Mike Sandbothe / Reyk Albrecht (Hg.), Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft. Transcript-Verlag Bielefeld, 460 Seiten, ISBN: 978-3-8394-5188-5, Print 24.- Euro, pdf kostenlos.
Auf den ersten Blick denkt man bei dem Titel (und dem Ort dieser Rezension) vielleicht an die Buchreihe „Achtsames Morden“, in der ein Rechtsanwalt unter dem Druck seiner Arbeit leidet und einen Achtsamkeitscoach konsultiert – und der dann, nach einigen Zwischenschritten – einen seiner Klienten ermordet und zersägt, um ihn mit einem Gartenhäcksler zu zerstückeln und im See zu entsorgen. Aber es geht hier um etwas weitaus weniger Skurriles, aber dennoch Dramatisches: Die Entwicklung unserer Hochschulen, die immer mehr den einzelnen Studierenden aus den Augen verlieren und auf institutionelle Effizienz und möglichst viel Forschungsgelder setzen. Das Buch zeigt einen Weg aus dieser Spirale der gegenseitigen Entfremdung auf, in dem es das weltweit erste Programmpaket zur Implementierung von Achtsamkeitstrainings in die bzw. an den Hochschulen darstellt.
Die Beiträge in dem Buch führen die Begriffe Achtsamkeit, Digitalisierung und Transformation zusammen. Das von mehr als 10.000 Studierenden, Lehrenden, Mitarbeitenden und Führenden an Hochschulen und Universitäten erprobte Modell adaptiert und verbindet Übungen aus den international anerkannten Achtsamkeitstrainings Mindfulness-based Stress Reduction, Dyadentraining und Social Presencing Theater. Die Herausgeber und Projektentwickler beschreiben die Erfolgsgeschichte ihrer Arbeit, ordnen sie kulturpolitisch ein und lassen Fachwissenschaftler aus den Human-, Ingenieur-, Medizin- und Wirtschaftswissenschaften zu Wort kommen. In beeindruckenden Erfahrungsberichten und praxisnahen Detailstudien richten sie sich nicht nur an das akademische Fachpublikum, sondern an alle, die wissen möchten, wie sich Bildung in der digitalen Gesellschaft auf achtsame Weise gestalten lässt.
Das umfangreiche Buch steht in einer gedruckten Version (24.- Euro) und kostenlos als pdf-Version zur Verfügung. Letzteres sollte zumindest ein Anreiz sein, einmal durch das Buch zu blättern und dabei festzustellen, dass es nicht nur „Achtsames Morden“ gibt, sondern dass wir „achtsame Hochschulen“ brauchen – auch, aber nicht nur im digitalen Bereich.
Und es gibt dazu auch eine sehr gut gestaltete Website, die alle Aspekte der achtsamen Hochschule darstellt und Kontakt- sowie Informationen über die Protogonisten des Projektes bereitstellt. Dort findet man auch Videovorträge, Kurzfilme und weitere Publikationen sowie einen Blog mit aktuellen Hinweisen auf Veranstaltungen.
Wer, wie der Rezensent, sein Studium Anfang der 1970er Jahre begonnen hat, als statistische Berechnungen noch mit Lochkarten durchgeführt wurden, die man zum Rechenzentrum bringen musste und (bei viel Glück) am kommenden Tag, meist aber 2-3 Tage später die voluminösen Auswertungen (natürlich auf Papier im endlos-Format mit – gefühlten – 50 cm Breite!) bekam und wer in Bibliotheken in Zettelkästen suchte, für den war und ist die Digitalisierung ein Segen. Ganz zu Schweigen von den Unmengen von Fernleihbestellungen für Aufsätze, die man z.T. sogar bezahlen musste und auch die man Wochen, wenn nicht sogar Monate gewartet hat. Achtsames Forschen war damals selbstverständlich, man hatte die nötige Zeit dazu – gezwungenermaßen.
Sicherlich gab es auch damals schon Stress, aber keine Internetabhängigkeit. Mit beiden Aspekten beschäftigt sich der Sammelband, der aber auch auf Zen-Meditation und Achtsamkeitstraining oder „Mindful experience trainig“ eingeht. Die Verantwortung, die Hochschulen, vor allem aber auch alle (!) Lehrenden in diesem Bereich übernehmen müssen, schwebt quasi als Metamessage über den Beiträgen. So ist zu hoffen, dass dem Buch und den dort beschriebenen Projekten die notwendige Aufmerksamkeit – oder besser: Achtsamkeit zukommt.
Als „Inspirationsquelle für die Hochschulen des 21. Jahrhunderts“ ist am Ende des Bandes u.a. ein Essay von Aldous Huxley aus dem Jahr 1956 enthalten („Bildung für Amphibien“). Er skizziert darin die Grundlagen dessen, was er „nonverbale Humanwissenschaften“ nennt. 1956 wohlgemerkt, dabei noch heute so aktuell wie damals – oder besser gesagt: gerade heute aktuell.
Ein weiterer Beitrag am Ende thematisiert die Notwendigkeit einer „vertikalen Bildung“, in der der Mensch als Ganzes und „tiefes Lernen“ eine wesentliche Rolle spielen. In Zeiten wie diesen, wo Lernen oftmals das flache Display eines Handys nicht verlässt, ein dringend notwendiger Aspekt.
Und, ach ja, weil wir uns hier im Buch-Blog des Polizei-Newsletter befinden: Auch und besonders Polizeihochschulen sollten sich Achtsamkeit auf die Fahnen (und in die – digitalen – Lehrpläne) schreiben. Die so erreichbare Stressreduktion und das Erlernen von Achtsamkeit können beides wichtige Faktoren für die spätere Polizeipraxis darstellen. Wenn ich mich in meinem Juli-Blog mit „Tugend und Polizei“ und der „moralisch-ethischen Ausrichtung und Legitimität von polizeilicher Tätigkeit“ beschäftige, dann geht dies in die gleiche Richtung: Wir brauchen mehr Achtsamkeit und mehr Empathie, ja mehr Tugend im polizeilichen Handeln; das reduziert nicht nur den zunehmend als belastend empfundenen Stress bei den Beamten, sondern kommt dem sog. „polizeilichen Gegenüber“ zugute – nicht nur, aber auch in Ausnahmesituationen und hilft so, das Image der Polizei, das in den letzten Jahren gelitten hat, zu verbessern. Eine achtsame Polizei? Bislang wurde dieser Aspekt nur als „Aufpassen auf Gefahren“ gelehrt; vielleicht verborgt sich hinter einer achtsamen Polizei aber weit mehr: Rücksichtnahme auf sich selbst und auf den Menschen, dem man dient.
Also: Lehrende an Polizeihochschulen aufgepasst: Auch wenn der Titel des Buches nicht so klingt: Der Inhalt ist auch und gerade für Sie von Interesse!
Thomas Feltes, Juli 2025