Niklas Luhmann – Der neue Chef

367) Luhmann, Niklas; Der neue Chef; Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jürgen Kaube; Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 120 Seiten, 10,00 €, ISBN 978-3-518-58682-2

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Welche Probleme bringt der Wechsel von Vorgesetzten mit sich? Und wer hat die Macht in einem Unternehmen, einer Organisation? Der Chef oder vielleicht die Untergebenen? „Der neue Chef“, herausgegeben und mit einem Nachwort von Jürgen Kaube, vereint drei Aufsätze von Niklas Luhmann. Sämtlich in den 1960er Jahren entstanden zeigen sie – teils unterhaltsam, ganz überwiegend aber streng analytisch – auf, wie komplex die Beziehungen zwischen Vorgesetzen und Untergebenen sind.Dabei bedient sich Luhmann nicht nur der organisationssoziologischen Erkenntnisse der damaligen Zeit, sondern auch seiner eigenen Erfahrungen, die er als Verwaltungsbeamter (1954 bis 1962) sammeln konnte, bevor ihn sein Berufsweg in das „nahezu vorgesetztenlose[…] Dasein“ eines Universitätsprofessors führte. Es ist eine Zeit, in der Luhmann wahrnimmt, wie Vorgesetzte Ungleichheit demonstrieren, indem sie Mitarbeiter mit der unter Kollegen nicht üblichen Anrede „Herr Kollege“ ansprechen, oder in der er „die Nervosität auf den Fluren der Ministerien [beobachtet], wenn die Wahlresultate bekanntwerden und ein neues Regime in Aussicht steht“.

Der neue Chef aber ist nicht minder nervös, kann er doch seinem Vorgänger zunächst nur formal im Amt nachfolgen, während ihm die in jeder Organisation existierende informale Ordnung mit ihren eigenen Regeln, persönlichen Erwartungen und Cliquen verborgen bleibt. „Fremdheit und mögliche Gegnerschaft beschränken seine Kontakte zunächst aufs formal Vorgeschriebene und dienstlich Notwendige.“ Entstammt der neue Chef hingegen der Organisation, fehlen ihm die Freiheiten, „die die Rolle als Fremder gewährt“. Erwartungen, die mit seiner alten Position verbunden sind, muss er zunächst enttäuschen, um der neuen Position gerecht zu werden. Und so sehen nicht nur die Untergebenen, sondern auch der Vorgesetzte einer „Periode der Unsicherheit“ entgegen, bis sich eine neue informale Ordnung herausgebildet hat.

Für die Frage des Machtverhältnisses zwischen Vorgesetztem und Untergebenen ist jedoch nach Luhmann die formale Ordnung maßgeblich. Keineswegs liegt die Macht einseitig bei dem Vorgesetzten: Während die Macht des Vorgesetzten darin besteht Konflikte förmlich zu entscheiden, etwa durch disziplinarische Maßnahmen, beruht die Macht des Untergebenen auf „der Komplexität der Entscheidungslage des Vorgesetzten. Dieser braucht Entscheidungshilfen, ist auf Vorsortierung angewiesen.“

Luhmann gibt Vorgesetzten und Untergebenen keine Gebrauchsanleitung für ein gedeihliches Miteinander an die Hand. Vielmehr überlässt er es dem Leser, aus den Aufsätzen Schlussfolgerungen für seine individuelle Situation zu ziehen. Dies gelingt dem Leser aber nur dann, wenn er sich von Sätzen wie „Einem Unbekannten und besonders einem unbekannten Vorgesetzten gegenüber kann man nur formal-legitime Situationsdefinitionen und Erwartungen zur Schau stellen“ nicht abschrecken lässt. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass dem Werk eine Arbeitswelt zu Grunde liegt, in der es weder Startups mit ihren flachen Hierarchien und weiten Entscheidungsspielräumen, noch Homeoffice, noch atypische Beschäftigungsverhältnisse gab. In der Folge erscheinen Luhmanns Ausführungen aus heutiger Sicht bisweilen verzerrt. An ihrer grundsätzlichen Gültigkeit ändert dies jedoch nichts.

Rezensiert von:Jörn Olhöft