„SOKO ASYL“ – Ulf Küch

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Küch, Ulf;
„SOKO ASYL“[1];
ISBN: 978-3-86883-862-6, 130 Seiten, riva Verlag, München, 2016, 16,99 € – als digitale Version 12.99 €

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Ulf Küch, Leiter der Braunschweiger Kriminalpolizei und Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK)[2], hat im Januar 2016 das Buch mit dem (bewusst provokant[3] anmutenden) Titel „SOKO[4] ASYL“ herausgegeben. Er bezieht sich explizit auf die Vorfälle in der Silvesternacht 2015 / 2016 in Köln und Stuttgart und in einigen anderen deutschen Städten und betont, das Buch sei gerade deshalb drei Monate vor dem eigentlich geplanten Veröffentlichungstermin des Verlags erschienen. Es be­schäftigt sich mit einem zur Zeit allgegenwärtigen Thema, welches jüngst bedeutsame kriminalpolitische (oftmals aber nur symbolische) Impulse im Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge und Asylbewerber auslöst, ohne dass hierfür schon eine wirklich umfassend belastbare statistische Bezugsgröße vorhanden wäre.

„Nicht erst seit den Vorfällen in der Silvesternacht stehen Flüchtlinge häufig unter Generalverdacht. Egal ob Vergewaltigung, Diebstahl oder Einbruch – für viele sind die vermeintlichen Täter schnell ausgemacht. Die tatsächliche Straffälligkeit von Flüchtlingen hat mit der Wahrnehmung vieler ängstlicher Bürger allerdings fast nichts zu tun“, schreibt der NDR in einer ersten Buchkritik[5] kurz nach dem Erscheinen.

Das Buch ist ein sehr praktischer (kein wissenschaftlicher) Erfahrungsbericht, nicht nur des Leiters der Soko in Braunschweig, sondern, und das spricht für die Kollegialität und Teamleistung dieser gemeinsamen kriminal- und schutz­polizeilichen Organisation, auch der meisten Soko-Mitglieder. Das macht das Lesen des prinzipiell kurzweiligen Buches aber zunächst etwas schwer, da es für zahlreiche Wiederholungen sorgt. Vielleicht wird dieser Umstand in den aufgrund der Verkaufszahlen zu erwartenden Neuauflagen noch ein wenig verbessert werden können.

Beschrieben wird am Beispiel der Landesaufnahmestelle Niedersachsen, welche in einem gewachsenen, bürgerlich unauffälligen Stadtteil von Braunschweig, in Kralenriede liegt, eine zunächst im Grunde jedenfalls momentan beinahe phänotypische Situation in der Republik. Die Einrichtung platzt aus allen Nähten, zahlreiche Menschen sitzen unter beengten Verhältnissen nahezu ohne Privatsphäre „aufeinander“ und warten viel zu lange auf die Erstantragsstellung zur Feststellung ihres aufenthaltsrechtlichen Status` und damit auf den Start in ein „neues Leben“ mit einer neuen Perspektive in einem zumeist völlig anderen kulturellen Kontext.

Hier liegt das Kernproblem, auf das Küch und seine Mitautoren mindestens indirekt eingehen und welches in den kommenden Jahren noch zahlreiche Sozialwissenschaftler zu Veröffentlichungen herausfordern wird. Kriminalität spielt nämlich in der großen Gruppe „der“ Flüchtlinge weit überwiegend keine nennenswerte Rolle[6]. Sie sind mit Ausnahme einiger weniger Gruppierungen nicht auffälliger („krimineller“) als die deutsche Wohnbevölkerung, auch wenn diese Botschaft einigen nicht gefallen will bzw. große Teile der Bevölkerung diese Nachricht nicht glauben möchte. Auch in Braunschweig stellten die Polizeibeamten ziemlich schnell ein „Auseinanderklaffen“ zwischen subjektiv empfundener Unsicherheit und objektiver Sicherheitslage fest. Die Neuan­kömmlinge versuchen verständlicherweise der unangenehmen Unterbringungs­situation zu entfliehen. Sie gehen deshalb ins Freie, auf die Straße, sie treffen sich in großer Zahl an öffentlichen Orten, fahren (neugierig auf ihr neues Umfeld) mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt (mitunter ohne Fahrkarte, was nach Strafantrag der Verkehrsbetriebe auch für deren unnötige Kriminalisierung sorgt), versuchen erste Kontakte zu den neuen Nachbarn zu knüpfen. Die meisten Ankömmlinge sind aber kulturell anders „geprägt“ und so entstehen, in Verbindung mit den üblichen Problemen bei (größeren) Menschen­ansammlungen, wie z. B. nur Schmutz und Lärm[7], Un­sicherheitsgefühle in der Wohnbevölkerung, die z. T. in offene Ablehnung münden.

Küch und seine Mitautoren schildern dies sehr eindrücklich. Buslinien sind nach dem Empfinden der „Einheimischen“ plötzlich überfüllt, die Bushaltestellen von Menschengruppen ständig belegt, in den Supermärkten sind Verpackungen in den Regalen aufgerissen (aber zum großen Teil nicht, weil die Menschen Essen stehlen wollten, sondern weil sie aufgrund von Sprach- oder Leseschwierigkeiten schlichtweg nicht wissen, was sich in den Verpackungen befindet), vereinzelt verrichten Menschen (z. T. mangels anderer Möglichkeit!) ihre Notdurft in Vorgärten usw.. Die Autoren geben uns einen Vorgeschmack auf das, was uns die zahllosen ehrenamtlichen Helfer bisher vergeblich mitzuteilen versuchten. Die überall in der Republik positiv gestaltete „Willkommenskultur“ in der Phase 1 seit Juli 2015 muss nun schnell in die Phase 2 „Integration“ übergehen. Gerade hier stößt die zurecht vielgerühmte deutsche Verwaltungsgründlichkeit im Moment aber vielerorts an Grenzen. Dieses Thema birgt den eigentlichen gesellschaftlichen Sprengstoff, nicht die in Relation betrachtet wenigen Kriminellen, die in jeder größeren und inhomogenen gesellschaftlichen Gruppierung zu finden sind. Man muss sich der Flüchtlinge intensiv annehmen und man muss den großen Teil der im Moment noch „unbeteiligten“ Bürgerinnen und Bürger mitnehmen bei dieser Mammutaufgabe.

Polizeilich kann diese mit Standardmethoden „kommunaler Kriminalprävention“, also vor allem der Vermittlung des Gefühls, die Gemeinde und die Sicherheitsbehörden kümmern sich um die Probleme, relativ einfach begleitet werden. Um im o. g. Bilde zu bleiben, die Veranstaltung von Stadtteil­versammlungen mit dem Bürgermeister, dem Polizeichef sowie leitenden Mitgliedern der „Flüchtlingsaufnahmeein­richtung“, das Erhöhen des Bustaktes, das Aufstellen zusätzlicher Müllbe­hälter und mobiler Toilettenhäuschen, das Verbessern der Beleuchtungssituation zur Nachtzeit, die Einrichtung von W-LAN-Hotspots für Flüchtlinge (häufig deren einzige Möglichkeit, mit der Verwandtschaft und der Familie in der Heimat kostengünstig in Verbindung zu bleiben, der Einsatz von mehrsprachigem „Sicher­heitspersonal“ in Supermärkten, deren Aufgabe nicht nur darin besteht, Ladendiebstähle zu verhindern, sondern die, wie in Braunschweig berichtet, auch Verpackungsinformationen für fremdsprachige Flüchtlinge übersetzen helfen, kurzum, das Herstellen von Nachbarschaft über Information und das Erzeugen von sozialer Kohäsion im Stadtteil. Eine sehr anspruchsvolle, aber alternativlose (!) Aufgabe.

Küch begeht nach seinen Aussagen andererseits aber das Sakrileg, die Dinge beim Namen zu nennen. Ich finde nicht, dass dies ein Sakrileg darstellt. Für einen Landesbeamten ist dieser Vorstoß aber sicher mutig zu nennen, die Dinge akzentuiert (manchmal etwas polemisierend, aber das sei dem Gewerkschafter erlaubt) aber grds. ausgewogen zu thematisieren. Im Kern liefert er in einer momentan auch informationsgeleitet unsicheren Zeit erste wichtige Einordnungshilfen aus der Praxis. Die eigens eingerichtete Soko verfolgt nämlich genau diese wenigen, z. T. massiv auffälligen, mitunter auch ethnisch identifizierbaren Straftäter / Gruppen, zum größten Teil ohne echte aufent­haltsrechtliche Bleibeperspektive, die vor allem zahlreiche (auch schwerere) Eigentumsdelikte (mitunter unter Gewaltanwendung) begehen, konsequent. Sie deckt dabei auch vorhandene (bei dieser Gruppe auch kriminogen wirkende) Verwaltungsdefizite (verspätete Registrierung, ungesicherte Einkaufsgutscheine etc.) auf. Dabei werden auch strafprozessual häufig ungenutzte Instrumente wie z. B. das beschleunigten Verfahren (§§ 417 ff. StPO) genutzt und konsequent, wo immer möglich, mit dem Instrument der „Untersuchungshaft“, §§ 127 Abs. 2 i. V. m. 112 f. StPO, in enger Abstimmung mit der Justiz gearbeitet. Diese Botschaft kam schon nach kurzer Zeit (die Soko wurde erst im Spätsommer 2015 gegründet) offenkundig auch bei dieser Klientel wie auch der Bevölkerung an und zeigte Wirkung.

Ein interessanter Weg und eine, wenn auch gelegentlich stilistisch noch etwas holprige Zustandsbeschreibung aus Braunschweig, die lesens- und empfehlenswert ist.

[1] https://www.m-vg.de/riva/shop/article/3976-soko-asyl/

[2] http://www.bdk-niedersachsen.de/

[3] Die Soko ist kurze Zeit nach ihrer Gründung deshalb in „Soko ZERM“ („Zentrale Ermittlungen“) umbenannt worden.

[4] Sonderkommission

[5] NDR_Buchkritik Küch

[6] http://www1.wdr.de/nachrichten/fluechtlinge/kriminalitaet-zuwanderer-100.html

[7] In diesem Zusammenhang sei allen Misanthropen der Besuch einer Musikveranstaltungsstätte nach einem großen Konzert empfohlen, bei dem schon aus Kostengründen sicher nur ganz wenige Flüchtlinge zugegen sein werden.

Rezensiert von: Holger Plank