Ethnographische Erkundungen – Methodische Aspekte aktueller Forschungsprojekte – Ronald Hitzler, Miriam Gothe (Hrsg.)

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Hitzler Ronald, Gothe Miriam (Hrsg.); Ethnographische Erkundungen – Methodische Aspekte aktueller  Forschungsprojekte
; Springer VS, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3-658-07256-8, 34,99€

ethnografische_erkundungen

Die Ethnographie kann vorsichtig als eine weniger theoriegeleitete Sparte der Sozialforschung bezeichnet werden, was den Erkenntniszugewinn aus entsprechenden Studien nicht zwingend schmälern muss, jedoch eine gewisse Kritikanfälligkeit hinsichtlich der Validität ethnographischer Forschungsergebnisse mit sich bringt.[1] Mit dem Sammelband „Ethnographische Erkundungen – Methodische Aspekte aktueller Forschungsprojekte“, herausgegeben von Ronald Hitzler und Miriam Gothe, soll die ethnographische Forschung neuen sowie altbekannten, bewährten methodischen Input erhalten.

Als Zielgruppe verlautbart der Buchrücken „alle an Fragen der Feldforschung und an ‚fremden Welten gleich um die Ecke‘ interessierten Personen.“.

Die Beiträge des Sammelbands werden unter den Kapiteln „Old School“, „Kombination von Methoden“, „Spezielle Methoden“ und „New School?“ zusammengefasst und stammen größtenteils aus einem Methoden-Workshop an der Technischen Universität Dortmund.

Unter dem Begriff „Old School“ werden Studien vorgestellt, die sich auf altbewährte Methodenansätze der Ethnographie berufen.

Zifonun zeigt anhand dreier ethnographischer Studien phänomenologische Ansätze auf, die sich also auf das Erkennbare, soziale Strukturen und Interaktionen konzentrieren und daraus Schlüsse zu ziehen versuchen.[2]

Eine medienethnographische Studie wird durch Möll vorgestellt, wobei er auf die Probleme ethnographischer Forschungsdesigns bei der Verlagerung der Feldakteure in die virtuelle Welt hinweist.

Striffler stellt einen Fall der klassischen ethnographischen teilnehmenden Beobachtung dar, in dem sie in Pflegeheimen mittels Kontrastierung eine Typenbildung von Menschen mit Demenz vorgenommen hat.

Perlick präsentiert im Anschluss einen Projektentwurf zum Thema „Eventisierte Hochschule“, in dem eine vergleichende Analyse deutscher und US-amerikanischer Hochschulen mittels einer Methodenkombination aus teilnehmender Beobachtung und qualitativer Interviews Aufschluss darüber geben soll, inwiefern amerikanische Eventisierungsbestrebungen bereits an deutschen Hochschulen Einzug gefunden haben.

Das zweite Kapitel „Kombination von Methoden“ gibt Einblicke in methodenplurale Forschungsdesigns.

Die bereits im Rahmen von Zifonuns Beitrag ausgeführte Studie von Anne Honer zur alltäglichen Praxis des Bodybuildings wird hier durch Honer selbst noch einmal vorgestellt. Bevor Honer das Feld betrat, hat Sie dieses zunächst unter Zuhilfenahme eines Fragebogens durchleuchtet, um einen ersten Eindruck von der Motivation hinter dem Bodybuilding zu erlangen. Hier zeigt sich der Unterschied zu klassischen ethnographischen Ansätzen. Honer geht sehr wohl mit Vorwissen und Operationalisierungskriterien in die anschließende teilnehmende Beobachtung.

In einer noch andauernden Studie zum Umgang mit Menschen im Wachkoma führte Hitzler zunächst Interviews mit Personen durch, die mit diesem Thema bisher nicht in Berührung gekommen waren. Diese Interviewten wurden anschließend „Involvierten“ (Angehörige und beruflich damit Befasste) vergleichend gegenübergestellt. In der Hauptuntersuchung werden Beobachtungen durch die gesetzlichen Betreuer der Patienten vorgenommen und aufgezeichnet. Darüber hinaus wurde ein Wissenschaftler als Lehrling in den Schichtbetrieb des Pflegediensts eingeschleust. An diesem Forschungsdesign lässt sich also musterbeispielhaft die mögliche Vielschichtigkeit ethnographischer Erkundungen erkennen.

Bender und Schnurnberger beschäftigen sich in ihrem Dissertationsprojekt mit dem Sehverlust im Alter mittels einer wahrnehmungssensiblen Ausgestaltung der lebensweltlichen Ethnographie. Als Besonderheit stellt sich hier dar, dass Carsten Bender selbst seit seiner Jugendzeit eine erhebliche Einschränkung seiner Sehfähigkeit erfahren hat, was die beiden Forscher als befruchtend für ihre Zusammenarbeit wahrgenommen haben. Zu Beginn stand ein gegenseitiges verstehen Lernen im Vordergrund, was im Nachhinein zur Erkenntnisgenerierung beigetragen habe. Neben ethnographischen Alltagsbeobachtungen in Altenwohnheimen fanden explorative Interviews sowie Go Alongs statt.

Im Kapitel „Spezielle Methoden“ werden insbesondere Projekte dargestellt, bei denen Modifikationen oder Ergänzungen klassischer ethnographischer Herangehensweisen Einsatz gefunden haben.

Schröer und Hinnenkamp haben an der Hochschule Fulda im Masterstudiengang Intercultural Communication and European Studies ein Studienprojekt durchgeführt, bei dem die interkulturelle Zusammenarbeit anwendungsorientiert ethnographisch erforscht werden sollte. Hierzu eignet sich die Studierendenschaft dieses Studiengangs insbesondere, weil mehr als drei Viertel aus dem Ausland kommen. In einer Gruppenarbeit wurden die Studierenden aufgefordert Erinnerungs- und Beobachtungsprotokolle anzufertigen. Außerdem wurde eine 2,5-stündige Gruppensitzung akustisch aufgezeichnet. Neben Berichten der Studierenden erfolgte eine Analyse des erhobenen Materials in Zusammenarbeit mit den Lehrenden des Masterstudiengangs.

Ohne Bezug auf ein konkretes Forschungsprojekt weist Kunz im folgenden Beitrag auf die Vorzüge der Anfertigung von Log- und Tagebüchern hin. Im Falle ethnographischer Lebensweltanalysen sei das Selbstreportverfahren eine geeignete Form zur nachträglichen Erkenntnisgenerierung, auch wenn es an der Kopräsenz eines Forschers im Feld an sich fehle, biete es Vorzüge bei der anschließenden Auswertung des erhobenen Materials.

Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob einem Individuum Kreativität attestierbar ist, hat Albrecht sich in einem Forschungsprojekt mit der Analyse von audiovisuellem Datenmaterial beschäftigt. Anhand eines Workshops wurde Maschinenbaustudierenden eine Konstruktionsaufgabe gestellt, bei der mehrere Lösungsansätze dargelegt werden sollten. In einer Teilaufgabe war zudem der übliche Lösungsansatz ausgeschlossen. Nachdem eine teilnehmende Beobachtung und anschließende leitfadengestützte Interviews keine verwertbaren Ergebnisse herbeiführten, wurden die Workshop-Sitzungen audiovisuell aufgezeichnet. Hierbei ließ sich in methodischer Hinsicht vor allem feststellen, dass die Perspektive einer Kamera die Perspektive des Forschers bei der Datenauswertung um bestimmte Sinneseindrücke und die Tiefe von Gesagtem und Getanem beschneidet.

Kirchner und Betz gehen folgend auf die Verknüpfung von Ethnographie und Bildhermeneutik ein. Durch die Kombination bildhermeneutischer Methoden mit den Interpretierungsansätzen der lebensweltlichen Ethnographie ließen sich erhebliche Erkenntnisse im Feld generieren. Besonders in Zeiten sozialer Medien sei diese Methode interessant. Das Besondere an einer Bildinterpretation sei, dass das Bild als Datum eine quasi-natürliche Quelle ist, da die Forscher am Entstehungsprozess an sich nicht beteiligt seien.

Im Kapitel „New School?“ werden neue methodische sowie methodologische Aspekte vorgestellt, die auch auf andere Forschungsprojekte Übertragung finden könnten.

Zunächst weist Kirschner in einer „Lehnstuhl-ethnographischen“ Studie auf das neue Feld der internetbasierten Kommunikation hin. Hierbei konzentrierte er sich auf Live-Streams von Videospielenden und entdeckte diese als kleine soziale Lebenswelt, bei der die Besonderheit eine Delokalisierung des Handlungsraums der beteiligten Akteure sei. Zur Aufzeichnung wurde hierbei auf Screencapturing zurückgegriffen, was die nachträgliche Rekonstruktion relevanter Zusammenhänge ermögliche. Stärker als in klassichen ethnographischen Forschungsdesigns sei hier der Vollzug eigener Aktivitäten des Forschers gefragt, was eine Gratwanderung zwischen Teilhabe und professioneller Befremdung bedeute.

Unterfüttert durch mehrere Feldstudien statuieren Eisewicht, Emling und Grenz Anforderungen an den beobachtenden Teilnehmer in subjektiver Hinsicht. Demnach führe ein existenzieller Sog im Feld erst zum effektiven Weiterhandeln. Problematisch erweist sich häufig der Umgang mit gefährlichem Wissen, welches hieraus resultieren kann. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Forschungsethik ggü. Feldteilnehmern und der Bürgerpflicht des Forschenden. Zuletzt sei eine sozio-emotionale Bindung zwischen einzelnen Forschern in Forscher-Teams von hoher Bedeutung, um eine Umkehrung der Forscherinteressen zu vermeiden. Hierbei handle es sich letztlich um innere Barrieren, die es auszuhalten gelte.

Keller befasst sich im folgenden Beitrag mit dem Spannungsfeld zwischen Annährung und wissenschaftlicher Distanz im Feld. In ihrem Dissertationsprojekt kam es für Keller selbst zur freundschaftlichen Annäherung mit einer zu untersuchenden Protagonistin im Feld. Nach einer ersten Veröffentlichung der Forschungsergebnisse folgte sodann eine Distanzierung, woraufhin Keller einige Dilemmata ethnographisch Forschender zusammentragen konnte.

Anhand einer Studie im Rocker-Milieu konnte Schmid feststellen, dass ein Erfolg bringendes ethnologisches Forschungsdesign nicht nur Methoden der Sozialforschung erfordere sondern darüber hinaus auch extra-methodologische Aspekte nicht zu unterschätzen seien. Hierbei nennt Schmid zum einen in der Person des Forschers liegende Fähigkeiten, die nicht durch eine akademische Ausbildung vermittelt werden könnten. Andererseits müsse man sich bewusst machen, dass der Forschungserfolg auch von glücklichen sowie unglücklichen Zufällen geprägt sei.

Durch die verschiedenen Kurzvorstellungen ethnographischer Studien zeigt sich, wie vielseitig in diesem Bereich die Feldforschung sein kann und vor allem, mit welcher Varianz diese methodisch ausgestaltet ist. Trotz der Tatsache, dass sich Forschungsschwerpunkte und Thesen sowie deren theoretische Hintergründe oftmals erst während des Feldzugangs ergeben, trägt ein Methodengerüst zur Nachvollziehbarkeit bei. Je transparenter die Methode, desto valider das Ergebnis der Studie. Auch zeigt dieser Sammelband exemplarisch, dass auch noch im Feld in methodischer Hinsicht nachjustiert werden kann und teilweise sogar nachjustiert werden sollte. Die Beiträge geben einen für Forschende durchaus anregenden Querschnitt über die Möglichkeiten und vor allem auch Grenzen ethnologischer Forschung. Insbesondere die beiden letzten Kapitel zeigen im Gegensatz zur Standardliteratur neue Ansätze auf. Schön ist ebenfalls, dass sich einige dargestellte Forschungsprojekte auf Grundlage klassischer ethnographischer Studien und Literatur zu einem neuen und teils ergänzenden Blickpunkt empor heben.

Um auf die genannte Zielgruppe zurückzukommen, so lässt sich sagen, dass dieser Sammelband durchaus auch für den Nicht-Forschenden interessante Einblicke in die Sozialforschung gibt, sofern dieser sich mit dem sozialwissenschaftlichen Vokabular vertraut gemacht hat.

[1] Vgl. zur teilnehmenden Beobachtung: Splitter, Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme, in: Zeitschrift für Ethnologie 2001, S. 3 f.; Honer, Einige Probleme lebensweltlicher Ethnographie. Zur Methodik einer interpretativen Sozialforschung, in: Zeitschrift für Soziologie 1989, S. 297-312.

[2] Die dargebotenen Kurzzusammenfassungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen die methodischen Besonderheiten der Beiträge in aller Kürze hervorgehoben werden.

Rezensiert von: Marvin Weigert