Dominik Brodowski – Verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen im Polizei- und Strafverfahrensrecht. Zur rechtsstaatlichen und rechtspraktischen Notwendigkeit eines einheitlichen operativen Ermittlungsrechts

348) Brodowski, Dominik[1]; „Verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen im Polizei- und Strafverfahrensrecht. Zur rechtsstaatlichen und rechtspraktischen Notwendigkeit eines einheitlichen operativen Ermittlungsrechts“[2]; (ISBN: 978-3-16-154302-9, 649 Seiten, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, Band 119 der Reihe „Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen“ (TübRA), Band 119, 2016, 128.- €)

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Dr. Dominik Brodowski ist (Straf-)Rechtswissenschaftler, Lehrbeauftragter im Masterstudiengang „Digitale Forensik“ an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Burchard[3] in Frankfurt a. Main, der sich dort z. Zt. intensiv dem Projekt „OpenC3S“[4] auf dem Gebiet der CyberSecurity widmet.

Er beschreibt in seiner Dissertation, herausgegeben als 119. Band der bei Mohr Siebeck erscheinenden Schriften­reihe „Tübinger Rechtswissenschaftliche Ab­handlungen“ (TübRA)[5], die (dogmatische) Notwendigkeit eines einheitlichen operativen Ermittlungsrechts zur Abkehr von einer – bloß vermeintlichen, in der Ermittlungspraxis längst faktisch entfallenen – Trennung zwischen polizeilicher Prävention und strafrechtlicher (staatsanwaltschaftlich geleiteter) Repression. Konsequenter Weise plädiert er deshalb für eine Auflösung der im Moment ermittlungsauslösenden „rechts­staatlich bedenklichen Gefahrenlage“.

„Das Recht verdeckter technischer Überwachungsmaßnahmen ist seit geraumer Zeit in stetigem Fluss, meist getragen von einer expansiven Tendenz.“

Dies führt in zunehmender Weise zu einer bedenklichen Überlappung polizei- und strafverfahrensrechtlicher Überwachungsbefugnisse. So wird die Praxis des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in der Tat zuneh­mend faktisch von der Polizei dominiert [6] (u. a. mittels zahlreicher inzwischen eigenständig in unterschiedlicher Ausprägung in den Ländern und im Bund polizei­rechtlich gere­gelter „verdeckter Überwachungs­maßnahmen“, z. B. im Rahmen der sehr weitreichenden Gefahren­vorsorge). Der Begriff des poli­zei- bzw. gefah­renabwehrrechtlich verantwortlichen „Gefahren­verursachers“ (Verhaltensstö­rers) und des „straf­ver­fahrensrechtlich Beschuldigten“ ist deshalb in der Rechtspraxis nicht mehr ausreichend klar voneinander zu trennen und eröffnet den Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der Polizei, eine weitreichende deutungs- und auslegungsoffene „Spielwiese“.[7] Dieser dogmatisch bedenk­lichen Situation – einer inzwischen mangels hinreichend kla­rer Abgrenzungsregu­larien nur schwer eindeutig auflösbaren „Gemengelage“ – widmet sich die umfäng­liche, sehr exakte und facettenreiche Arbeit des Verfassers im Rahmen eines funktionalen Rechtsgebietsvergleichs (im fünften Hauptkapitel sogar in einer erweiterten europäischen Perspektive). Dabei werden alle die Erforschung des zugrunde liegenden Sachverhalts initiierenden sachlichen Anordnungs- und Verfahrensfragen, wie die Prüfung der „Doppelfunktionali­tät“ (qualifizierter strafprozessrechtlicher Verdacht / quali­fizierte polizei­rechtliche Gefahr) denkbarer Maßnahmen, der zeitliche Anwendungsbereich, der Adres­satenkreis, Anordnungsbefugnisse, Transformationsklauseln für die im Rahmen der Maßnahmen gewonnenen Erkenntnisse und personenbezogenen Daten für Zwecke des jeweils anderen Regelungsgebietes sowie die Prüfung der Frage, ob es zwischen den beiden Rechtsgebieten ein tauglicher Abgren­zungsmaßstab vorhanden ist, ausführlich dargelegt.

Das Werk ist nach einer umfangreichen Einführung mit dezidierter Problembeschreibung und der Erläuterung der Forschungsmethodik und des Untersuchungsgangs in die vier deskriptiven Hauptkapitel

  • Polizeirechtliche verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen
  • Strafprozessuale verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen
  • Synthese: Eine rechtsstaatlich und rechtspraktisch bedenkliche Gemengelage
  • Der rechtshilferechtliche und europäische Rahmen für verdeckte technische Überwachungsmaßnahmen

gegliedert. Im fünften Hauptkapitel

  • Hin zu einem einheitlichen operativen Ermittlungsrecht

werden Leitfragen zur Regulierung des dargestellten Problematik de lege ferenda formuliert.

Im Ergebnis des zweiten Kapitels stellt Brodowski dabei beispielsweise zutreffend heraus, dass rechtmäßig auf präventiv-polizeilicher Grundlage (verdeckt) erhobene personenbezogene Daten im späteren Strafverfahren mindestens als „Spurenansatz“ umfänglich verwendbar sind, z. B. um weitere (ggf. offene) Maßnahmen begründen zu helfen, auch wenn das Strafprozessrecht keine vergleichbaren Ermittlungsbefugnisse vorsieht oder diese etwa im Vorfeld eines Anfangsverdachts nach § 152 Abs. 2 StPO noch nicht zur Verfügung stehen. Bei der Würdigung derart gewonnener Erkenntnisse unter den Maßstäben des „hypothetischen Ersatzeingriffs“[8] kommen sie in vielen Fällen aber auch zu unmittelbaren Beweiszwecken in Frage. Es gibt nur wenige strikte Verwendungsverbote, etwa im Rahmen von Maßnahmen unter Eingriff in die Sphäre des Art. 13 GG. Diese Konversion, bewusst oder unbewusst durch Ermittlungsbehörden veranlasst, ist bedenklich und bedarf umfassender (strafrechts-)wissenschaftlicher Würdigung. Der Prüfungsmaßstab des § 161 Abs. 2 StPO z. B., wonach die Anordnungsvoraussetzungen für die korrespondierende strafprozessuale Maßnahme nicht bereits zum Zeitpunkt der Datenerhebung, sondern erst zum Zeitpunkt der Datenverwendung vorliegen müssen, stellt bei Katalogtagen jedenfalls eine allenfalls geringe „Konversionsschwelle“ dar.

Sehr lesenswert sind die vom Autor entwickelten „Leitfragen der Regulierung verdeckter technischer Überwachungsmaßnahmen“ im sechsten Teil. Auf diese Weise versucht der Autor wesentliche Fragen, wie die operative Bewertung einer straftatbezogenen Situation oder die klare Definition des Adressatenkreises, einer Einhegung seiner entwickelten einheitlichen Grundkonzeption eines einheitlichen operativen Ermittlungsrechts zu klären. Hierbei bedarf es vor allem einer eindeutigeren Benennung präventiver wie auch repressiver Aufklärungsziele. Der Autor kommt hier ferner zu der Feststellung, dass die Länder schon jetzt eine legislative Möglichkeit hätten, den Staatsanwaltschaften eine Gesamt­verantwortung sowohl bei der Benach­richtigung als auch bei der behördlichen Anordnung oder Beantragung von Ermittlungsmaßnahmen zu übertragen und die gerichtlichen Zuständigkeiten sowie das anzuwendende Verfahren zu vereinheitlichen.

Die abschließende Schlussbetrachtung enthält eine aufeinander aufbauende, prägnante Zusammen­fassung wesent­li­cher Ergebnisse der Untersuchung und letztlich einen deutlichen Hinweis darauf, dass die allgemein anerkannte „Lehre von der Doppelfunktionalität“ sich sowohl in der Anordnungsphase als auch in Bezug auf den nachträglichen Rechtsschutz als untauglich erweist. Aus der Doppelung und parallelen Anwendbarkeit der Rechtsgrundlagen, so der Verfasser, resultieren erhebliche rechtsstaatliche wie rechtspraktische Gefahren und die staatsanwaltschaftliche Sachleitungsbefugnis im Strafverfahren wird durch diese bedenkliche Vermengung zweier Regelungsmaterien unterminiert. Auch die vorherrschend vertretene, aber faktisch wirkungslose Schwerpunkttheorie behebe diese Mängel nicht.

Deshalb plädiert der Autor dafür, entweder im Rahmen einer „großen Lösung“ dem Bund die Kompetenz zur Abwehr von Straftaten im Rahmen eines „einheitlichen operativen Ermittlungsrechts“ zuzuweisen. Damit würde der Staatsanwaltschaft die Verantwortung für die operative Führung der Ermittlungen auch im erweiterten Straftatenvorfeld zugewiesen werden. So könne eine einheitliche justizielle Kontrolle erreicht sowie die Eingriffsbefugnisse aus den bislang sich überschneidenden Rechtsgebieten kohärenter und restriktiver gestaltet werden. Allerdings würde damit mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz gebrochen, dass Polizei- und Gefahrenabwehrrecht nach dem „Regel-Ausnahme-Prinzip“ des Art. 70 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 30 GG ausschließlich Ländersache ist (vgl. auch RiStBV Anlage A lit. A 2. Absatz). Als alternative „kleine Lösung“ bietet der Verfasser aufgrund des zu erwartenden und kaum auflösbaren Widerstands der Länder deshalb an, verdeckte Ermittlungsmaßnahmen zur Straftatenvorsorge mittels einer „Konvergenz-, Koordinations- bzw. Kooperationslösung“ weitergehender als bisher aufeinander abzustimmen und die Staatsanwaltschaft bei der Vornahme polizeirechtlicher verdeckter technischer Überwachungsmaßnahmen zeitgerecht vorab mit einzubeziehen, wie dies de lege lata wohl nur bei § 23a Abs. 7 des Zollfahndungsdienstgesetzes (ZFdG) explizit in dieser Deutlichkeit vorgesehen ist. Diese (kleine) Lösung würde zwar den präventiven Rechtsschutz und die nachträgliche Rechtskontrolle allenfalls unzureichend vereinheitlichen helfen. Es ließe sich jedoch wenigstens die Zuständigkeit desselben Spruchkörpers bei demselben Gericht herstellen und so „ein Forumshopping“ vermeiden.

Letztlich sei der Gesetzgeber angesichts dieser rechtspraktisch bedenklichen Entwicklung aufgefordert, eine grundlegende Reform des Strafverfahrens, insbesondere des Rechts des Ermittlungsverfahrens, vorzunehmen, um den damit verbundenen Idealen eines liberalen, demokratischen Verfassungsstaates, insbesondere der Gewährleistung von Freiheitsräumen der Bürger, der Achtung der Beschuldigtenrechte und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit (vor allem durch die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit der Mittel) gerecht zu werden. Diesem Ideal, insbesondere im Bereich der Überlappung präventiver und repressiver verdeckter technischer Überwachungsmaßnahmen, wird der zwar kriminalpolitisch vorbildlich durch eine namhafte Expertenkommission im Auftrag des BMJV erarbeitete und liberal gestaltete Entwurf einer umfassenden Reform des Strafprozessrechts[9] aber im Moment sicher noch nicht ausreichend gerecht.

Die Beweisführung von Brodowski ist thematisch außerordentlich komplex, deshalb sehr umfänglich beschrieben, dennoch sehr akzentuiert aufgebaut. Sie ist angesichts der dargestellten Problematik folgerichtig entwickelt und deshalb gut nachvollziehbar. Es bleibt ihm nur zu wünschen, dass seine dogmatisch folgerichtigen Schlüsse nicht nur in der Strafrechtswissenschaft sondern auch in der Anwendungspraxis der Strafverfolgungsbehörden wahrgenommen und dort auch kritisch reflexiv diskutiert werden. Deshalb gehört dieses Buch gleichermaßen (und unbedingt) in die Bibliotheken der Polizeihochschulen, der Justizverwaltungen wie auch der rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten.

Dem Autor ist eine ohne Zweifel (strafrechts-)wissenschaftlich sehr ansprechende Arbeit und daher ein sehr passendes Werk für die ohnehin hochwertige Schriftenreihe „Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen“ des Verlagshauses Mohr Siebeck gelungen.

[1] https://www.jura.uni-frankfurt.de/58638119/Dominik-Brodowski

[2] Siehe Hinweis auf der Verlags-Website von Mohr Siebeck

[3] Prof. Dr. Christoph Burchard, LL.M. (NYU), Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität Frankfurt a. Main und „Principal Investigator“ am „Exzellenzcluster „Normative Orders“ an der GU Frankfurt.

[4] „Open Competence Center for Cyber Security“ , die größte Aus- und Fortbildungsinitiative im deutschsprachigen Raum auf dem Gebiet der Cybersicherheit, die es sich u. a. zum Ziel gesetzt hat, Online-Studiengänge auf dem Gebiet der Cybersicherheit zu entwickeln.

[5] Verlag Mohr Siebeck, Schriftenreihe „Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen“

[6] An anderer Stelle vom Autor deswegen auch als „Verpolizeilichung des strafrechtlichen Er­mittlungsverfahrens“ bezeichnet. Dies impliziert zahlreiche Fehlerquellen im Ermitt­lungsverfahren, wie auch Püschel, StraFo 2015, Heft 7, S. 269 ff. (275) sehr eingängig am Beispiel der tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft auf das Ermittlungsverfahren (trotz Sachleitungsbefugnis) darstellt.

[7] Was der Autor darauf zurückführt, dass sich inzwischen erhebliche Schnittmengen zwischen zunehmend operationalisierten strafverfahrensrechtlichen (verdeckten tech­nischen) „Vor­feld­ermittlungen“ und polizeirechtlichen (verdeckten technischen) Über­wachungs­maßnah­men ergeben haben.

[8] Vgl. als Abgrenzungsbeispiel dieser Begründungsfigur das Urteil BGH 3 StR 552/08 vom 14. August 2009 (OLG Düsseldorf), welches Verwendungsregelungen am Beispiel des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (akustische Wohnraumüberwachung) unter dem Vorbehalt polizeirechtlich rechtmäßig erhobener Daten definiert.

[9] 13. Oktober 2015, „Expertenkommission übergibt Bundesjustizminister Maas Abschlussbericht zur Reform des Strafprozessrechts“

Rezensiert von: Holger Plank