aus- und Fortbildungssystem entstehen (können) und weist auf hochschul­organisatorische Organisationsmodelle (z. B. die HWR Berlin) hin, in denen diese Risiken minimiert werden können.

Der informative Sammelband vereint zahlreiche Perspektiven auf Inhalte und Einflussfaktoren einer Erfolg versprechenden „Gemeinwesenbezogenen Sicher­heitsarbeit“ und wird daher sicher nicht nur als Festschrift bei Bernhard Frevel Grund zur Freude über die Anerkennung, die die Auroren ihm und seiner Arbeit zuteil werden lassen, hervorrufen. Der Sammelband ist auch für die Fachöffentlichkeit interdisziplinär erkenntnisreich.

Holger Plank (im Januar 2024)

[1] Die Herausgeber sind zugleich die aktuellen „Organisatoren“ des „Arbeitskreises Empirische Polizeiforschung“, ein Team, dem auch der Geehrte bis 2017 angehörte.

[2] Siehe Verlags-Website mit Kapitelübersicht des Werks.

[3] Prof. Dr. Bernhard Frevel, HSPV NRW und Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster.

[4] Vgl. S. 355 ff. des Bandes, „B. Frevel: Publikationen zur Polizei und Sicherheitsforschung“.

[5] Konzept ist zurückzuführen auf Sampson, „Collective Efficacy. Theory: Lessons learned and directions for future inquiry”, 1997.

[6] Vgl. hierzu auch den Beitrag von John & Hirschmann, S. 66-76).

[7] Nußberger, 2021, Abschlussbericht des Gremiums.

[8] Zentrale Erkenntnisse hierzu sind in dem 2021 im LIT-Verlag von Frevel herausgegebenen gleichnamigen Sammelband nachlesbar.

[9] Zitat Frevel aus dem Beitrag von Kurbacher (S. 119-127), „Freiheit und Kritik als Fragen der ‚inneren Sicherheit‘ – oder zur Philosophie des Unvorhersehbaren und er Relevanz politischer Bildung.“

[10] Tepstra / Fyfe / Salet, “The Abstract Police: A conceptual exploration of unintended changes of police organisations”, in The Police Journal: Theory, Practice and Principles (92) 2019, 4.