Oliver Bidlo – Vom Flurfunk zum Scrollbalken. Mediatisierungsprozesse bei der Polizei – Rezensiert von: Thomas A. Fischer

Bidlo, Oliver; Vom Flurfunk zum Scrollbalken. Mediatisierungsprozesse bei der Polizei; Oldib Verlag Essen, 2018, 134 Seiten, 15,- EUR, ISBN 978-3-939556-64-0.

Das Thema der Digitalisierung bzw. umfassender: Mediatisierung ist in unterschiedlichen Kontexten und in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Gegenstand der Forschung. Exemplarisch stellt sich angesichts der Veränderungen im gesellschaftlichen Mediensystem wie bspw. zunehmende Medienkonvergenz, die Pluralisierung von Medienverbünden, Kommerzialisierungs- und Deregulierungsprozesse und damit einhergehender Vervielfachung von Medienangeboten die Frage, wie die Menschen mit dieser Durchdringung ihres Alltags, ihrer Lebenswelt umgehen – eine Perspektive, die insbesondere in der entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretisch-orientierten Forschung nach wie vor eine hohe Relevanz besitzt. Eine weitere thematische Fokussierung erfährt das Thema Mediatisierung in Bezug auf deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Institutionen und Organisationen und damit verbunden auch auf den (Arbeits-)Alltag der Menschen in diesen institutionellen Kontexten. Eine solche Fokussierung aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Sicht bietet der vorliegende Band bezogen auf die Organisation Polizei.

Ausgangspunkt ist das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Die Praxis des Entscheidens. Internetgestützte Entscheidungsprozesse in Organisationen am Beispiel der Ermittlungsarbeit der Polizei“[1], welches im Zeitraum 2010 bis 2012 von der Universität Duisburg-Essen und der Fernuniversität Hagen durchgeführt wurde. Untersucht wurde hierbei der Wandel von Formen der Kooperation, der Wissensverarbeitung und der Entscheidungsfindung in den alltäglichen Arbeitspraxen von Organisationen durch die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Im Kontext dieses Forschungsprojekts und auf Basis dessen Empirie[2] wurden vom Verfasser zwei umfangreiche Aufsätze erstellt, „deren Thematik durch die Frage nach Veränderungen im Arbeitsalltag und in den sozialen Beziehungen zu ArbeitskollegInnen durch den Einsatz neuer, digitaler Medien verbunden sind“ (S. 7) und erstmals in Form des vorliegenden Bandes veröffentlicht wurden.

In einer den beiden Aufsätzen vorangestellte Einleitung geht der Verfasser zunächst auf die grundlegende kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektive ein und stellt die methodischen und methodologischen Grundlagen der vorliegenden Analyse dar. Unter Mediatisierung wird hierbei die zunehmende Durchdringung von Alltag und Kultur mit verschiedenen Formen der Medienkommunikation und damit verbundene Wandlungsprozesse verstanden: „Der zeitlich und räumlich fast fortwährend mögliche Zugriff auf digitale Medien sowie der Zugriff über sie auf ein gemeinschaftliches Netzwerk, mithin der Prozess der latenten und manifesten Durchdringung des Alltags durch Medientechnologien, führt zu einer Reihe von Veränderungen.“ (S. 10, Hervorhebung im Original). Insbesondere stehen damit einhergehende, neue gesellschaftliche Praktiken im Kontext gesellschaftlicher Institutionen und Arbeitsorganisationen im Mittelpunkt der Betrachtung. Als grundlegende These und in diesem Zusammenhang als Ziel des vorliegenden Bandes schreibt der Verfasser: „Der Einzug digitaler Medientechnologie sowie der darüber genutzten Software in der Organisation Polizei führt […] zu sichtbaren und auch unsichtbaren Veränderungen, die durch Datenerhebung und eine anschließende hermeneutische Analyse im Folgenden sichtbar gemacht werden sollen“ (S. 11, Hervorhebung im Original). Die Analyse folgt dabei der wissenssoziologischen Hermeneutik, welche vom Verfasser in der Einleitung umfassend dargestellt wird.

Im ersten Aufsatz mit dem Titel „Über Flurfunk und Scrollbalken bei der Polizei – Von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und zurück“ geht der Verfasser der Frage nach, welche Veränderungen in der Kommunikationskultur sich bei der polizeilichen Arbeit, insbesondere bei der Ermittlungsarbeit der Polizei durch die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien ergeben haben. Als Referenzpunkt der Veränderungen – und damit dem Erfassen eines „Davor“ – dient eine Studie von Jo Reichertz aus dem Jahr 1991, welche die polizeiliche Aufklärungsarbeit in den Blick nimmt und auf die polizeiliche Kommunikationskultur fokussiert.[3]

Nach einer Auseinandersetzung des Verfassers mit Aspekten der Datenerhebung und -auswertung im Sinne einer Forschungs-(und Forscher-)reflexion wird der Wandel der polizeilichen (Arbeits-)Praxis im Rahmen ihrer Kommunikationskultur von oraler Kommunikation zu einer zunehmend (auch) literalen Kommunikation und die damit einhergehenden Folgen beschrieben. Besonders anschaulich ist diese Beschreibung insbesondere durch die umfassende Materialdarstellung und -analyse. Der Verfasser bezieht sich hierbei auf insgesamt sechs leitfadengestützte Interviews und Feldnotizen von zwei Feldaufenthalten, wobei sich die Analyse „auf das Verhältnis von Oralität – mündliche Gespräche, Telefonate und unmittelbare Face-to-Face-Treffen – und Literalität (E-Mails, Briefe etc.)“ (S. 40) im Arbeitsalltag und bei Entscheidungsprozessen fokussiert.

In der interpretativen Erkundung des Materials geht der Verfasser zunächst auf die grundsätzliche Bedeutung des Computers im polizeilichen Arbeitsalltag ein und verdeutlicht dessen Rolle als „‘erster‘ Ansprechpartner für den Start in den Arbeitstag und Auftraggeber für das weitere Vorgehen“ (S. 49, Hervorhebung im Original), insbesondere die Rezeption von Verteilernachrichten, Listeneinträge und E-Mails ist implizit vorausgesetzt und verdeutlicht die Verbindlichkeit des Computers als Nachrichtenmedium (vgl. S. 50). Weiter geht der Verfasser anhand des Materials auf die Veränderungen der Kommunikationskultur genauer ein, insbesondere einer wahrgenommenen Abnahme (gleichwohl keinesfalls eines Relevanzverlustes!) der oralen Kommunikation durch den Einsatz digitaler Medien. Der Verfasser konkretisiert diese Veränderungen u.a. an dem Beispiel von Entscheidungsprozessen zu Verantwortlichkeiten, „wer, was und wann macht“ (S. 57). Vor allem die (Verantwortungsübernahme für die) Bearbeitung und Koordination von Vorgängen bzw. damit verbundene Kommunikationsformen haben sich durch die E-Mail-Kommunikation, die damit zusammenhängende Zunahme von kursierenden Informationen bzw. der Verfügbarkeit von Wissen verändert (vgl. S. 57 ff.). „Denn mit dem Wissen um gewisse Dinge steigt zugleich der normative Druck Fürsorge (Hilfe) zu leisten und damit Verantwortung zu übernehmen. Durch das Weiterleiten von Informationen wird zunächst jedem alles selbst überantwortet. Die Verantwortung wird sozusagen sprachlos und wortlos allein durch die Praxis des Verfügbarmachens der Informationen (durch E-Mail-Weiterleitung) an jeden Einzelnen übergeben. Das Lesen der Informationen und die damit einhergehende Verpflichtung, sich selbst informieren zu müssen, muss nicht fortlaufend ‚von oben‘ befohlen werden, sondern wird letztlich durch die Praxis sprach- und wortlos übersandt“ (S. 60 f.). An anderer Stelle betont der Verfasser, dass sich damit „der Verantwortungs- und Entscheidungsdruck für den Einzelnen [erhöht], sich fortwährend die neuesten Mail-Informationen zuzuführen, sie zu sichten, zu lesen und zu bewerten“ (S. 64). Diese Entwicklung beschreibt der Verfasser unter Bezug auf Foucault mit der „Fremdführung zur Selbstführung“ (S. 61, Hervorhebung im Original)

Bei allen Unterschieden der beiden mit unterschiedlichen sozialen Praxen verbundenen Kommunikationsformen (oral und literal) gilt grundsätzlich zu berücksichtigen, so der Verfasser, dass diese „in der polizeilichen Praxis nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch meinen. Sie sind in der Praxis miteinander verschränkt“ (S. 62).[4] Vor diesem Hintergrund und bezugnehmend auf kommunikations- und medientheoretische Erkenntnisse betont der Verfasser, dass „ein neues Medium ein Altes nicht gänzlich überflüssig macht oder auflöst, sondern das kommunikative Möglichkeitsfeld erweitert“ (S. 69)

Abschließend in diesem Aufsatz bzw. Kapitel spannt der Verfasser nochmals den Bogen von der oralen zur literalen Kultur – und wieder zurück (S. 70 ff.). Insgesamt wird, so der Verfasser, eine Verschiebung hin zu digital-literaler Kommunikation deutlich. „Gleichwohl, und das macht die Notwendigkeit einer Synthetisierung beider Handlungsweisen (digital und analog) evident […], bleibt die konkrete Einsatzsituation sowohl in Bezug zum Bürger als auch zu PolizeibeamtInnen untereinander weiterhin von unmittelbarer Kommunikation geprägt“ (S. 81).

Im zweiten Aufsatz mit dem Titel „Die Anpassung an und die Nutzung von digitale(n) Medien in der Polizei“ widmet sich der Verfasser der „Frage nach der Art und Weise wie in dem Kontext der Computer- und digitalen Techniknutzung Wissen von den Beteiligten wechselseitig vermittelt und aufgenommen wird und welche Praktiken sich diesbezüglich etabliert haben“ (S. 84, Hervorhebung im Original).

Zunächst geht der Verfasser hier auf theoretische Implikationen aus medien- und kommunikationstheoretischer Sicht sowie auf das empirische Material und das Vorgehen bei der Analyse ein. Auch hier stammt das Datenmaterial aus dem oben genannten DFG-geförderten Forschungsprojekt. Die ebenfalls der hermeneutischen Wissenssoziologie folgenden Analyse bezieht sich hier auf insgesamt fünf leitfadengestützten Interviews und acht Feldmemos (vgl. S. 88).

In einem ersten Schritt der Materialvorstellung und -analyse beschreibt der Verfasser die in der polizeilichen Praxis vorhandenen Techniken, bestehend sowohl aus Hard- wie auch Software, und verdeutlicht die Vielfältigkeit der zum Einsatz kommenden digitalen und technischen Artefakte. Anhand der Feldnotizen und Interviews bietet der Verfasser dem Leser im Weiteren einen Einblick in das empirische Material und damit in das Feld. In der daran anschließenden Verdichtung wird zu Beginn betont, dass der Umgang mit entsprechenden Techniken heute als Grundfähigkeiten sowohl im privaten als auch im beruflichen Alltag vorausgesetzt werden: „Die adäquate Nutzung dieser Technik wird als eine neue, vierte Kulturtechnik – neben den klassischen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und elementarem Rechnen – mehr oder weniger vorausgesetzt“ (S. 102). Sowohl vor dem Hintergrund einer „‘normalen‘ Technisierung des Büroalltags“ (S. 102) als auch angesichts kriminalistischer Notwendigkeiten (vgl. S. 103) sind diese Techniken Teil polizeilicher Praxis. Entsprechend wird eben auch von PolizeibeamtInnen ein fähiger Umgang mit diesen Techniken erwartet. Im Weiteren legt der Verfasser den Fokus u.a. auf den Zusammenhang von Alter (des/der Polizeibeamten/Polizeibeamtin) und der Mediennutzung. Dieser Zusammenhang wird anhand verschiedener Beispiele aus dem Datenmaterial verdeutlicht. Der Verfasser betont, dass der Umgang mit digitalen Medien von PolizeibeamtInnen unterschiedlichen Alters zwar nicht generell anders ist, jedoch ist bei jüngeren PolizeibeamtInnen der „Umgang mit digitalen Medien […] häufig unbefangener und selbstverständlicher, da sie mit diesen von Kindesbeinen groß geworden sind“ (S. 109). So banal diese Feststellung erscheint, so bedeutsam ist sie im Hinblick auf eine – mehr oder weniger aufwändige – Aneignung von Technik in der beruflichen bzw. polizeilichen Praxis (vgl. S. 116 ff.). Diesbezüglich konstatiert der Verfasser: „Trotz möglicher Schulungen in den unterschiedlichen Softwaresystemen der Polizei wird ein Großteil der Technikkompetenz durch Learning-by-Doing, also autodidaktisch und zum anderen durch KollegInnen, die man fragen kann, angeeignet“ (S. 121). Damit verbunden ist nicht zuletzt eine neue Hierarchieebene, bei der die eigene Stellung von der vorhandenen Medien- bzw. Technikkompetenz abhängt. Damit wird nicht zuletzt deutlich, „dass die Technik nicht mehr nur als ein Werkzeug verstanden werden kann. Die Fähigkeit sie zu bedienen, ist ein eigener Wert geworden, die sich als soziales Kapitel ausweist“ (S. 121, Hervorhebung im Original).

In einem den beiden Aufsätzen nachgestellten bilanzierenden Abschluss setzt der Verfasser die Erkenntnisse nochmals in den (grundsätzlichen) Kontext von Mediatisierungs- und Technisierungsprozessen und benennt in diesem Zusammenhang weitere, für die Forschung durchaus spannende Aspekte wie die starke mediale Pressearbeit der Polizei oder die zunehmende Nutzung von Facebook oder Twitter (vgl. S. 125). Resümierend stellt der Verfasser fest, dass die Einführung und Etablierung technischer Neuerungen – sowohl hard- wie softwareseitig – […] bei der hier untersuchten Organisation ‚Polizei‘ nicht nur zu offensichtlichen Veränderungen der alltäglichen Praxis geführt [hat]: So ist heute die erste Handlung das Starten des Computers. Es hat sich durch die Technisierung überdies die Art und Form der Kommunikation und mithin die Kommunikationsstruktur in der Organisation verändert“ (S. 125).

[1] https://www.fernuni-hagen.de/soziologie/lg3/forschung/projekte/praxis_entscheidens.shtml [zuletzt abgerufen am 05.03.2019]

[2] Bezüglich des empirischen Materials, welches im Zeitraum von 2009 bis 2012 erhoben wurde, weist der Verfasser selbst im Vorwort darauf hin, „dass manche genannten Einzelaspekte für das Erscheinungsjahr 2018 schon wieder überholt oder bekannt klingen“ (S. 7). Gleichwohl sechs bis neun Jahre mit Blick auf die rasante Entwicklungen der (neuen) Medien als eine Ewigkeit erscheinen, ist dem Verfasser jedoch zuzustimmen, dass die grundsätzlichen Perspektiven auf bspw. soziale Netzwerke und darauf bezogenes polizeiliches Handeln nach wie vor bedeutsam und gültig sind  – auch „weil Veränderungen in einer Organisation (hier der Polizei), zumal, wenn es um Veränderungen im Rahmen sozialer Praktiken, der Wissensweitergabe und damit zusammenhängender Binnenprozesse sozialen Wandels von Organisationen geht, von einer gewissen Langsamkeit geprägt sind“ (S. 7).

[3] Reichertz, Jo (1991): Aufklärungsarbeit. Kriminalpolizisten und Feldforscher bei der Arbeit. Stuttgart: Enke.

[4] Dies wird nicht zuletzt deutlich, wenn man die (Zuschreibungen von) Bedeutung oraler und/oder literaler Kommunikationsformen auch aus der Sicht jüngerer und älterer Polizeibeamten, „die sich grob aufteilen lassen in intensive E-Mail-Nutzer auf der einen und stark auf Gespräche ausgerichtete auf der anderen Seite“ (S. 68) im Vergleich betrachtet (vgl. S. 64 ff.).

Rezensiert von: Thomas A. Fischer