Hannah Verena Stoffer – Wie viel Privatisierung „verträgt“ das strafprozessuale Ermittlungsverfahren?

350) Stoffer, Hannah Verena[1]; „Wie viel Privatisierung „verträgt“ das strafprozessuale Ermittlungsverfahren?“[2]; (ISBN: 978-3-16-153371-6, 637 Seiten, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen,  Band 125 der Reihe „Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht“ (VVerfR)[3], 2016, 99.- €)

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Dr. Hannah Verena Stoffer ist (Straf-)Rechtswissenschaftlerin. Sie arbeitet derzeit als (Probe­-)Richterin in der 3. Zivilkammer des LG Augsburg. Sie war studentische Hilfskraft, später wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtsphilosophie von Prof. Dr. Werner Beulke an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität in Passau[4] und begleitete Herrn Beulke nach dessen Laufbahn als Hochschullehrer als Mitarbeiterin in dessen Kanzlei.

Sie unterstützte im Rahmen ihres Referendariats im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Berlin auch die Geschäftsstelle der „Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens“.[5] Die vorliegende Arbeit wurde 2014 mit dem Promotionspreis der Rechtsanwalts­kammer München ausgezeichnet.[6]

Das Werk ist in drei Hauptteile gegliedert:

  • Teil 1 – Zur Ermittlungsbefugnis des Verteidigers und von Privaten mit der Kapiteluntergliederung
  • A – Private als Ermittlungshelfer der Verfolgungsbehörden
  • B – Strafprozessuale Public-Private-Partnerships (PPP) – Gängige Koopera­tionsformen zwischen Staat und Privaten in der straf­prozessualen Verfahrenspraxis
  • C – Zulässigkeit privater Ermittlungen auf eigene Initiative
  • Teil II – Der prozessuale Maßstab zulässigen Ermittlungshandelns durch Private mit der Kapiteluntergliederung
  • D – Umfassende Übertragung der strafprozessualen Grenzen hoheit­licher Beweisbeschaffung auf privates Vorgehen
  • E – Partielle Übertragung der hoheitlichen Ermittlungsgrenzen: Das Modell staatlicher Zurechnung privaten Handelns
  • F – Fallgruppen der Zurechnung privaten Handelns
  • G – Rechtsfolge der Zurechnung: Der an das zugerechnete Handeln anzulegende Maßstab
  • H – Beweisverwertungsverbot bei rechtswidrigen eigeninitiativen Pri­vat­­ermittlungen
  • Teil III – Anwendung in der Fallpraxis mit der Kapiteluntergliederung
  • I – Unternehmensinterne Ermittlungen
  • J – Staatlicher Ankauf von Steuerdaten-CDs
  • „Zusammenfassende Schlussthesen“.

Stoffer stellt als Ergebnis ihrer umfänglichen und sehr akzentuierten Darlegung in den Hauptteilen im Rahmen von insgesamt 49 Schlussthesen als Obersatz prägnant und zutreffend fest, dass die Funktions­tüchtigkeit des Strafverfahrens eine obligatorische Staatsaufgabe ist. Umfassende und ausgewogene staatliche Ermittlungen seien die Grundlage, hinreichend viele „wahre Tatsachen“ zur Beweiswürdigung im Strafprozess zu erheben. Nur so könne Strafrechts­anwendung in justizförmiger und gleich­mäßiger Weise sichergestellt werden.

Schon deswegen seien einer „Privatisierung[7] des Ermittlungsver­fahrens enge verfas­sungsrechtliche und strafprozessuelle Grenzen gesetzt. Die Staatsan­waltschaft müsse deshalb alle rechtserheblichen Entscheidungen mit Außen­wirkung selbst treffen und die zentralen, in der Regel grundrechts­relevanten Ermittlungsschritte selbst durchführen. Die Integration von Privatpersonen in staatliche Ermittlungshandlungen sei deshalb allenfalls eine Ausnah­me­erscheinung und müsse in diesen Fällen besonders gründlich beaufsichtigt und dokumentiert werden. Schon deshalb scheide eine „Beleihung“ privater Ermittlungshelfer praktisch aus. Die Zusammenarbeit stelle sich praktisch höchstens als „Verwaltungshilfe[8] dar.  In diesem Zusammenhang stellt die Autorin auch fest, dass bspw. staatlich eingesetzte „V-Personen“ in der Regel nur bei der Weitergabe spontaner Äußerungen Dritter an die Straf­verfolgungsbehörden im Rahmen der Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161 Abs. 1 / 163 Abs. 1 StPO gerechtfertigt seien. Alle anderen eingriffsintensiveren Maßnahmen bedürften (nach der Wesentlichkeitstheorie[9]) de lege ferenda einer eigenen spezialgesetzlichen Be­fugnis.[10]

Allerdings bestehe jenseits des staatlichen Ermittlungs- und Verfolgungs­mono­pols gewisse Spielräume für private Nachforschungen und Ermittlungen, selbstverständlich z. B. im Rahmen sachgerechter anwaltschaftlicher Mandatswahrnehmung. Dabei gebe es grds. auch keine Festlegungen eines „Rechts des ersten Zugriffs“ für staatliche Ermittlungsbehörden, allerdings könne eine Erstvernehmung (z. B. noch nicht bekannter Zeugen) durch einen Privatermittler den späteren Beweiswert des Zeugen erheblich mindern. Vorschriften der StPO sind dabei (auch in analoger Form) zumeist nicht anwendbar. Absolute Hindernisse fänden private Ermittlungen einerseits in den materiellen Strafgesetzen, andererseits z. B. im anwaltschaftlichen Standesrecht und im Bundesdatenschutzgesetz. Es dürfe keinesfalls zu einer „Usurpation“ des Ermittlungsverfahrens durch Private kommen. Dem müsse sich der Staat entschieden (z. B. über § 164 StPO – Festnahme von Störern oder § 132 StGB – Amtsanmaßung) entgegentreten.

Stoffer arbeitet in ihrer Dissertation sehr feinsinnig und außerordentlich exakt die Rechtsnatur privater Nachforschungen, denkbare Analogien strafpro­zes­sualer Vorschriften in diesem Themenfeld und Zurechnungsmaßstäbe für staatlich veranlasste oder geduldete private Erhebungen heraus und konstruiert daraus gut nachvollziehbare Verwertungsregeln (nicht nur für den auf einer Bewertungsskala eindeutigen Fall der Unverwertbarkeit wegen eines bewusst angelegten Täuschungsszenarios im Rahmen einer verdeckt angelegten, vernehmungsähnlichen Befragung durch einen Privaten, sondern vor allem auch für Grenzfälle, auch dann, wenn der Staat diese nicht veranlasst hat, aber in gewisser Weise prozessual von ihnen profitieren würde; sie stellt also auch einen gut nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen privater Rechts­verletzung und derart veran­lasster staatlicher Beweismittelverwertung her).

Sie legt darüber hinaus den salzigen Finger in die offene Wunde in die Natur und Verwertbarkeit der notwendig immer häufigeren (beauftragten – man denke nur an die Cyber-Forensik) Begutachtung durch forensische Sachverständige im Strafprozess und die damit verbundenen Fragen freier richterlicher Beweiswürdigung (§§ 244 ff., 261 StPO), der Nachvollziehbarkeit gutachterlicher Schlüsse und Fragen der Verwertbarkeit im Urteil.

Ferner entwickelt sie (am Rande ihrer Arbeit) verfahrensrelevante Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und unternehmensinternen Ermittlungen, der Zurechenbarkeit und der Verwertbarkeit derart gewonnener Erkenntnisse.

Sehr dezidiert legt sie sich in Bezug auf den Ankauf von privat-deliktisch erlangten Steuerdaten-CDs auf eine „hoheitliche Maßnahme“ fest, die nicht von der Generalermittlungsklausel der §§ 161 Abs. 1 bzw. 163 Abs. 1 StPO gedeckt sei und stellt eine „Umgehung völkerrechtlich vereinbarten Rechtshilfeverkehrs“ und des „Territorialprinzips“ fest, woraus alleine ein Beweisverwertungsverbot inklusive Fernwirkung folge. Ferner stelle die „systematische und kontinuierliche Belohnung der Beschaffung“ dieser Kontodaten deutscher Anleger im Ausland eine strafprozessuale Zurechenbarkeit zukünftigen privaten Verhaltens her.

Stoffer legt eine bemerkenswerte Arbeit vor, die nicht nur in punkto Umfang und Genauigkeit sondern auch argumentativ Maßstäbe für eine Dissertation setzt. Das Werk verdient deshalb gleichermaßen als (strafrechts-)dogmatisches Werk wie auch für seine gut verwertbaren Hinweise für die praktische Arbeit der Strafverfolgungsbehörden das Prädikat „unbedingt empfehlenswert“! Die Autorin bereichert mit dieser (strafrechts-)wissenschaftlichen Arbeit die Schriftenreihe „Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht“ (VVerfR) des Verlagshauses Mohr Siebeck, in der zum Zeitpunkt der Rezension vier weitere Werke angekündigt sind.

[1] http://www.beulke-strafverteidigung.de/hannah-stoffer

[2] Siehe Hinweis auf der  Verlags-Website von Mohr Siebeck

[3] Verlag Mohr Siebeck, Schriftenreihe „Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht“ (VVerfR)

[4] http://www.jura.uni-passau.de/bung/ehemaliger-lehrstuhlinhaber/

[5] Vgl. Abschlussbericht der Kommission, S. 13

[6] Pressemitteilung der Universität Passau vom 16.10.2014

[7]  Worunter sie eine Übertragung  von bisher vom Staat wahrgenommener Ermittlungstätig­keit, vor allem im Bereich der Informationserhebung und Beweisbeschaffung, auf Privat­personen versteht. Solche „Ermittlungshelfer“ (im Auftrag der Prozessparteien) könnten per se keine neutralen, sozialen, demokratisch legitimierten und dem Gemeinwohl verpflichtete Instanz sein. Sie verfolgten vielmehr einseitige eigene kommerzielle bzw. geldwerte Interessen, weshalb von ihnen nicht im gleichen Maße wie von Staatsbediensteten Objektivität erwartet werden könne.

[8]  Ein praktisches Beispiele, u. a. im Wege von „PPP-Projekten“, sei u. a. die kommunale Verkehrsüberwachung, bei der im Wege der Verwaltungshilfe von der zuständigen Gemeinde mittels Formulierung abstrakter Kriterien die Art der feststellbaren Sachverhalte konkretisiert werden, diese nachträglich überprüfbar bleiben und von Seiten der Gemeinde an diese kein Sanktionierungsautomatismus geknüpft werde. Aber auch private Sachverständige im Vorverfahren seien bloße Verwaltungshelfer. An deren Objektivität und Neutralität seien bei der Auswahl und der Bewertung ihrer Erkenntnisse im Prozess besondere Anforderungen zu stellen.

[9]    BVerfGE, 49, 89 – Kalkar I, Beschluss des Zweiten Senats, 2 BvL 8 / 77 vom 8. August 1978, Leitsatz 2. In Bezug auf V-Leute hat sich das BVerfG auch an anderer Stelle, z. B. in der Kammerentscheidung BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 01. März 2000, 2 BvR 2017 / 94,  grundsätzlich übereinstimmend hierzu festgelegt (es ging damals um ein Beweisverwertungsverbot einer durch den Einsatz einer V-Person gewonnenen Äußerung im Strafprozess. Allerdings hatte das Gericht zuletzt im Jahr 2014 (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2014, 2 BvR 209/14) keine durchgreifenden Bedenken gegenüber einer Verurteilung trotz rechtsstaatswidriger Tatprovokation – hier durch VE (das Gericht forderte allerdings eine Berücksichtigung der Umstände im Rahmen der „Strafzumessungslösung“). Diese Entscheidung muss heute wohl in einem völlig anderen Sicht betrachtet werden (vgl. Fn. 10).

[10]  Die staatliche Strategie, mittels privater Ermittlungshelfer (z. B. auch V-Personen) den formal geregelten Rahmen offener Ermittlungen zu verlassen, begrenzt die Recht­sprechung zunehmend durch die Figur der „Zurechnung“.  Hierzu bestehen grundsätzlich drei Fallgruppen, in denen die Autorin sogar eine zurechnungsbegründende Unterbindungspflicht gegenüber einer privaten Ermittlungstätigkeit annimmt, nämlich 1. bei Rechtswidrigkeit der privaten Ausforschungsmaßnahme, 2. wenn bestimmte Formen rechtswidriger Beweiserlangung zu Massenphänomenen werden und der Staat hiergegen trotz entsprechender kriminalpolitischer Notwendigkeit nicht im Wege der Normsetzung tätig wird und 3. im Rahmen staatlicher Gewährleistungsverantwortung für das strafprozessual rechtmäßige Vorgehen von V-Leuten (die bloße Regelung dieser Thematik in Richtlinien, vgl. vgl. Anl. D der RiStBV, widerspricht der Wesentlichkeitstheorie). Auf der Grundlage der Erkenntnisse der verschiedenen „NSU-Untersuchungsausschüsse“ des Bundestages und derer in einigen deutschen Landtagen ist diese Praxis nunmehr z. B. bereits im Bundesverfassungsschutzgesetz (hier § 9b BVerfSchG) seit Juli 2015 normativ geregelt. Gleiches schlägt die Expertenkommission zur Reform des Strafprozessrechts in ihrem am 13.10.2015 an BM Maas übergebenen Abschlussbericht für die StPO (vgl. Begründung S. 80 ff. des Berichts) vor. Hierzu gibt es im Übrigen bereits einen „Rohentwurf“ eines Gesetzes aus dem BMJV, in dem V-Personen grds. so genannten unter einer dauerhaft angelegten Legende ermittelnden Polizeibeamten (Verdeckte Ermittler) gleichgestellt werden würden. Bislang bereits vorhandene gesetzliche Normierungen beschränken sich i. d. R. aber nur auf Legaldefinitionen der V-Person (vgl. z. B. § 20g Abs. 2 Nr. 4 BKA-Gesetz oder § 21 Zollfahndungsdienstgesetz; landesgesetzliche z. B. in § 34 des Brandenburgischen Polizeigesetzes – BbgPolG). Eine gesetzliche Eingriffsermächtigung wird neben der verfassungsrechtlichen Komponente (vgl. Fn. 9) auch aus verschiedenen anderen Gründen unumgänglich sein, z. B. weil die im Rahmen einer „Anhörungsrüge“ vom 5. Strafsenat des BGH bestätigte Figur der „Strafzumessungslösung“ (vgl. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2013, 5 StR 240/13 – vgl. auch Leitsätze im HRRS-Newsletter Nr. 163, 2014)  bei einer Tatprovokation durch eine jüngere Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH (unter Vorsitz von Herrn Prof. Dr. Fischer), beeinflusst durch die jüngere Rechtsprechung des EGMR (Individual­beschwerde, Rechtssache F. gegen Deutschland, Az. 54648 / 09 vom 23. Oktober 2014) von einem Verfahrenshindernis bei rechtsstaatswidriger Tatprovokation ausgeht (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 2015, 2 StR 97/14 – LG Bonn). Wenn der Staat seiner Leitungs- und Kontrollfunktion nicht angemessen nachkomme, z. B. indem er Privaten allzu abstrakte Ermittlungsaufträge erteile oder V-Leute an der „langen Leine“ führe, führe dies im Rahmen der Abwägungslehre zu einer Unverwertbarkeit der erlangten Beweismittel.

Rezensiert von: Holger Plank