Katharina Krämer – Individuelle und kollektive Zurechnung im Strafrecht

349) Krämer, Katharina[1]: „Individuelle und kollektive Zurechnung im Strafrecht“[2]; (ISBN: 978-3-16-154310-4, 416 Seiten, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, Band 2 der Reihe „Studien und Beiträge zum Strafrecht“, 2015, 79.- €)

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Dr. Katharina Krämer ist (Straf-)Rechtswissenschaftlerin und derzeit wissen­schaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Heiner Alwart an der Rechts­wissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

Sie hinterfragt in ihrer Dissertation, herausgegeben als 2. Band der bei Mohr Siebeck erscheinenden Schriften­reihe „Studien und Beiträge zum Straf­recht“[3],

die klassische individualistische Natur der strafrechtlichen Zurech­nungs­lehre systematisch im Rahmen einer Mehrebenenbetrachtung von mikro- über makro- hin zu mesokriminellen Strukturen auf das Vorhandensein bzw. die Notwendigkeit einer dogmatischen Erweiterung des Strafrechts um kollektive Zurechnungs­anteile.

In einer zunehmend globalisierten und arbeitsteilig gestalteten Gesellschaft wirken bei einer Vielzahl von Prozessen Individuen (gemeinschaftlich – nicht nur unter dem Dach komplexer Organisationen bzw. Unternehmen) zusammen und richten dabei auch (gemeinschaftlich) strafrechtlich relevanten gesamtgesellschaftlichen Schaden an. Die Autorin untersucht derartige, häufig unübersichtliche Dimensionen kollektiver Verflechtungen im wirtschaftlichen, politischen und so­zialen Bereich aus strafrechtsdogmatischer Perspektive.

„Das Strafrecht dient der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Will das

Strafrecht seine Aufgabe erfüllen, muss es diesem Selbstverständnis der Menschen (und den sozialen, den gesellschaftlichen Gegebenheiten) Rechnung tragen.“ [4]

Während bei „mikrokriminellen Geschehenszusammenhängen eine Einzel­tä­terbetrachtung nach den herkömmlichen Zurechnungsstrukturen ohne über­mäßige Schwierigkeiten erfolgen“ könne, weil hierbei der „Einzelne als Zu­rech­nungs­endpunkt im Mittelpunkt steht“ und für einen Taterfolg strafrechtlich verantwortlich[5] ist, funktioniere dies bei „kollektiven Ver­brechenskon­stel­lationen“ der „Makro- und Mesokriminalität“[6] nur bedingt, meist alleine schon wegen der Schwierigkeit, die Anteile eines einzelnen Urhebers aus den komplexen Fehlverhaltensschemata vielfältig verzweigter Organisationen herauszulösen.[7] Dies sei vor allem bei Organisationen mit hochkomplexen und vielseitig vernetzten Strukturen, in denen Arbeitsabläufe zwar entscheidend vereinfacht seien, welche jedoch kaum noch klare personale Zuständigkeiten erkennen lassen, der Fall. In solchen Gebilden können bereits minimale Handlungsimpulse zu einem komplexen Handlungserfolg beisteuern, welcher dann ökonomisch, ökologisch oder sogar gesamtgesellschaftlich ver­heerende Schäden herbeizuführen in der Lage ist.[8] Wenn diese nicht mehr eindeutig einer konkreten Person zugeordnet werden können, muss eine Strafbarkeit ausscheiden, was aufgrund von Dezentralisierung und Kompetenz­aufteilung ge­rade bei solch komplex organisierten Verbänden trotz enormer Schäden denkbar erscheint und deshalb rechtsstaatlich höchst bedenklich ist.

Das Werk ist nach einer kurzen Einführung mit Problemaufriss und Zielsetzung in drei Hauptkapitel gegliedert:

  • Propädeutikum zur strafrechtlichen Zurechnungslehre (in dem sie über strafrechtsgeschichtliche Anleihen den aktuellen individuellen Schuld- und Zurechnungsbegriff herausarbeitet und dogmatische Widersprüche kollektiver strafrechtlicher Verantwortung im Individualstrafrecht aufzeigt; obwohl die moderne Strafrechtsdogmatik das Individuum in den Mittelpunkt der strafrechtlichen Beurteilung stellt, stellt sie gleichwohl „bei weitem Verständnis der Vorbegriffe und der Aufgabe des Strafrechts“ keine „unumstößlichen Weichen­stellungen auf individuelle Zurechnungs­strukturen“ fest, mithin könne also schon de lege lata dogmatisch sowohl eine individuelle wie auch eine kollektive Zurechnung begründet werden)
  • Individuelle Zurechnung und deren Modifikationen in kollektiven Kontexten – eine Mehrebenenbetrachtung über Mikro-, Makro- und Mesokriminalität

Im dritten Hauptkapitel, gleichzeitig ein (wenn auch recht kurzes) Schluss­kapitel,

  • Ganzheitliches Zurechnungskonzept im Spannungsfeld individueller und kollektiver Zurechnungs- und Verantwortungsstrukturen

nimmt die Autorin Bezug auf zahlreiche andere Arbeiten zu diesem Thema, insbesondere zur Notwendigkeit der Begründung eines „Unternehmensstraf­rechts“ und folgert, dass die de lege lata vorhandenen individuellen Zurech­nungsmodelle wie auch bereits vorhandene, modifizierte Begründungsfiguren, mithin jedoch allesamt geprägt durch ein „hyperindividualistisches Paradigma“, kaum eine angemessene strafrechtliche Ahndung solch kollektiver Tatverflechtungen ermöglichen. Eine ausschließlich individuelle Zurechnungs- und Verantwor­tungskonzeption gerät mit zunehmender Komplexität der Aktionszu­sammenhänge schnell an ihre Grenzen.[9]

Ohne eine gedanklich ab­geschlossene eigene Lösungsmöglichkeit zu entwickeln, stellt sie die Erforderlichkeit einer „komplexen Verantwortungs­matrix“ ans Ende ihrer Arbeit. Eine solche Matrix müsse „kollektive Elemente sowohl über korporative Verantwortungssubjekte von Grund auf integrieren als auch über kollektiv-kontextuale Zurechnungskriterien hinsichtlich der indivi­duellen Verantwortungssubjekte offen sein, sodass ein ganzheitliches Zurech­nungskonzept entstehen“ könne. Ein solches Konzept, „das auf mehreren Grundgedanken basiert, (könne dann ausreichend) mit den gesellschaftlichen Veränderungen und Erfordernissen Schritt halten.“

Die Beweisführung der Autorin, im zweiten Hauptteil der Arbeit am Beispiel einer Reihe von Tatbeständen des Besonderen Teils des StGB verdeutlicht, ist sehr komplex aufgebaut. Das zweite Hauptkapitel („der zweite Teil der Arbeit“) erstreckt sich über rund 250 Seiten mit einer Untergliederung der Zurechnung in einem mikro-, makro- und mesokriminellen Kontext. Die Zusammenfassungen im Rahmen der beiden letztgenannten Kontextualisierungen, fallen (obgleich Hauptbestandteile ihrer dogmatischen Argumentation) m. E. etwas zu knapp aus. Das gilt auch für den dritten Teil, die Schlussfolgerung, mit der Beschreibung einer notwendigen Entwicklung hin zu einem ganzheitlichen Zurechnungskonzept.

Die Arbeit ist dennoch sehr akzentuiert in ihren beiden Hauptteilen aufgebaut und hier argumentativ sehr schlüssig aufgebaut. Die Strafrechtswissenschaft erhält durch dieses Werk einen weiteren notwendigen Impuls. Man darf deshalb gespannt sein, wie diese Arbeit wissenschaftlich rezipiert werden wird.

Die Autorin bereichert mit dieser (strafrechts-)wissenschaftlichen Arbeit die neue Schriftenreihe „Studien und Beiträge zum Strafrecht“ des Verlagshauses Mohr Siebeck, in der zum Zeitpunkt der Rezension bereits weitere zwei Werke erschienen sind.

[1] Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Prof. Dr. Heiner Alwart

[2] Siehe Hinweis auf der Verlags-Website von Mohr Siebeck

[3] Verlag Mohr Siebeck, Schriftenreihe „Studien und Beiträge zum Strafrecht“ (neu begründet 2015): den Auftakt zu dieser Schriftenreihe bildete im Übrigen die Dissertation von Jeldrik Mühl von der RUB mit dem Thema „Strafrecht ohne Freiheitsstrafen – absurde Utopie oder logische Konsequenz“, besprochen unter der lfd. Nr. 319 im Polizei-Newsletter / Buchbe­spre­chungen, im Juni 2015.

[4] Dölling, 2012, S. 54 ff., „Zur Willensfreiheit aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht“, in Schneider, 2012, Positionen der Psychiatrie.

[5] Die „Verantwortung als mehrstelliger Relationsbegriff, umfasst mindestens die Sphären des Verantwortungssubjekts, des Verantwortungsbereichs und des Verantwortungsadressaten.“

[6] Im Übrigen nicht nur im Bereich eines in Deutschland nach wie vor nicht vorhandenen Unternehmensstrafrechts (vgl. auch Beitrag im Manager-Magazin vom Oktober 2015 zur VW-Affäre: http://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/unternehmensstrafrecht-was-deutschland-aus-dem-vw-skandal-lernen-sollte-a-1055661.html!) Wie lange hat es z. B. gedauert, bis so genannte Mitläufer (ein Diminutiv für Beteiligte bis in die höchste Ministerialbürokratie), lange Zeit als „undolose Werkzeuge“ behandelt, wegen ihrer Beteiligung an der Schoa zur Verantwortung gezogen wurden!

[7] Allerdings weist die Autorin zurecht darauf hin, dass in symmetrischen Hand­lungs­situationen, bei Mitverantwortlichkeit zu gleichen Anteilen am Gesamtgeschehen, jeder schuldhaft Beteiligte über die Mittäterschaft in gleicher Weise behandelt wird, hingegen bei asymmetrischen Tat- und Handlungsanteilen schon heute nach dem Beteiligungsgrad (Teilnahmestrafbarkeit) differenziert werden könne. Beide Varianten betrachtet sie aber dogmatisch korrekt unter individualistischer Perspektive. Sie unterscheidet hiervon die „kollektive Handlung“ (S. 79 f.) als Gegenstand der Verantwortungserwägungen, bei der eine „kooperative Verantwortung als Kombination von individuellen Handlungen, die von gemeinsamen kooperativen Absichten zusammengehalten wird“, zugrunde liege. Diesen Begriff einer „kollektiven Verantwortung“ entwickelt sie als Grundlage ihrer These weiter zu einer „korporativen Verantwortung“ im Sinne einer „zielorientierten, strukturierten, arbeitsteiligen Einrichtung mit eindeutiger Innen- und Außendifferenzierung“.

[8] Nach der Begründungskette der Autorin gilt hinsichtlich des Gesamtschadens dabei analog das Prinzip der „Conditio-sine-qua-non-Formel“, wonach jede einzelne Handlung diesen Erfolg zwar nicht hätte hervorbringen können, hingegen durch das Zusammenwirken enorme Schäden verursacht werden können, sodass der kausale Beitrag jeder einzelnen Handlung, wenn auch noch so gering, dennoch entscheidend für die Gesamtwirkung sei.

[9] Andererseits lässt sie an einigen Stellen ihrer Arbeit (vgl. z. B. nur S. 68) erkennen, dass sie von einer nur „scheinbaren Unvereinbarkeit“ von Individualstrafrecht und kollektiver Verantwortung ausgeht.

Rezensiert von: Holger Plank