Ben Rawlence – Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt.

368) Rawlence, Ben; Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt.; München 2016, 416 S., ISBN  978-3-312-00691-5, 24,90 Euro.

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Flüchtlinge. Für die Älteren unter uns waren das bis vor kurzem die Kriegsflüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg, und vielleicht noch die Flüchtlinge, die nach den Balkankriegen zu uns gekommen sind, inzwischen aber kaum mehr auffallen. Und darum geht es letztendlich bei dem Thema Flüchtlinge: Ab wann nimmt die Öffentlichkeit ein Fluchtproblem wahr, und ab wann glaubt die internationale Gemeinschaft, intervenieren zu müssen. Spätestens nachdem 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind und die EU sich nicht in der Lage sieht, dieses Problem anders als mit Grenzschließungen zu bewältigen, sind auch wir mit dem Thema direkt konfrontiert. Dabei wurde schon von Wissenschaftlern vor 20 Jahren darauf hingewiesen, dass Hunger und Dürre zu einem Massenexodus aus Afrika führen werden – nur dass niemand daran geglaubt und diese Überlegungen als Horrorszenarium abgetan hat. 2015 waren es keine Flüchtlinge, die primär vor Hunger und Dürre geflohen sind, sondern vor einem Krieg. Eine andere Ursache, die gleiche Wirkung. Menschen geben ihre Heimat auf, weil sie überleben wollen.

Dass weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, nehmen wir dabei kaum zur Kenntnis. Zu weit weg ist Afrika, zu sehr glauben wir noch immer daran, dass wir uns in Deutschland abschotten können. Dass dies auf Dauer nicht gelingen kann und wir daher uns an der Beseitigung der Fluchtursachen beteiligen müssen, haben inzwischen auch Politiker erkannt – nur fehlt es noch immer an Konsequenzen aus dieser Einsicht, denn Politiker denken zwar ab und zu einmal langfristig (um den Eindruck beim Bürger zu erwecken, dass man das „Große Ganze“ im Blick hat), handeln aber fast immer nur kurzfristig, inzwischen oftmals sogar sehr kurzfristig.

Das Buch ist eine Reportage über Dadaab, dieses größte Flüchtlingslager der Welt. Dort leben eine halbe Millionen Einwohner. Hierhin fliehen seit fast 25 Jahren Somalis vor Bürgerkrieg, Gewalt und Islamismus. Der Journalist Ben Rawlence hat sechs Flüchtlinge vier Jahre lang begleitet und mit „Stadt der Verlorenen“ ein eindrückliches Buch darüber geschrieben. Zu Beginn des Buchs sitzt Ben Rawlence 2014 im Weißen Haus. Er soll dem Nationalen Sicherheitsrat der USA erklären, was es mit Dadaab auf sich hat, dem größten Flüchtlingslager der Welt, mitten im dürren Nordosten Kenias. Doch die Schilderungen des Autors, der vier Jahre mit den vorwiegend somalischen Flüchtlingen von Dadaab verbracht hat, treffen auf Desinteresse – von Dadaab, so glaubt man, geht keine unmittelbare Terrorgefahr aus, daher muss man sich nicht darum kümmern. Das Überleben sichern die Vereinten Nationen. Das ist ja schließlich auch Aufgabe des UNHCR. Rawlence berichtet von einer wimmelnden Großstadt mit Kinos, mehreren Fußball-Ligen, Hotels und Krankenhäusern. Doch die Sicherheitsberater des US-Präsidenten haben nur ihr eigenes Bild im Kopf, ihnen geht es nur um Terroristen und potentielle Terroristen. Warum eigentlich, fragen sie, schließen sich die Flüchtlinge nicht alle der somalischen Terrormiliz Al-Shabaab an, die ihre Kämpfer so gut bezahlt?

„“Armut führt nicht zwangsläufig zu Extremismus“, sagte ich. Im Geiste sah ich die stolzen Imame vor mir, die ihre Traditionen gegen mörderische und verderbliche Einflüsse verteidigten; den entschlossenen Jugendvertreter Tawane, der sein Leben aufs Spiel setzte, um verschiedenste Angebote für Flüchtlinge aufrecht zu erhalten, nachdem Hilfsorganisationen aus Angst vor Entführungen Reißaus genommen hatten; Professor White Eyes, der im Lagerradio seine Berichte sendete. Wie konnte ich einen Eindruck von der enormen Würde, dem Mut und dem unabhängigen Geist dieser Menschen vermitteln, wenn sie in der Vorstellung der Politiker nur als potenzielle Terroristen existierten? „Sicher, sicher“, sagte die Referatsleiterin. Es gab keine weiteren Fragen, und die Sitzung wurde frühzeitig beendet“ (S. 9 f.).

Rawlence beschreibt diese Welt mit ihren eigenen Regeln anhand von Geschichten ihrer Bewohner. Und wenn man sich parallel die Bilder, die sich im Netz zu Dadaab finden ansieht (s.u.), dann kann man die Protagonisten des Buches „erleben“, wie sie sich in diesem Lager bewegen, welche Strapazen sie aushalten und wie sie ums Überleben kämpfen. Rawlence beschreibt auch, wie sie dorthin kommen, welche Verzweiflung sie umtreibt. Neben den individuellen Schicksalen, die dem „Problem“ ein Gesicht geben, geht es aber vor allem um das Scheitern der internationalen Gemeinschaft, die es zwar schafft, die Einwohner des Lagers mehr oder weniger am Leben zu erhalten, die aber über Jahrzehnte hinweg weder die Fluchtursachen angeht, noch sich mit der Zukunft der nach Dadaab Geflohenen beschäftigt.

Daddab liegt mitten in Afrika, zwischen Kenia und Somalia und ist das größte Flüchtlingslager der Welt – seit Jahrzehnten. Dadaab ist eine Großstadt. Viele der Bewohner sind hier geboren. Sie dürfen weder arbeiten noch das Lager verlassen. Insgesamt leben eine halbe Million Menschen hier, vor den Toren des Lagers kampieren weitere Zehntausende. Sie waren und sind auf der Flucht vor grausamen Shabaab-Milizen, vor dem Hunger und dem Bürgerkrieg. Kenia möchte dieses Lager längst auflösen, aber wohin mit den Menschen? Ben Rawlence hat sechs von ihnen begleitet. Er erzählt von ihrer Herkunft, ihren Träumen, ihren Strategien. Eine packende Reportage und paradoxerweise ein Zeugnis von großer Lebenskraft, wenn es auch im Ergebnis wenig Mut machen dürfte.

Der Autor beschreibt sein Buch wie folgt: Es „bietet einen Einblick in den seltsamen Schwebezustand des Lagerlebens durch die Augen jener, die mir Einlass in ihre Welt gewährt und mir ihre Geschichten erzählt haben. Niemand will zugeben, dass die als Zwischenlösung gedachten Lager von Dadaab zu einer dauerhaften Einrichtung geworden sind: weder der kenianische Staat, in dessen Gebiet sie liegen, noch die UNO, die sie finanzieren muss, und schon gar nicht die Flüchtlinge, die dort leben. Es ist eine paradoxe Situation, und die Flüchtlinge bewegen sich dementsprechend auf unsicherem Boden. In der Zwickmühle zwischen dem anhaltenden Krieg in Somalia und einer Welt, die sie nicht aufnehmen will, können die Menschen im Flüchtlingslager nur überleben, indem sie sich ein Leben in einem anderen Land vorstellen. Ein verstörender Zustand: Weder Vergangenheit noch Gegenwart, noch Zukunft sind für sie Orte, an denen ihre Gedanken sicher verweilen können. In Dadaab, der Stadt der Verlorenen, zu leben bedeutet, in der Falle zu sitzen und im Geiste ständig zwischen den eigenen unerfüllbaren Träumen und der albtraumartigen Realität hin- und herzuspringen. Kurz: Um hier zu leben, muss man vollkommen verzweifelt sein“ (S. 11 f.).

Wer mehr über das Lager erfahren und Bilder dazu sehen will, dem sei diese website des britischen Guardian empfohlen: Dadaab. The city you cannot leave: https://www.theguardian.com/global-development-professionals-network/2016/feb/01/dadaab-somalia-home-cannot-leave-refugees Oder auch die Seite des Deutschlandfunks: http://www.deutschlandfunk.de/stadt-der-verlorenen-leben-im-groessten-fluechtlingslager.1310.de.html?dram:article_id=349037

Vielleicht öffnen Buch und Bilder uns die Augen und wir hören auf uns vorzumachen, dass Deutschland eine Insel in einer Welt des weltweiten Umbruchs bleiben kann.
Rezensiert von: Thomas Feltes