Steffes-enn/Saimeh/Briken, Sexueller Kindesmissbrauch und Missbrauchsabbildungen in digitalen Medien. Rezensiert von Holger Plank

Steffes-enn, Rita[1] / Saimeh, Nahlah[2] / Briken, Peer[3] (Hrsg.): „Sexueller Kindesmissbrauch und Missbrauchsabbildungen in digitalen Medien“[4] Auflage 2023, ISBN: 978-3-428-95466-747-5, 372 Seiten, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin, 99,95 €, eBook verfügbar)

Der lesenswerte Sammelband vereint 39 (jeweils kurze Impuls-) Beiträge und zwei Exkurse von insgesamt 61 Autor*innen, inhaltlich schlüssig gegliedert und aufberereitet in vier Kapiteln[5]. So wird dem Leser ein sehr differenzierter Blick auf das hoch virulente Phänomen aus allen relevanten disziplinären Perspektiven ermöglicht. Vertreten sind neben den Kriminalwissenschaften (Kriminologie, Kriminalistik / digitale Forensik, Strafrecht[6]), die (sex.) Gewaltforschung aus Täter- und Opfersicht, die medizinische / psychiatrische Diagnostik, Prognostik und sachverständigen Begutachtung sowie die „Typologie“ von Online-Sexualstraftätern, die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Soziale Arbeit.

Im abschließenden vierten Kapitel richtet sich der Blick auf multi-disziplinäre Präventions- und Interventionsansätze im Hell- und Dunkelfeld. Zur gedank­lichen Einordnung mancher Darlegung hilfreich, schließt der Sammelband u. a. mit einem Glossar forensisch relevanter „Szene“-Begriffe und Logos (S. 347ff.). Wenn man – einleitend überhaupt – von Verbesserungspotenzial sprechen will, vielleicht ließe sich manche inhaltliche Wiederholung, insbesondere zur (be­grenzten) Validität / Reliabilität der vorgestellten diagnostischen Tools oder zur Prävalenz / Inzidenz des Phänomens, ggf. durch straffere inhaltliche Vorgaben im Verlauf des CoP oder ein in der Folge etwas „invasiveres“ Lektorat vermeiden, auch wenn dies bei einem multi-perspektivischen Sammelband dieses Umfangs schwierig ist.

Auf den ersten Blick wird deutlich, dass im Hell- und Dunkelfeld weder Inzidenz noch Prävalenz des Phänomens eindeutig konturierbar sind, mithin sowohl epi­demiologisch, methodisch als auch in Bezug auf die Rückfallwahrscheinlichkeit und Legalbewährung noch signifikanter Disziplin übergreifender Forschungsbe­darf vorhanden ist. Schon deshalb verwundert es aus strafrechtswissenschaftlicher Perspektive, dass die Kriminalpolitik, entgegen überzeugender fachwissenschaft­licher Empfehlung[7], zuletzt 2021 mit dem „Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ vom 16.06.2021 (BGBl. I S. 1810), in § 184b StGB eine undifferenzierte Verschärfung der Strafzumessung vornahm[8], die aktuell z. T. wieder revidiert werden soll (Fn. 6). Die Gesetzgebungshistorie des Sexual­straf­rechts im Allgemeinen und die dogmatischen Implikationen der o. g. Straf­ver­schärfung werden vor allem im Beitrag von Bussweiler und May (S. 9-17) treffend kritisch kontrastiert. Ohne angesichts der Fülle der lesenswerten Beiträge des Bandes dezidiert auf jeden einzelnen eingehen zu können, aus der sicher­heitsbehördlichen Perspektive des Rezensenten empfehlenswert sind bspw. Pellowski et al. (S. 27-34) zur inkohärenten kriminalstatistischen Phäno­menologie des Deliktsbereichs, Gebauer & Walter (S. 19-26) zu den Anforderungen an digitalforensische Gutachten zur Auswertung der Abruf-, Speicher-, Verarbeitungs-, Ablage- und Verbreitungsroutinen Tatverdächtiger und  zu dem in praxi nach wie vor vielfach treffenden Befund, dass Fachkräfte aller Disziplinen, die sich mit der forensischen und therapeutischen Aufarbeitung der Fälle professionell auseinandersetzen, Gefahr laufen neben den bedauernswerten Opfern ebenfalls (erheblich) viktimisiert / traumatisiert zu werden. Dieser Befund muss im professionellen Umfeld permanent beobachtet und durch geeignete salutogenetische Maßnahmen niederschwellig begleitet werden.

Auch im zweiten Kapitel des Bandes finden sich einige interessante phänomenologisch-kasuistische Beiträge, u. a. zur Häufigkeit und zu den Schwierigkeiten der Ermittlung der strafverschärfenden Tatbestandsmerkmale „banden- / gewerbsmäßig“ aus polizeilicher Sicht (vgl. Quast & Schönborn, S. 127-132). Neben diesen – den thematisch umfassenden Sammelband arron­dierenden – kriminalwissenschaftlichen Rahmenbedingungen, sind aus kriminolo­gischer Sicht weitere Beiträge erwähnenswert. Einen ersten hypothetischen ätiologischen Erklärungsrahmen bieten bspw. Schmidt et al. (S. 35-44) mit ihrem „theoretischen Rahmenmodell“, allerdings auf Basis „wissenschaftlich rudi­mentärer“ Ansätze zur Erklärung der Nutzung von Medien sexualer Gewalt an Kindern im digitalen Raum (insofern mit eingeschränkter prognostischer Relia­bilität). Hierbei werden auch Faktoren, Risiken und Ergänzungsbedarfe der ausgewählten Diagnose-Tools vorgestellt. Neben der Darstellung einer beeindruckenden Auswahl diagnostischer Hilfsmittel wird in einigen Beiträgen v. a. das Tool „Child Abuse Material Instrument (CAMI)“ als diagnostisch gut geeignet zur Erfassung des spezifischen Täterverhaltens dargestellt. So reflektieren u. a. Reinhardt & Born (S. 133-138) am Beispiel des Personagramms des Administrators der 2017 durch die Ermittlungsbehörden stillgelegten Plattform „Elysium“[9]  auf die sachgerechte Anwendung dieses Tools.

Das dritte Kapitel fokussiert kasuistisch auf einige ausgewählte Problem­stellungen. Der Schwerpunktsetzung des Sammelbandes folgend reflektiert einleitend die Mitherausgeberin Steffes-enn (S.- 141ff.) mit ihrem Beitrag zu „Online-Entwicklungspfaden pädosexueller Überzeugungstäter“ zunächst wiederum auf das wissenschaftliche Erkenntnisdefizit zur Online-Vernetzung und -Kommunikation sowie zu kriminogenem, im Grenzbereich zum Strafrecht anzusiedelnden Medien-Nutzungsverhalten von Menschen mit sexuellem Interesse an Kindern und skizziert – anknüpfend an diesen Befund – ein eigenes Forschungsvorhaben in diesem Kontext. Mit Blick auf die misslungene Strafzumessungsregelung in § 184b StGB (s. o.) interessant sind zudem z. B. die Beiträge von Allrogen (S. 187ff.) zu „Kindern und Jugendlichen als Produzenten und Vertreiber strafrechtlich relevanter kinderpornographischer Dateien“ sowie von Casademont & Märker (S. 195ff.) zu sexuellen Übergriffen durch Jugendliche anhand von Fallbeispielen und der Unterscheidung von deren Intensität („Hands-on“ bzw. „Hands-off“).

Das nach der Fundierung der kriminologischen Lage, Phänomeologie, Anamnese / Diagnostik / Prognostik in den Kapiteln 1-3 angesichts seiner zukunfts­gerichteten Bedeutung sachgerechterweise mit 17 Beiträgen umfangreichste vierte Kapitel des Buchs zeigt eine ganze Reihe kriminalistischer, strafvollzugs-, bewährungs- und führungsaufsichtsrechtlicher, (medien-) pädagogischer, therapeutischer und projektspezifischer präventiver (Interventions-) Ansätze auf, die zur Stabilisierung Betroffener beitragen können.

Der multidisziplinäre Erkenntnisgewinn des jüngsten Werks der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft zum Phänomen des sexuellen Miss­brauchs in der Digitalsphäre ist trotz des dargestellten zusätzlichen Forschungs­bedarfs für alle Professionen, die sich mit dem Phänomen auseinandersetzen, enorm und rundet das bislang verfügbare Portfolio des Verlags zur Diagnostik, Begutachtung, zur Risikoeinschätzung und Therapie von (pädophilen) Sexualstraftätern[10] ab. Nicht nur der Input der Beiträge selbst, auch die zahllosen Hinweise auf weiterführende Literatur und aktuelle Projekte sind eine wahre Fundgrube für Praktiker und Forscher, sodass das Buch auch als geeignetes Nachschlagewerk für Fachbibliotheken aller genannten Professionen zu empfehlen ist.

Holger Plank (im März 2024)

[1] Dr. phil., Kriminologin (M. A.), Leiterin des Zentrums für Kriminologie & Polizeiforschung (ZKPF).

[2] Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.

[3] Prof. Dr. med. und Direktor des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

[4] Siehe Verlags-Website mit Inhaltsverzeichnis.

[5] „I. Einführung“, „II. Diagnose und Prognose“, „III. Ausgewählte Phänomene“ und „IV. Präventions- und Interventionsansätze“.

[6] Dabei wird auch die Problematik von Kindern und Jugendlichen als Produzenten und Ver­breiter strafrechtlich relevanter kinderpornographischer Dateien aus epidemiologischer Sicht (Allroggen, S. 187-194) in den Blick genommen, eine Problemstellung, die insbesondere bei jugendlichen Täter*innen, die offensichtlich nicht aus pädosexueller Energie heraus handeln, bislang dazu führte, dass eine tat- und schuldangemessene Sanktionierung bzw. ju­gend­gerichtliche Diversionsmaßnahmen nicht mehr in jedem Einzelfall gewährleistet waren, wes­halb die Bundesregierung am 07.02.2024 ein „Gesetz zur Anpassung der Mindeststrafen des § 184b Abs. 1 Satz 1 und Absatz 3 StGB“ auf den Weg gebracht hat.

[7] Vgl. Deutscher Bundestag, Vorgangsablauf in DIP und Expertenanhörung im federführenden Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz vom 07.12.2020, siehe auch Stellungnahmen hierzu.

[8] Zugleich eröffnete der Gesetzgeber mit § 184b Abs. 6 StGB i. V. m. § 110d StPO für verdeckt arbeitende Ermittler erstmals den „Einsatz von computergenerierten Missbrauchsabbildungen zur Strafverfolgung“ (vgl. Beitrag von Wittmer & Steinbach, S. 207ff.) und damit eine gesetzlich hinreichend bestimmte Vorschrift zur Legitimierung einer „Keuschheitsprobe“.

[9] Vgl. BGH 2 StR 321/19 vom 15.01.2020 (LG Limburg, 1 KLs – 3 Js 7309/18 vom 07.03.2019)

[10] Siehe Stompe et al. (Hrsg.), ”Sexueller Kindesmissbrauch und Padophilie”, 2017 und Saimeh et al. (Hrsg.), „Sexualstraftäter“, 2021 und