Hansjakob / Gundlach / Straub: Kriminalistisches Denken. Rezensiert von Holger Plank

Hansjakob, Thomas (+)[1], Gundlach, Thomas[2], Straub, Peter[3]: „Kriminalistisches Denken“[4]. ISBN: 978-3-7832-4060-3, 482 Seiten, Verlag C. F. Müller, Heidelberg, Schriftenreihe Grundlagen der Kriminalistik, 2024, 30.- €)

Seit der 10. Auflage (2016) hat sich nach dem Tod des bisherigen Hrsg. Thomas Hansjakob im Jahr 2018 die Herausgeber- und Autorenschaft dieses praxis­orientierten kriminalistischen Grundlagenwerks und Ratgebers geändert. Die 11. (2020) und die aktuelle 12. Auflage werden nun gemeinsam von Thomas E. Gundlach und Peter Straub verantwortet. Einleitend kann zunächst auf die Besprechung der 10. Auflage von Anne Hammes im PNL verwiesen werden.

Neu ist – naturgemäß neben der gebotenen rechtlichen Aktualisierung der Inhalte und der Ergänzung der Fachliteratur im Lit.-verzeichnis – u. a. die vollständige Verweisung auf die Quellen im Textteil (seit der 11. Auflage). Der Umfang des Werks hat sich zudem seit der letzten Besprechung signifikant erweitert (von 350 auf aktuell 482 Seiten), was sich allerdings nur ganz geringfügig auf die Gliederung und inhaltliche Grundstruktur (der 12. Auflage) ausgewirkt hat. Es sind nur einige wenige redaktionelle Anpassung des Inhaltsverzeichnisses vorgenommen worden, der grundlegende inhaltliche Aufbau ist damit mit den Vorauflagen vergleichbar, allerdings ist die fachliche Schwerpunktsetzung etwas anders gewichtet.

Das von Hans Walder[5] 1955 begründete Werk hat in der Neuauflage auch nach 68 Jahren als „Praktiker-Handbuch“ für (angehende) Kriminalisten nach wie vor Relevanz. Das gilt vor allem für die das Werk beschließende und gelungene Darstellung häufiger Fehler bei der kriminalistischen Arbeit. Deren Auswirkungen können für Beschuldigte, Angeklagte, aber auch für Opfer und Hinterbliebene, deren „Fall“ wegen unsachgemäßem Vorgehen der Ermittlungs­behörden und der Justiz ggf. nicht (hinreichend) geklärt werden kann, sowohl in physischer als auch psychischer Hinsicht fatal wirken. Wie es um die kriminalistische Expertise und deren akademischer und handlungspraktischer Vermittlung inzwischen bestellt ist, lässt sich auch mittelbar aus einer Erkenntnis der Autoren (S. 426) ablesen: „Interessant daran ist, dass die Fehler, die Hans Walder schon in der Erstauflage des Werkes (…) beschrieben hat, noch heute zu den häufigsten gehören!“ Und das, obwohl wir fast sieben Jahrzehnte später über so viel mehr interdisziplinäres (kriminal-)wissenschaftliches, forensisches und -psychologisches Wissen verfügen. Insofern sind auch die Feststellungen im Vorwort zur 12. Auflage (S. V) und der Einleitung (S. 5) durchaus bemerkenswert. Im Vorwort ist zu lesen, „die Kriminalistik habe es – zumindest im deutschsprachigen Raum – immer noch schwer, als Wissen­schaftsdisziplin anerkannt zu werden“. In der Einleitung heißt es dann, dass die Kriminalistik selbst eine Wissenschaftsdisziplin ist (…), sei mittlerweile unstrittig. Ebenso unstrittig wie bedauernswert sei, dass die Kriminalistik im deutschsprachigen Raum in Forschung und Lehre nach wie vor überwiegend ein Schattendasein friste (…).“ Neben dem kleinen jedoch vernachlässigenswerten Widerspruch hinsichtlich der epistemologischen Bedeutung der Disziplin (inzwischen nahezu gänzlich fehlende universitäre Grundlagenforschung!) zeigen die inhaltlich zutreffenden Bemerkungen eben auch den handlungsbezogenen disziplinären Bedarf in der Aus- und Fortbildung der kriminalistischen Akteure in den Sicherheitsbehörden und der Justiz auf Grundlage aktueller interdis­ziplinärer empirischer wissenschaftlicher Befunde. Diese bedauerliche Entwicklung trägt sicher mit dazu bei, dass die bereits 1955 beschriebenen Fehler auch heute noch offensichtlich hoch relevant sind, und das, obwohl die kriminalistische Handlungslehre heute deutlich über die Polizei und Justiz hinaus an Bedeutung gewinnt.

Das Werk ist schlüssig gegliedert, enthält durch die durchgängige Kontextualisierung der Quellen im Hauptteil zahllose hilfreiche Hinweise zu weiterführender Literatur und bedeutsamen aktuellen Forschungserkenntnissen, es ist leicht verständlich formuliert, deshalb zügig lesbar, eignet sich daher auch gut als Nachschlagewerk und weist aufgrund des titelgebend formulierten Anspruchs – wenn überhaupt – nur ganz geringfügigen Ergänzungsbedarf in Bezug auf den Gegenstand des „kriminalistischen Denkens“ auf. Durch diese inhaltliche Begrenzung wird zudem klar, dass niemand ein umfassendes kriminalistisches Kompendium, das die Disziplin Kriminalistik und ihre wesentlichen Sub-Disziplinen Kriminaltaktik, -strategie und -technik vollständig erfasst, erwarten darf. Darauf weisen die Autoren auch zurecht hin (S. 448 f.). „Oberflächlich“ (S. 448) ist das Werk dennoch keinesfalls! Dennoch ist an einigen Stellen sicher für die folgende 13. Auflage geringfügiger Ergänzungsbedarf amgezeigt. So gibt es im Gegensatz zur Feststellung der Autoren durchaus einige jüngere und nennenswerte Erkenntnisse aus der systematisierten Untersuchung von Fehlurteilen (S. 426).[6] Das gilt auch für die zunehmende Bedeutung des Gefahrenabwehrrechts mit seinen z. T. prognostischen Elementen im Rahmen der Gefahrenerforschung, die für die Kriminalpolizei nicht nur im Rahmen des interdisziplinären und Institutionen übergreifenden „Risikoprobanden- und Gefährdermanagements“ kriminalistisch immer bedeutsamer wird.[7]

Inhaltlich und im Vergleich zu den vorangegangenen Auflagen deutlicher machen die Autoren u. a. auch die erhebliche Problematik rund um die verfahrenskonforme Informationsgewinnung aus dem Personenbeweis sowie die Problemstellung, dass es durch das für den (kriminal-) polizeilichen Anwender inzwischen dogmatisch und in der Auslegung grundlegender justizieller Entscheidungen zunehmend komplexer werdende materielle und formelle Straf(verfahrens-)recht mit deinen inzwischen zahlreichen kriminalistisch relevanten Überschneidungen zum Gefahrenabwehr- und Sicherheitsrecht immer schwieriger wird, das sachgerechte kriminaltaktische Vorgehen auf Grundlage der relevanten beweiswürdigen subjektiven und objektiven Tatbestandsmerkmale zu planen. Gerade letztere Voraussetzung erachten die Autoren als kriminalistische Kernkompetenz (S. 448).

Dennoch, das informative und lesenswerte Buch bedient durch seine titelgebend thematische Einschränkung auf disziplinäre Kernelemente des „Kriminalistischen Denkens“ eine Lücke im ansonsten schier unübersichtlichen Kanon krimi­nalistischer Lehrbücher und Kompendien.

Holger Plank (im Januar 2024)

[1] Dr. Thomas Hansjakob (+ 2018), Schweizer Jurist und Staatsanwalt.

[2] Professor für Kriminalistik an der Akademie der Polizei in Hamburg; Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik (DGfK).

[3] Dr. iur. Peter Straub, Leitender Staatsanwalt im Kanton St. Gallen, Lehrbeauftragter für Straf­prozessrecht an der HSG St. Gallen.

[4] Siehe Verlags-Website.

[5] Prof. Dr. Hans Walder, Universität Bern und Schweizer Bundesanwalt (+ 2005).

[6] Vgl. neben den Dissertationen von Böhme (2018) und Dunkel (2018) im bspw. das Verbund­projekt „Fehlurteil und Wiederaufnahme“ (Prof. Momsen & Prof. König in Kooperation mit der Law Clinic der FU Berlin, der Law Clinic Strafprozess der Universität Göttingen sowie der Universität Augsburg) oder das gleichnamige Projekt unter Federführung des KfN Niedersachsen (vgl. Themenheft MschrKrim (106) 2023, Nr. 3) oder etwa der Tagungsbericht der 6. Bielefelder Verfahrenstage, inhaltlich als Sammelband zusammengefasst (Barton et al., 2017, „Vom hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit. Fehlurteile im Strafprozess“).

[7] Vgl. bspw. Plank, Die Polizei (114) 2023, Heft 10, S. 333 – 338.