Stephan, Barton / Marieke Dubelaar / Ralf Kölbel / Michael Lindemann (Hrsg.) – Vom hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit. Fehlurteile im Strafprozess – Rezensiert von: Holger Plank

Barton, Stephan[1] / Dubelaar, Marieke[2] / Kölbel, Ralf[3] / Lindemann, Michael[4] (Hrsg.);  „Vom hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit. Fehlurteile im Strafprozess“ [5]; ISBN: 978-3-8487-4891-4, 304 Seiten, erschienen bei Nomos, Baden-Baden als Band 56 der Schriftenreihe „Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat“, 2018, 82.- €

Der schon titelgebend[6] interessant gestaltete Sam­­melband, entstanden aus den „6. Bielefelder Verfahrenstagen“ im „Zen­trum für interdisziplinäre Forschung“ (ZiF) an der Universität Bielefeld am 23. / 24. November 2017, vereint – neben der be­reits aussagekräftigen und im Befund ziemlich eindeutigen Ein­führung der He­rausgeber, eine Auswahl von elf (von siebzehn) interdisziplinären Bei­trägen nam­hafter Wissenschaftler*innen aus fünf Ländern zum Stand und zu verschiedensten Aspekten der Fehlurteilsforschung.

Wie notwendig diese Überlegung auch im Sinne des Modells einer „Gesamten Straf­rechtswissenschaft“ Liszt`scher Prägung[7] ist, die sich in den Beiträgen auch in viel­­fältiger Weise bemerkbar macht, zeigen nicht nur die (leider) im­mer noch thematisch relevanten, obgleich inhaltlich in die Jahre gekommenen Erkenntnisse der umfas­senden (dreibändigen) Unter­su­chung­en von Karl Peters[8] aus den 1970er Jahren, allerdings jüngst mehr­fach mit ähn­lichem kritisch-reflexiven Tenor wie­der aufge­griffen[9], sehr eindring­lich. So stellt nicht nur Kölbel (vgl. Fn. 3) als Mit­he­rausgeber in seinem Beitrag („Der Stand der internationalen Fehl­urteils­for­schung: Was kann man daraus für Deutschland lernen“, S. 31 – 58) heraus: „Es hat den Anschein, als sei die Fehlurteilsproblematik für die deutsche Straf­pro­zessrechtswissenschaft nach Jahrzehnten des Desinteresses inzwischen wieder zu einem relevanten Thema avan­ciert.“ Gleichzeitig mute allerdings die „ange­sichts des (evidenten) Nicht-Wissens etwas selbstgefällige Problemverneinung, die Tei­le des deutschen pro­zessrechtspolitischen Diskurses an den Tag legen, zumindest befremdlich“ an, ja „wirke etwas aus der Zeit gefallen“, so Kölbel an­gesichts der Behauptung der Ex­pertenkommission[10] zur effektiveren und praxis­tauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendge­richtlichen Ver­fahrens, „das gel­tende Recht sei für die Bewältigung der Fehlur­teils­problematik ausreichend auf­gestellt.“ Ohne Zweifel darf man angesichts des nicht nur im Rah­men der Tagung dokumentierten Forschungsstandes herausstellen, dass Häufig­keit und Ver­breitung von Fehlurteilen jedenfalls in Deutschland unzureichend erforscht sind und die „Korrektur und Prävention von Fehlurteilen keine rein ju­ris­tische sein kann, sondern im disziplinen- und länderübergreifenden Austausch“ erfolgen müsse. Vor allem letztere Feststellung erschließt dabei dem deutsch­sprachigen Forschungsverbund die weitaus fortgeschritteneren, jedoch auch dort keines­wegs abschließenden Be­mühungen und Beiträge v. a. des anglo-ame­rikanischen Sprach­­raumes. Auch insofern leistet die Tagung einen kleinen, aber dennoch be­deu­tenden Beitrag, den hierzulande langsam keimenden Diskurs ein wenig zu ordnen.

Bei der Aufstellung der insgesamt beachtlichen „interdisziplinären Beiträge“ des Sammel­bandes fällt allerdings auf, dass, obgleich die Dominanz des Ermittlungs­verfahrens in Deutschland mehrfach (zurecht) kritisch kommentiert wird, die durchaus beachtliche Perspektive der „Kriminalistik“ fehlt. Dabei ergänzt und befruchtet auch die Kri­minalistik (nicht nur „hilfswissenschaftlich“) das formelle Strafrecht. Es ist gera­dezu die Aufgabe einer (wissenschaftlichen) Disziplin wie der Kriminalistik, dem Tatrichter sowie den anderen Prozessbeteiligten kasu­is­tisch, sachverständig und bedarfsgerecht die im Zusammenspiel grundlagen­bezo­gener disziplinärer und prak­­tischer (angewandter) Forschung entwickelten Erfah­rungsregeln zur Tat­sachen­ermittlung darzulegen und diese andererseits im Alltag kontinuierlicher Überprüfung zu unterziehen. Diese Einzelschritte münden dann schließ­lich in der nach wie vor noch erforderlichen grundlagenbezogenen Zusam­men­fügung zu einem wi­derspruchsfreien Lehrgebäude. Diese Anwendungs- und Forschungskette be­zeichnet bspw. jüngst de Vries[11] als einzig akzeptable Ant­wort auf das moralische Pro­blem „des Fehlurteils“, um gleichzeitig festzustellen, dass es „in Deutschland eine solche (systematische) Fehlerforschung derzeit (we­der als eigenständige ‚Straf­prozesslehre‘ noch in der Kriminalistik als Grund­la­gen­forschung oder im Rahmen der systematisierten angewandten krimina­lis­tischen Forschung) gibt.“ Er macht neben anderen Umständen hierfür auch ein Wissen­schafts-Praxis-Wissens­trans­ferproblem aus, denn die „fehlende Etablie­rung der Kriminalistik an den Uni­versitäten habe ihre Ursache (wohl auch) in dem fehlen­den Verständnis der Jura­professoren für die praktischen Probleme der Straf­ver­fol­gungsbehörden.“ Gerade weil Kölbel in seinem Vortrag auf die Erfor­dernisse in­nerhalb der „Strafprozess­rechtswissenschaft“ (s. o.) hinweist, sollte in diesem Zu­sammenhang auch nicht unerwähnt bleiben, dass es gerade der bereits erwähnte Karl Peters war, der schon 1974 als ein Ergebnis seiner weit­reichenden tatsachen- und norm­wissenschaftlichen Analyse „Fehler im Straf­prozess“ (vgl. Fn. 8, Band 3, 1974, S. 253 ff.) forderte, angesichts der Erhebungen bedürfe es eigentlich einer „Straf­prozesslehre als (selbständige) Wirk­lich­keits­wissenschaft des Strafpro­zesses“.

Auch insofern ist der Ansatz Kölbels also nachvollziehbar, wenn er in Abwägung zwischen Nutzen und Risiken in An­lehnung an vorhandene Beispiele (vgl. z. B. Fn. 14) die Errichtung „spezialisierter Institutionen, die an der Herbeiführung von ggf. er­forderlichen Korrektur­ent­scheidungen systematisch mitwirken“, seiner An­sicht nach staatlich finan­ziert aber unabhängig agierend, für notwendig erach­tet. Den­noch, es bedarf an­gesichts des immensen „Dunkelfeldes“, sowohl hin­sichtlich der Quantität wie auch der begrifflichen Qualität des „Fehlurteil­begriffs“ notwen­diger definitorischer Klarheit!

Denn, auch das wird in dem Sammelband im ersten, von den Hrsg. als „diagnostischer Abschnitt“ bezeichnet, deutlich, ist auch angesichts zahlreicher populärwissenschaftlicher oder aus der Per­­spektive der Gerichtsberichterstattung aufgegriffener „Falldokumenta­tio­nen“[12] noch weitgehend unklar, was denn den allgemein gehaltenen Begriff „Fehlurteil“ überhaupt inhaltlich-sub­stan­tiell ausmache. Kölbel fordert deswegen völlig ein­gangs zurecht die De­finition eines (einheitlichen) „heuristischen Fehlurteils­begriffs“.

Die Herausgeber kontrastieren mit der Auswahl der Beiträge drei wesentliche Absichten (S. 22). Sie wollen

  1. die Begrifflichkeiten klären und dabei eine Bestandsaufnahme und Akti­vierung der Fehlurteilsforschung vornehmen, um so eine gemeinsame Grund­lage für den Austausch zwischen unterschiedlichen Disziplinen und Rechtsordnungen zu schaffen. Insofern soll der Sammelband auch einen Impuls für den Ausbau deutschsprachiger Forschung[13]
  2. Für das Problem sensibilisieren und somit die Rechtswissenschaften / Rechtspraxis für einen aufwachsenden interdisziplinären Dialog interes­sieren (da ist er wieder einmal deutlich erkennbar, der Ansatz einer „Ge­samten Strafrechtswissenschaft“!).
  3. Nicht zuletzt wollen sie Fehlervermeidungsstrategien entwickeln helfen, und zwar auf der Primärebene der „Vermeidung“ und der Sekundärebene der „Fehlerbeseitigung“, z. B. durch die Diskussion von geeigneten Qua­litäts­management- oder Controlling-Mechanismen[14] oder ggf. sogar über not­wen­dige Reformen der juristischen Ausbildung[15]

Wichtig sei dieses Thema aber nicht nur erkenntnistheoretisch, unverzichtbar gar aus dem Blickwinkel potentieller Opfer eines Justizirrtums. Im politisch-medialen Kontext werde irgendwann (wenn sie es angesichts umfangreicher Bericht­er­stattung, vgl. oben Fn. 12, nicht schon längst ist) auch die Frage evident, ob man der (Straf-)Justiz noch trauen könne? Vertrauen in die Justiz und damit in die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates ist jedoch für ein funktionierendes Gemein­wesen elementar und schon der Frage alleine wohnt das Potential inne, dieses nachhaltig zu beschädigen. Noch sind die Vertrauenswerte aber, zieht man z. B. den aktuellen „Roland-Rechtsreport 2018“ (S. 11) oder andere seriöse Umfragen zurate, durchaus beacht­lich.

Die Fehlerquellen sind beachtlich, interdisziplinär und auf unterschiedlichen Ebenen zu verorten, und könnten z. B.

  1. der grds. Struktur des Erkenntnisverfahrens im deutschen Strafprozessrecht mit seiner in horizontaler Struktur „weitgehend externer Kontrolle entzogenen, verfahrensdeter­minierenden Bedeutung des Ermittlungsstadi­ums und zusätzlich aufgrund der Tatsache, dass dieselben Berufsrichter im Zwischenverfahren über die Eröffnung des Hauptverfahrens und am Ende über die Schuld des Ange­klagten zu befinden hätten“,
  2. in vertikaler Hinsicht durch ein strukturelles Defizit im Rechtsmittel­in­stanzenzug,
  3. dem Umstand, dass „Strafverfahren Kommunikation sei“ und Urteile aber auch die Erhebung von Zeugenbeweisen mittels polizeilicher Befragungs­tech­niken wesentlich auf „menschlichen Wahrnehmungs- und Verarbei­tungs­prozessen, Verhaltensmustern, sozialpsychologischen Effekten, Ste­reo­typen und Alltagstheorien basieren, die die Wahrheitsfindung in erheb­lichem Maße beeinflussen könnten,
  4. den erheblichen Umgestaltungen des deutschen Strafverfahrens in jüngerer Vergangenheit, z. B. nur im Rahmen sog. „verfahrensbeendenden Abspra­chen“ (vgl. 257c StPO) oder den signifikanten Ausbau der „Opferorien­tierung“, welcher aus Sicht des Angeklagten den Übergang zu einem „asymmetrischen Parteiprozess, in dem er sich inzwischen einer Vielzahl professioneller Akteure gegenüber sieht“, gleichkomme,

geschuldet sein (könnten). Dabei sei das Problem aber nicht die Verfügbarkeit solcher Erkenntnisse, sondern die fehlende Kenntnisnahme durch die Akteure.

Ich will exemplarisch noch einen weiteren, derzeit praktisch sehr aktuellen Bei­trag aus dem zweiten Teil des Sammelbandes, der sich nach der Diagnostik des ersten Teils mit innerprozessualen Handhabungen und verfahrensrechtlichen Aus­ge­staltungen beschäftigt, die auf eine Eingrenzung von Fehlern und Fehl­erfolgen zielen, herausgreifen. Altenhain[16] beschäftigt sich darin mit „Vor- und Nach­teilen der audiovisuellen Aufzeichnung von Zeugenaussagen“ (S. 225 – 252). Nach langer und kontroverser Diskussion, u. a. innerhalb der bereits ge­nann­­ten Exper­tenkommission, hat der Gesetzgeber im Rahmen des „Gesetzes zur effektiven und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. Au­gust 2017“ (BGBl. I 2017, Nr. 58, S. 3202 ff.), nämlich eine ab dem 01.01.2020 über § 136 StPO (vgl. Art. 3 Nr. 17, dort insbesondere Abs. IV) neu geltende, allerdings gegenüber dem RefE erheblich engere Pflicht zur audiovisuellen Auf­zeichnung von Vernehmung statuiert. Der schon bisher existente, für die Vernehmung von Zeugen relevante § 58 a StPO wurde im Rahmen dieses Ge­setzes zwar nicht geändert, die dort statuierten Pflichten wurden allerdings über dessen Zitierung in § 136 Abs. IV S. 2 für Beschuldigte übernommen. So war und ist aufgrund der Neu­regelung im Absatz IV des § 136:

Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet wer­den. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

  1. dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen, oder
  2. die schutzwürdigen Interessen von
  3. Beschuldigten unter 18 Jahren oder
  4. Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fä­hig­keiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden,

durch die Aufzeichnungen besser gewahrt werden können. § 58a Absatz 2 gilt entsprechend.

auch künftig in der Vernehmungspraxis bei Zeugen und Beschuldigten wohl weit überwiegend das „Inhalts­protokoll“ üblich, das von vornherein nicht darauf an­gelegt ist, den vollständigen und tatsächlichen Inhalt der Aussage und ihr Zu­standekommen, insbesondere die Fragen und Vorbehalte, wörtlich wieder­zugeben. Der Vernehmende fasst – je nach Geschick und Erfahrung – den aus seiner Sicht wesentlichen Inhalt der Aussage in eigenen Worten zusammen. Die audio-visuell vollständige Doku­mentation (auch) als Grundlage einer möglichst umfassenden „Fehlerforschung im Strafverfahren“, gerade solcher Fehler, die im bereits weiter oben erwähnten sozio-psychischen Wahrnehmungs­feld der Betei­ligten liegen können, bleibt derart nach wie vor auf ein sehr geringes Maß begrenzt, zumal dabei in der Praxis signifikante Beurteilungs- und Ermessens­spielräume offen bleiben. Vor- und Nachteile des Inhaltsprotokolls und auch die Vorteile der audiovisuellen Aufzeichnung waren dem Gesetzgeber sehr wohl bewusst, wie die Ausführungen in der relevanten Bt.-Drs. 18/11277 vom 22.02.2017, S. 24 ff. zeigen. Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist, dass wesentliche Feststellungen zu den Schwach­stellen von Inhaltsprotokollen, gerade auch unter dem weiter oben evidenten Dik­tum einer zunehmenden Dominanz des Ermittlungsverfahrens bei überwiegend „faktischer Sachherrschaft“ der Polizei, sogar aus einer (zwar etwas älteren aber nach wie vor lesenswerten) inner­polizeilichen empirisch-kommunikationswissen­schaft­­lichen Studie stammen.[17] Dem­­nach verharren selbst „erfahrene Vernehmungspersonen auf einer durch Rou­tine vorgefassten Meinung vom Tat­hergang, bei unerfahrenen Vernehmungs­personen sei (hingegen oftmals) mangelnde Konzentration und Selektions­fähigkeit“ feststellbar.  Nach seither aus der Praxis bestätigter Befunde (S. 240 m. w. N.) seien „Inhaltsprotokolle (häufig) selektiv, subjektiv und intuitiv, sie seien nicht selten durch vorgefasste Mei­nungen geprägt, gäben die Aussage nur oberflächlich und lückenhaft wieder und enthalten keine (verlässlichen) Angaben zur Befra­gungs­technik und zum Verlauf der Vernehmung (…)“. Selbst in sensi­blem Umfeld, im Rahmen der Vernehmung mutmaßlicher kindlicher Miss­brauchs­opfer, zeigte sich z. B. im Rahmen einer interessanten Studie von Lamb et al.[18] bei einem Vergleich der Transkripte mit den simultan angefertigten Proto­kollen der Vernehmungs­personen nicht nur deren Lückenhaftigkeit, sondern vor allem der Umstand, dass „detailreiche Aussagen der Zeugen öfter als spontane, freie Antworten auf offene Fragen dargestellt wurden, obwohl sie tatsächlich auf suggestive, geschlossene oder ähnliche Fragen hin erfolgt waren.“  All dies veran­lasst den Autor zur Forderung der Einführung der „obligatorischen audiovisuellen Aufzeichnung (mindestens von) Zeugenaussagen, (…) einher­gehend mit dem Weg­fall der Pflicht zur Erstellung eines Protokolls, (…) an dessen Stelle die Kom­bination von audiovisueller Aufzeichnung und Vermerk träte.“

Der Sammelband hält darüber hinaus noch einige sehr interessante Annäherungen an die Problematik unter Einbeziehung verschiedenster disziplinärer Perspektiven bereit (vgl. Inhaltsverzeichnis inkl. des bei diesem Link der Universität Bern an­gehängten Beitrags der dort bis 2014 tätigen Forscherin Margrit E. Oswald[19] und Dr. Helen Wyler, „Fallstricke auf dem Weg zur ‚richtigen‘ Entscheidung im Strafrecht: Eine Analyse aus psychologischer Sicht“).

Die Thematik ist hochaktuell, weil ubiquitär und schon deshalb rechts- wie auch gesellschaftspolitisch hoch brisant. So schreibt Heintschel-Heinegg im Zusam­menhang mit der Diskussion der „Juristischen Bücher des Jahres“[20] in einem Bei­trag, zugleich eine kurze Besprechung eines Buches von Sabine Rückert, schon im Jahr 2008: „Fehlurteile kommen in allen Ländern vor und auch die Ursachen der Fehlurteile sind in allen Ländern dieselben: Mängel in der Beweis­aufnahme und im Verfahren, menschliche Fehlerquellen, Gesetzesmängel, aber auch in der Psychologie die Urteilsfindung kann die Ursache liegen. Nur: Fehlurteile sind nicht unvermeidlich. Aber nur wer die Ursachen kennt und sich mit ihnen aus­einandersetzt, kann dazu beitragen, dass Fehlurteile im Strafprozess möglichst vermieden werden (…) !“

Schon deshalb ist die Tagung und der daraus entstandene Sammelband ein zwar in der Gesamtbetrachtung kleiner, dennoch wichtiger Beitrag zu dieser hoffentlich andauernden und ertragreichen Debatte, dem man angesichts des wichtigen The­mas, seiner interdisziplinären Anlage und der spannenden, multinationalen rechts­vergleichenden Beiträge nur noch die notwendige Aufmerksamkeit und nach­hal­tige Rezeption wünschen darf.

[1] Prof. Dr. iur. Stephan Barton, Universität Bielefeld, Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht.

[2] Ass.-Prof. Dr. Marieke Dubelaar, Radboud Universiteit in Nijmegen, Lehrstuhl für Straf­recht und Kriminologie.

[3] Prof. Dr. iur. Ralf Kölbel, Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der LMU München.

[4] Prof. Dr. iur. Michael Lindemann, Lehrstuhl für Strafrecht Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Bielefeld.

[5] Vgl. Verlags-Website und Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes.

[6] Der Titel des Sammelbandes geht zurück auf das Diktum: „Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers“ von Max Alsberg, in: „Die Philosophie der Verteidigung“, Schriften zur Psychologie der Strafrechtspflege, Ausgabe 2, Verlag, J. Bensheimer, 1930, S. 11.

[7] Vgl. hierzu, Plank, 2017

[8] Karl Peters, „Fehlerquellen im Strafprozess. Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland“, Band 1 – 3, 1970 -1974 erschienen bei C. F. Müller, München. Peters hat dabei, angeregt durch die Schrift „Das Fehlurteil im Strafprozeß (sic.) – Zur Pathologie der Recht­sprechung“ von Max Hirschberg und gefördert von der DFG, in Tübingen insgesamt 1.115 nach den §§ 359ff. StPO durchgeführte Wiederaufnahmeverfahren, bei denen der Wiederaufnahmeantrag für begründet erklärt worden war, untersucht. Die Motivation, Entstehung dieses Forschungs­vor­habens und erste wesentliche Erkenntnisse hieraus finden sich pointiert zusammengefasst in einem über­lieferten Vortrag des Forschers, den er am 2. Dezember 1966 vor der Berliner Juristischen Gesell­schaft gehalten hat, „Untersuchungen zum Fehlurteil im Strafprozess“, Schriftenreihe der juristischen Ge­sellschaft e. V. Berlin, Heft 29, Walter de Gruyter, Berlin, 1967.

[9] Vgl. z. B. nur Böhme, 2018 (Besprechung Feltes im PNL) oder auch Dunkel, 2018 (Besprechung Plank im PNL).

[10] Bericht der Expertenkommission vom 13.10.2015, S. 168 ff. (zuletzt abgerufen am 07.03.2019).

[11] De Vries, „Fehlerforschung in der Kriminalistik“, in: Die Polizei (105) 2014, Heft 5, S. 134.

[12]  Der Markt für derartige Produkte ist offensichtlich noch nicht annähernd gesättigt, wenn man die Fülle der Bücher alleine in jüngerer Vergangenheit betrachtet, bspw. Gisela Friedrichsen, „Gerichts­reportagen 1989 – 2004. Ich bin doch kein Mörder“, DVA, 2004; Sabine Rückert, „Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen“, Hoffmann und Campe, 2007; Rolf Lamprecht, „Die Lebenslüge der Juristen. Warum Recht nicht gerecht ist“, DVA, 2008; Thomas Darnstädt, „Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt“, Piper, 2013; Coralie Colmez / Leila Schneps, „Wahrschein­lich Mord. Mathematik im Zeugenstand“ (im englischen Original: „Math on Trial. How Numbers Get Used and Abused in the Courtroom”), Hanser, 2013; Max Steller, „Nichts als die Wahrheit. Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann“, Heyne, 2015; Rudolf Egg, „Die unheimlichen Richter. Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen“, Bertelsmann, 2015; Klaus Volk, „Die Wahrheit vor Gericht. Wie sie gefunden und geschunden, erkämpft und erkauft wird“, Bertelsmann, 2016; Joachim Wagner, „Ende der Wahrheitssuche. Justiz zwischen Macht und Ohnmacht“, C. H. Beck, 2017 und viele andere mehr.

[13]  So weist nicht nur aber vor allem Kölbel, S. 38, darauf hin, dass sich anderenorts, z. B. in den USA, die Fehlurteilsforschung als eine eigenständige „area of academic study“ zu konstituieren beginnt und sich inzwischen dort sogar eine „Criminology of Wrongful Conviction“ forme, wenngleich über­greifende Datenbanken wie z. B. im Rahmen des in den USA inzwischen seit 25 Jahren prak­tizierten „Innocence-Project“ immer noch weitgehende ehrenamtlich erstellt und gepflegt würden.

[14]  Andere Länder, wie die USA, Kanada aber auch Norwegen, England, Schottland und Wales, haben ent­spre­chende Instanzen entweder auf der Ebene regionaler Staatsanwaltschaften (USA, „Conviction Integrity Units“) oder auf der Ebene des Justizministeriums (Kanada) in der Form so genannter „Criminal Cases Review Commissions“ installiert.

[15]  Auch hier schimmert er wieder deutlich durch, der Ansatz der „Gesamten Strafrechtswissenschaft“, wenn die Herausgeber (S. 22) bspw. bemängeln: „Führe man sich vor Augen, dass sich beim Per­sonal­beweis die meisten Fehler schon im Kontext der Wahrnehmungswiedergabe ereignen, muss es er­staunen, dass aussagepsychologische Kompetenzen bislang noch keinen Eingang in die juristische Ausbildung gefunden hätten!“ Diese Feststellung klingt nicht ganz unbekannt, forderten doch schon Hanns Groß, Franz von Liszt und andere bereits ausgangs des 19ten Jahrhunderts, dass die Krimi­nalistik zu einem selbstverständlichen Teil ju­ris­tischer Ausbildung werden müsse.

[16]  Karsten Altenhain, Prof. Dr. iur., Lehrstuhl Für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Medienrecht an der Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf.

[17]  Banscherus, Jürgen, „Polizeiliche Vernehmung: Formen, Verhalten, Protokollierung“, BKA-For­schungs­reihe, Band 7, 1977, S. 250, 259 f.

[18]  Lamb, Michael E / Orbach, Yael / Sternberg, Kathleen J. / Hershkowitz, Irit / Horowitz, Dvora: „Accuracy of Investigators’ Verbatim Notes of Their Forensic Interviews with Alleged Child Abuse Victims”, in: Law and Human Behavior (24) 2000, Issue 6, S. 699 – 708.

[19]  Prof. em. Dr. Margit E. Oswald, Lehrstuhl für Sozialpsychologie und Soziale Neurowissenschaft an der Universität Bern

[20]  Ein sehr schönes Format, in dem ein Kreis bekannter Ordinarien seit Mitte der 1990er Jahre jährlich mehrere Werke juristischer Literatur ausgiebig (zumeist in der NJW im Vorfeld der Frankfurter Buch­messe) bespricht und empfiehlt.

Rezensiert von: Holger Plank