Holger Wilcke – Illegal und unsichtbar? – Papierlose Migrant*innen als politische Subjekte – Rezensiert von: Karsten Lauber

Wilcke, Holger (2018): Illegal und unsichtbar?; Papierlose Migrant*innen als politische Subjekte; 280 Seiten, transcript Verlag, Bielefeld, ISBN 978-3-8376-4197-4 (Print), 29,99 € , 978-3-8394-4197-8 (pdf), 26,99 €

1.    Thema

Das Buch befasst sich mit dem Leben von Menschen, die sich ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland aufhalten. Die Bezugnahme auf Politik im Untertitel resultiert aus der theoretischen Rahmung, den Politikbegriff von Rancière für die „Analyse der Lebensbedingungen von Illegalisierten“ (S. 32) zu verwenden. Das Buch erscheint treffenderweise im Bielefelder Verlag transcript. Während der Verlagssitz Gegenstand der sog. Bielefeldverschwörung[1] ist und damit als nicht existent erscheint, sind die unsichtbaren Illegalen Realität.

2.    Autor

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung und Mitglied im Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Holger Wilcke promovierte mit der vorliegenden Arbeit zum Thema illegalisierte Migration und untersuchte die gesellschaftstransformatorischen Potentiale migrantischer Kämpfe[2].

3.    Aufbau

Das Inhaltsverzeichnis kann dem Katalog der Deutschen Nationalbibliothek entnommen werden.

4.    Inhalt

Die Einleitung der Arbeit beinhaltet bereits eine Zusammenstellung des Forschungsstandes. Nach Einschätzung des Autors lassen sich die dort genannten Arbeiten in zwei Bereiche aufteilen. (1) Arbeiten, die „das Themenfeld aus einer humanitaristischen Perspektive betrachten“ (S. 13) und (2) Studien mit kontrollpolitischer Orientierung. Das zweite Kapitel beinhaltet den theoretisch-methodischen Rahmen. Die Untersuchung basiert auf 28 Experteninterviews, teilnehmenden Beobachtungen und Dokumentenanalysen. Bemerkenswert ist, dass Interviews mit vormals Illegalisierten auch in deren Herkunftsländern geführt wurden, nachdem diese zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren mussten (S. 65). Das dritte Kapitel beschreibt, wie die Belange der Illegalisierten in die Gewerkschaften hineingetragen wurden und berücksichtigt dabei auch den Konflikt für die Gewerkschaften, die sich bis dahin vehement gegen Schwarzarbeit positionierten. Maßgeblich für die Einrichtung der gewerkschaftlichen Beratungsstellen für Illegalisierte war die Intervention auf dem Bundeskongress von ver.di im Jahr 2003. Ungeachtet der seitdem erreichten Verbesserungen (so können Illegalisierte inzwischen der Gewerkschaft beitreten) werden die bislang erzielten Erfolge als überschaubar beschrieben (S. 94). Kapitel 4 beinhaltet die empirischen Ergebnisse der Untersuchung. Im ersten Unterkapitel beschreibt der Autor verschiedene Aspekte der alltäglichen Lebenswirklichkeit, insbesondere die Kontakte zu Freunden und Familienangehörigen in den Herkunftsländern. Dabei wird immer wieder deutlich, welche Schicksale mit der Einwanderung nach Deutschland für getrennte Familien etc. verbunden sind, beispielsweise wenn versucht wird, sich über Skype in den familiären Alltag in einem afrikanischen Land einzuloggen. Das zweite Unterkapitel befasst sich mit Rassismus- und Sexismuserfahrungen in der Illegalität und verdeutlich anhand des Begriffs der „Deportability“ (S. 134 f) die Schwierigkeiten der „Umgangsstrategien“ (S. 132) und die eingeschränkte Beschwerdemacht aufgrund der fehlenden Papiere. „Deportability beschreibt die ständige Gefahr, „aus dem derzeitigen Leben gerissen zu werden“ (S. 135). Bereits eine Identitätsfeststellung als Zeuge oder eine anlassunabhängige Kontrolle, die nicht selten auf selektiven Kontrollentscheidungen der Polizei beruht, kann das illegalisierte Leben auffliegen lassen. Passend dazu beinhaltet dieses Unterkapitel Ausführungen zu den sog. gefährlichen Orten und Racial Profiling und deren Auswirkungen auf die Bewegungsfreiheit Illegalisierter. Das dritte Unterkapitel mit dem Titel „Arbeiten“ zeigt auf, wo und unter welchen Bedingungen Personen ohne Papiere tätig werden. Dazu zählen auch die Maßnahmen zum Schutz vor Arbeitskontrollen und Möglichkeiten des Widerstandes bei Konflikten mit den Arbeitgebern. Die Wohnsituation ist Inhalt des vierten Unterkapitels. Neben den rechtlichen Aspekten liegt ein Schwerpunkt in der Beschreibung der alltäglichen Wohnsituation, also dem Bemühen der Illegalisierten, beispielsweise gegenüber den Nachbarn nicht aufzufallen. Auch dieses Kapitel beinhaltet Formen des Widerstandes durch Illegalisierte in Bezug auf die Verhinderung von Mieterhöhungen. Die Bedeutung der medizinischen Versorgung im fünften Kapitel lässt sich mit dem ersten Abschnitt „Nicht krank werden!“ treffend beschreiben, doch die Bandbreite reicht weit darüber hinaus, wenn es um Schwangerschaften in der Illegalität oder verpflichtende ärztliche Untersuchungen für den Zugang zu Kindertagesstätten geht. Nach der Analyse der Bildungssituation, also der (vor-)schulischen Bildung, schließt das siebte Unterkapitel mit der Bedeutung migrantischer Solidarität das Kapitel ab. Das fünfte und damit letzte Kapitel analysiert die Handlungen der Illegalisierten auf der Grundlage des Politikverständnisses von Rancière und dem Konzept der „Imperceptibel Politics“ (S.236).

5.    Diskussion

Die Untersuchung lässt sich als kritische wissenschaftliche Arbeit einordnen. Eine wesentliche These des Autors ist es, die Illegalisierten nicht als Opfer ihrer Lebenssituation darzustellen, „sondern als aktiv handelnde Subjekte“ (S. 102), wobei als Handlung auch verstanden werden kann, „nicht auf Sichtbarkeit [zu] setzen“ (S. 236). Der Autor entschloss sich, die Interviews der Illegalisierten als Experteninterviews zu führen, da „sie als Expert*innen ihrer Situation zu den Erzähler*innen von Gesellschaft“ (S. 61) gehören. Wilcke entscheidet sich damit für einen voluntaristischen Expertenbegriff (vgl. Bogner et al. 2009, 67 f).

Für seine Untersuchung legt der Autor den Politikbegriff von Rancière zugrunde (S. 32 ff). Als „Akt des Aufbegehrens“ (S. 33) wird die bestehende Ordnung in Frage gestellt und ggf. neu verhandelt. Dies bedeutet, dass die bestehende gesellschaftliche Ordnung veränderbar ist (S. 235). Als „radikale Erweiterung“ (S. 236) dieses Politikverständnisses bezieht Wilcke das Konzept der „Imperceptibel Politics“ mit ein, d. h. Politik wird nicht nur als unmittelbar wahrnehmbare Handlung verstanden, sondern auch als Strategie, „die nicht auf Sichtbarkeit“ (S. 236) setzt. Alltägliche Handlungen wie die Begrüßung der Nachbarn oder das Trennen von Müll sind demnach politisch. Diese Handlungen sind für den Autor weniger als Assimilation zu verstehen (bzw. zu missinterpretieren, S. 239), sondern als Aspekt der Störung der herrschenden Ordnung einzustufen. Kurzum: Erst die Einhaltung gesellschaftlicher Regeln ermöglicht es, die gesellschaftliche Ordnung, insbesondere das sog. Ausländerrecht, zu unterwandern. Eine zwar paradoxe, doch durchaus bemerkenswerte Idee des Autors. Ob dieses omnipräsente Politikverständnis, nach dem fast alles politisch ist, einen empirischen Mehrwert erzeugt, darf jedoch bezweifelt werden.

Aus methodischer Sicht kann wenig überzeugen, dass aus den Ergebnissen der Experteninterviews „ein Abbild der sexistischen und rassistischen Verhältnisse in der Gesellschaft insgesamt“ resultiert, auch wenn dies alltagswirklich plausibel erscheint. Der Vorwurf, bei der Polizei gäbe es einen „institutionelle[n] Rassismus“ (S. 129) ist nicht neu und wird in der Polizeiwissenschaft vs. der kritischen Polizeiforschung kontrovers diskutiert (vgl. Belina 2016, 134 ff; Behr 2017), d.h. in einer Dissertationsschrift wäre es zu begrüßen, wenn auf die unterschiedlichen Positionen hingewiesen werden würde. Immerhin schlägt der Autor mit dieser Generalisierung in seiner rassismus- und sexismuskritischen Arbeit eine Projektion vor, die in Bezug auf andere Gruppen vorzugsweise als Diskriminierung bezeichnet wird (vgl. Lauber/Mühler 2017, 93).

Die interviewten Personen standen durchwegs in (denknotwendig illegalen) Arbeitsverhältnissen. Bei der an einer Stelle erwähnten Tätigkeit als Sexarbeiterin (S. 155 ff) erfährt der Leser[3] wenig über das dortige Milieu, mittelbar ist jedoch zu vermuten, dass die Interviewte nicht „Opfer krimineller Schleuser*innen und Zuhälter*innen“ war. Die Stichprobe, die der Untersuchung zugrunde liegt, umfasst demnach ausschließlich Werktätige, die in Berufen tätig sind, die nicht kriminalisiert werden. Es fehlen damit beispielsweise Personen, die (nicht nur temporär) nicht werktätig sind oder ihren Lebensunterhalt durch als kriminell definierte Handlungen bestreiten. Vor diesem Hintergrund ist die Ziehung der Stichprobe zu kritisieren, unabhängig davon, dass – wie oben genannt – repräsentative Schlüsse gezogen werden.

Im Kapitel 2 stellt der Autor, indem er auf eine Arbeit von Ravenstein aus dem 19. Jahrhundert Bezug nimmt, fest, dass (damals) Grenzen und Grenzkontrollen „wenig relevant“ (S. 21) waren. Diese Behauptung soll mit Hinweis auf den lesenswerten Bericht von Gottlieb Mittelberger über einen deutschen Wirtschaftsflüchtling aus dem 18. Jahrhundert in Frage gestellt werden, denn Mittelberger beschreibt bereits für das Jahr 1750 sowohl 36 Zollstationen zwischen Baden-Württemberg und Rotterdam als auch Einreisemodalitäten in Amerika, die diese Aussage nicht bestätigen (vgl. Mittelberger 2017). Vor allem das zweite Kapitel ist ideologisch aufgeladen. Die Diskussion um die sog. Ausländerfrage in den 1980er, die sicherlich im Kontext mit dem damaligen Bundesinnenminister Zimmermann zu sehen ist (vgl. SPIEGEL 1985, 107 f), beinhaltet einen (weiterhin) unkommentierten Hinweis auf das „ehemalige[n] NSDAP-Mitglied Friedrich Zimmermann“ (S. 54). Eine wissenschaftliche Arbeit sollte an dieser Stelle einen begründeten Zusammenhang zwischen einer (durchaus kritikwürdigen Politik) in den 1980er Jahren und dem Beitritt in die NSDAP 1943 im Alter von 18 Jahren[4] herstellen. Bei der Asyldebatte der 1990er Jahre und der damit einhergehenden Grundgesetzänderung sind es „Neonazis, ‚unbescholtene‘ Bürger*innen und die etablierten Parteien“, die an einem Strang ziehen (Wilcke 2018, 55). Auch an dieser Stelle überzeugt die unkommentierte Generalisierung nicht.

Im Kapitel 4 werden unterschiedliche alltägliche Bewältigungsstrategien durch Illegalisierte beschrieben. Für den Leser ist dabei immer wieder zu berücksichtigen, dass den Illegalisierten viele Methoden zur Konfliktlösung nicht zur Verfügung stehen, da sie mit behördlichen bzw. polizeilichen Kontakten im Zusammenhang stehen. Bereits die Inanspruchnahme als polizeilicher Zeuge kann dazu führen, dass der Aufenthalt ohne Papiere auffliegt, also die Ausweisung droht.

Leider beschränken sich die Analysen zur Solidarität (228 ff, 242 f), ohne die eine Bewerkstelligung von Wohnen, Arbeiten, medizinischer Versorgung und Alltagsleben nicht möglich wäre, ausschließlich auf die migrantischen Netzwerke. Dabei wurde im vierten Kapitel deutlich, dass hier auch die Solidarität einer Vielzahl engagierter Unterstützer (z. B. im schulischen Kontext oder Ärzte) vorhanden ist. In der ideologischen Ausrichtung des Autors ist hier offenbar nur Platz für die Beschreibung alltagsrassistischer und -sexistischer Erlebnisse, verursacht durch das Verhalten von Mitgliedern der „Dominanzgesellschaft“. Die Kritik des Autors bezieht an anderer Stelle jedoch auch das Verhalten migrantischer Illegalisierter mit ein, beispielsweise, wenn ein cis-Mann[5] auf seine körperlich sehr anstrengende Arbeit hinweist und damit verdeutlicht, dass es sich um einen „Men’s job“ (S. 161) handelt. „Darin spiegeln sich auf einer bipolaren Geschlechterordnung beruhende gesellschaftliche Vorstellungen, die in ‚Männer-‚ und ‚Frauenberufe‘ differenziert ist“, so das Ergebnis des Autors. Der „Men’s job“ ist nicht als Zitat des Illegalisierten gekennzeichnet, so dass durchaus zu fragen ist, ob nicht der Autor selbst die dem Illegalisierten zugeschriebene gesellschaftliche Vorstellung erst konstruiert.

6.    Fazit

Der Autor bewegt sich in seiner Untersuchung in einem schwer zugänglichen Feld und hat vor allem durch seine Interviews in den Herkunftsländern einen hohen Aufwand betrieben. Im Ergebnisteil (Kapitel 4) erfährt der Leser detailreich über oftmals wenig beachtete Einzelaspekte eines Lebens in der Illegalität. Über diese Detailaspekte hinaus beinhaltet das Buch nur wenig Informationen über das grundsätzliche Leben in der Illegalität in Deutschland und die gesellschaftliche (und damit natürlich auch die wirtschaftliche) Bedeutung illegalisierter Menschen, deren Arbeitskraft beispielsweise im Niedriglohnsektor unentbehrlich erscheint. Die gesellschaftliche Komponente ist umso bemerkenswerter, als die Untersuchung versucht, den „gesellschaftsverändernden Kräften […] auf den Grund zu gehen“ (S. 17).

Schwächen der Arbeit liegen in der ideologischen Überhitzung, die in der Folge auch zu methodischer Kritik Anlass bietet. Die reduzierte Einbeziehung ergebniskritischer Positionen schränkt damit auch die Ergebnisse der eigenen Untersuchung ein. Da die Arbeit auch Aspekte der Transnationalität und Solidarität beschreibt, wäre die stärkere Berücksichtigung soziologischer Aspekte, beispielsweise aus den Bereichen Sozialkapital und Netzwerktheorie, wünschenswert gewesen. Möglicherweise hätte die These, Migranten nicht als Opfer ihrer Situation darzustellen, als zu prüfende Hypothese mehr Erkenntnisgewinn erzielt. Aus Verlagssicht ist auf ein qualitativ gut hergestelltes Buch hinzuweisen. Die Empfehlung für diese Arbeit kann jedoch nur unter Vorbehalt erfolgen, wobei es Interessierte am Thema aufgrund der bislang unzureichenden Literatur zwangsläufig berücksichtigen werden.

 

 

Verwendete Literatur

Behr, R. „Kameradenverrat ist eine Todsünde“, in: jetzt.de vom 30.09.2017. Verfügbar unter: http://www.jetzt.de/politik/rassismus-in-der-polizei-interview-mit-dem-polizeiwissenschaftler-rafael-behr. Abgerufen am: 19.03.2018.
Belina, B. Der Alltag der Anderen: Racial Profiling in Deutschland?, in: Sicherer Alltag? Politiken und Mechanismen der Sicherheitskonstruktion im Alltag, hrsg. von Bernd Dollinger, Henning Schmidt-Semisch, Wiesbaden, 2016, S. 125 – 146
Bogner, A.; Littig, B.; Menz, W. (Hrsg.) Experteninterviews. Theorien, Methoden, Anwendungsfelder, 3. Auflage, Wiesbaden, 2009
DER SPIEGEL (Hrsg.) Hartes Feilschen, in: DER SPIEGEL, 36/1985, S. 107 – 108
Lauber, K.; Mühler, K. Ist das Vertrauen in die Institution Polizei eine Folge politischer Orientierungen?, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 2/2017, S. 87 – 102

 

Mittelberger, G. Reise in ein neues Leben, Berlin, 2017

 

[1] Verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Bielefeldverschwörung. Abgerufen am: 05.03.2018.

[2] Verfügbar unter:  https://www.bim.hu-berlin.de/de/personen/holger-wilcke/. Abgerufen am: 05.03.2018.

[3] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird das genetische Maskulinum verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten geschlechtsunabhängig.

[4] Unter Berücksichtigung von Wikipedia als Quelle trat Zimmermann 1943 im Alter von 18 Jahren in die NSDAP ein. Verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Friedrich_Zimmermann&oldid=173406575. Abgerufen am: 18.03.2018.

[5] Offenbleiben muss, ob wissenschaftliche Arbeiten künftig überhaupt noch lesbar bleiben, wenn neben rechtschreibkritischem gendern zunehmend auch Geschlechtszeichnungen ausdifferenziert werden. So wird aus dem Mann eine cis-männliche Person, also eine Person, „deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt“ (S. 22).

Rezensiert von: Karsten Lauber