Prozesse. Gerichtsberichte 1967 – 1969 – Uwe Nettelbeck – herausgegeben von Petra Nettelbeck

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Uwe Nettelbeck, herausgegeben von Petra Nettelbeck; Prozesse. Gerichtsberichte 1967 – 1969; 2015 Suhrkamp, Berlin, 189 Seiten, 19,95€, ISBN-13: 9783518424827; ISBN-10: 3518424823

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Der Band enthält eine Sammlung von Gerichtsreportagen, die der Journalist, Schriftsteller und Musikproduzent Uwe Nettelbeck in den sechziger Jahren für die Zeit verfasste. Herausgegeben wurde der Band von seiner Frau Petra Nettelbeck, nachdem der Autor im Jahre 2007 verstarb. Der Band versammelt Berichte über spektakuläre Gerichtsverhandlungen aus einer Zeit im Umbruch, die die Bundesrepublik Deutschland bis heute nachhaltig geprägt hat. Die späten sechziger Jahre markieren nicht nur den Beginn der RAF-Ära, sondern zeichnen sich durch den Wandel der kulturellen Werte und Moralvorstellungen aus. Die aufkeimenden Studentenproteste räumen mit dem geschichtlichen Erbe ihrer Eltern auf und stellen gleichermaßen die bestehende soziale Ordnung in Frage. Das vom wirtschaftlichen Aufschwung gekennzeichnet Nachkriegsdeutschland befindet sich in Aufbruchsstimmung, die in der Musik, der Mode und dem Film ihren Ausdruck findet. Gerade die konservative Justiz bildet hierzu den denkbar deutlichsten Gegensatz. Aus verständlichen Gründen steht sie nicht an der Spitze einer solchen Bewegung, ist es doch ihre Aufgabe, die bestehende soziale Ordnung aufrechtzuerhalten und vor Angriffen zu schützen. Gerade deshalb verkörpert sie aber alte und aus späterer Sicht möglicherweise überholte Wertevorstellungen besonders deutlich, die zur damaligen Zeit nach wie vor Teile der Gesellschaft bestimmen. Gerade diejenigen, die den Umschwung mit Argwohn betrachten, finden hierin Halt. Aus heutiger Sicht sind es Wertmaßstäbe aus einer vergangenen Zeit. Es ist aber gerade der Rückblick aus heutiger Perspektive, der uns dies so klar vor Augen führt. Nirgendwo sonst zeigt sich deshalb der Wandel der Zeit so deutlich, wie im Gerichtssaal. Die Berichte Nettelbecks bezeugen aus diesem Grund ein bedeutendes Stück deutscher Geschichte. Dies macht sie, fast fünfzig Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung, zu einer spannenden Lektüre, auch dann, wenn man dem Autor nicht in jeder Ansicht oder Wertung folgt. Mit kritischer Distanz teilt er dem Leser seine Beobachtungen mit, lässt ihn teilhaben am Verhandlungsgeschehen und beleuchtet auch die andere Seite, die der Täter und ihre Geschichte. Er bemüht sich, selbst abscheuliche Verbrechen anders zu betrachten und zeigt auf, dass die Wahrheit niemals eindimensional, niemals schwarz und weiß, niemals einfach ist. Statt auf das Große-Ganze, schaut er auf den Einzelfall, auf das Individuum. Damit ist er der Gesellschaft zur damaligen Zeit ein gutes Stück voraus. Nettelbeck zeigt so das Dilemma auf, das jeden Rechtsstaat auszeichnen muss und an dem sich bis heute im Grundsatz nichts geändert hat: „Das Strafgesetz ist nicht für einen, sondern für alle da. Nur trifft es eben immer einen Menschen, der keinem anderen gleicht, und richtet es stets über einen Fall, der ohne Beispiel ist“.

Rezensiert von: Rahel Weingärtner