Schaar, Peter[1]; „Trügerische Sicherheit. Wie die Terrorangst uns in den Ausnahmezustand treibt.“[2]; ISBN: 978-3-89684-199-5, 285 Seiten, Edition Körber, Hamburg, 2017, 17.- €
Die rasante Entwicklung digitaler Technologie und das multilaterale Interesse an weltweit (möglichst) freien Handelsbeziehungen, an der Erschließung neuer Märkte, am freien Zugang zu immer knapper werdenden Rohstoffen lässt die Welt über alle Ländergrenzen und Kontinente hinweg zusehends enger zusammenwachsen. Das Interesse an möglichst ungestörten, höchstens kontrolliert reglementierten Import-Export-Beziehungen ist das „Lebenselexier“ florierender Volkswirtschaften.Während die Wirtschaft aus diesen Gründen mindestens supranational, ja weit überwiegend sogar global denkt und handelt, sind die Nationalstaaten als „Gewaltmonopolisten“ und Garanten für Sicherheit und bürgerliche Freiheiten in der Regel dazu gezwungen, in dieser zwiespältigen Ausgangssituation häufig neben dem freien Güter-, Waren- und Dienstleistungsaustausch importierter (sozialer bzw. politischer) Konflikte, die zu den nach wie vor präsenten innerstaatlichen Bedrohungsszenarien komplementär hinzutreten, weit überwiegend nationalstaatlich zu handeln.
Das führt seit einiger Zeit zu einem anderen, zu einem dynamischeren Verständnis der nach wie vor bei Sicherheitsexperten wie auch bei Kritikern „überbordender Sicherheit durch Ausbau der Sicherheitsgesetzgebung“ unumstrittenen Grundaussage, wonach Freiheit und Sicherheit in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat immer wieder aufs Neue austariert werden müsse. Diese ausgangsbedingt ambivalente Aussage wird von namhaften Innenpolitikern nämlich mit dem bekannten Humboldt`schen Zitat akzentuiert, Sicherheit und Freiheit seien ein ungleiches Geschwisterpaar, aber trotzdem zwei Seiten einer Medaille. Somit brauche Freiheit die Sicherheit, denn Sicherheit sei die Voraussetzung für die Freiheit.[3] „Was dies bedeuten kann, zeigt alleine schon die im Anhang des Buches von Peter Schaar auf dreizehn Seiten zusammengefasste und konzentrierte Darstellung dessen, was der deutsche Gesetzgeber alles seit den Terroranschlägen im September 2011 unternahm, um Bürgern ein hinreichendes Sicherheitsgefühl zu vermitteln“, schreibt hierzu der Rezensent der Süddeutschen Zeitung, Robert Probst[4]. Allein dies lohne bereits die Lektüre dieser Studie des langjährigen Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar.
Man kann das damit hervorgerufene Spannungsfeld daher rechtsphilosophisch mit einigen prägnanten Feststellungen umreißen: „Gegner und Befürworter des Gesetzes bewegen sich demnach auf dem durch die „begrenzenden Außenlinien ‚Sicherheit vs. Freiheit‘ / ‚Keine Freiheit ohne Sicherheit‘ und ‚Wer die Freiheit aufgibt um temporäre Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit‘“[5] gekennzeichneten Spielfeld. Damit der „Wettstreit“ bei diesem „Spiel“[6] rechtsstaatlich, fair und „regelkonform“ ausgetragen wird, dafür hat bzw. wird der (verfassungsgerichtliche) „Schiedsrichter“ in bewährter rechtsstaatlicher Manier (schon häufig) gesorgt / sorgen.
Die Ende 2017 erschienene Studie ist zwar schon einige Male besprochen worden, worauf hier auch immer wieder komplementär verwiesen wird und der Autor selbst hat in zahlreichen Diskussionsrunden und Interviews ebenso oft ergänzend Stellung zu seinen Feststellungen und Hypothesen bezogen. Gleichwohl erscheint es angesichts dieses gerade aktuell nach wie vor brisanten legislativen Themas angebracht, nochmals auf einige der Kernaussagen Bezug zu nehmen.
Schaar räumt in seinem inhaltlich dicht gewirkten, sehr lesenswerten Buch, in dem er in achtzehn Kapiteln einen weiten zeitlichen wie auch inhaltlichen Bogen spannt und dabei sinnvollerweise auch die Entwicklung in zahlreichen anderen Staaten in seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen einbezieht, nämlich durchaus ein, dass Maßnahmen zur Terrorabwehr nicht ohne (schwerwiegende) Eingriffe in die Privatsphäre Verdächtiger funktionieren. Allerdings schränkt er ein: „Ich halte es da eher mit klassischen Methoden, wozu natürlich auch gehört, dass man sich auf die neue Zeit, die digitale Zeit einstellen muss, auch digitale Ermittlungsinstrumente müssen genutzt werden. Dazu gehört auch, so ungern ich das ausspreche, die Überwachung.“
Keine Datenstaubsauger in Deutschland also, sondern gezielte Maßnahmen zur Überwachung einzelner. Trojaner, die auf Smartphones eingesetzt, Dialoge über Messenger-Dienste auslesbar machen, würden in dieses Schema passen. Es war noch der alte Bundestag, der den Einsatz durch ein Gesetz ermöglichte, resümiert der Deutschlandfunk[7] in einem Interview mit dem Autor. Verschiedene Bundesländer und der Bund ziehen in ihren Gefahrenabwehrgesetzen diesbezüglich inzwischen nach, dehnen die Eingriffsbefugnisse also in unterschiedlichem Ausmaß in das Straftatenvorfeld aus. Zahlreiche bereits anhängige Verfassungsbeschwerden hierzu werden an dieser Stelle Rechtssicherheit herbeiführen müssen.
Der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und der SPD der 19. Legislaturperiode unterstützt diese Haltung grds.. Darin heißt es (S. 128, Zeilen 5996 ff.): „Es darf für die Befugnisse der Polizei zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis zum Schutz der Bevölkerung keinen Unterschied machen, ob die Nutzer sich zur Kommunikation der klassischen Telefonie oder klassischer SMS bedienen oder ob sie auf internetbasierte Messenger-Dienste ausweichen.“
Ob die bisher bestehenden deutschen Gesetze ausreichen, um diesem Anspruch zu genügen, muss sich noch herausstellen. Schaar plädiert zu Recht dafür, das seit den so genannten Schily-Paketen bekannte Verfahren der Überprüfung von Anti-Terror-Gesetzen, ja der Sicherheitsgesetzgebung im Allgemeinen, jedenfalls sofern tiefreichend in bedeutsame Grundrechtspositionen eingegriffen wird, mit neuem Leben zu erfüllen. Dieses dürfe, wie Schaar in dem bereits erwähnten Interview anmerkt, aber „nicht weiter als lästige Formalie abgehakt“ werden. Technologische Entwicklungen, gerade im Bereich der digitalen Kommunikation, könnten immer neue Gesetze nötig machen, um der Terrorgefahr zu begegnen. Sie im Gegenzug wirksam zu überprüfen und Beschlossenes tatsächlich immer wieder in Frage zu stellen, das mag umständlich und bürokratisch klingen. Immerhin aber gehe es um die Verteidigung des Rechtsstaats, so Schaar. Diese Haltung kann man nur unterstützen, sie ist Ausdruck und Desiderat evidenzbasierter Kriminalpolitik! Außerdem, so der Autor (S. 19), zeigten Ergebnisse fallbezogener Untersuchungsausschüsse mitunter auch, dass es „nicht zu wenig Überwachung, keinen Mangel an gesetzlichen Möglichkeiten zum Einschreiten gegeben habe“. Fehler bestanden vor allem „im unzureichenden Urteilsvermögen und der mangelnden Handlungsbereitschaft der Verantwortlichen“. An anderer Stelle (Kap. 11, „Europa, bedingt abwehrbereit“) verweist er hierzu ergänzend auch noch auf „das (organisatorische) Durcheinander“ und den eher bedingt institutionalisierten Informationsaustausch zwischen Nachrichtendiensten der Mitgliedsstaaten der EU. Dies alles müsse im Geneseprozess neuen Sicherheitsrechts jeweils in eine schlüssige Gesamtabwägung des Gesetzgebers, ggf. auch begrenzend, einfließen.
Titelgebend und insofern folgerichtig zieht sich mit dem Begriff der „trügerischen Sicherheit“ auch die Gefahr eines derart erzeugten „Ausnahmezustandes“[8] durch die Studie Schaars, ist also nicht nur Kernbestand im gleichnamigen zweiten Kapitel des Buches. „Terrorangst verschiebe das politische Koordinatensystem in Richtung autoritärer Lösungen und entziehe der Demokratie die Luft zum Atmen. Weil spektakuläre, medial verstärkte terroristische Aktionen ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit erzeugen, sähen sich selbst moderate Regierungen einem erheblichen Handlungsdruck ausgesetzt. Parlamente und Regierungen beschlössen Programme und Gesetze, die nicht wirklich mehr Sicherheit bringen, um dem Eindruck des Kontrollverlustes entgegenzuwirken. Der nur in wenigen Ländern offiziell erklärte Ausnahmezustand (hier bezieht Schaar insbesondere die terrorbedingte Situation in Frankreich und der Türkei nach dem Militärputsch in seine Argumentation ein, spart aber auch nicht mit Hinweisen auf rechtsstaatlich bedenkliche Praktiken der USA[9] nach den Anschlägen 2001) könne auf diese Weise schleichend zur bedrohlichen Normalität werden“, so der Autor.
Das Buch verknüpft inhaltlich und semantisch recht beeindruckend „Fakten und Statistiken mit juristischen Grundsatzüberlegungen und politischer Philosophie“.[10] Es bietet eine faktenreiche Gesamtschau der Sicherheitsgesetzgebung und ermöglicht dem Leser so einen tiefen Einblick in die Funktionsmechanismen und teilweise symbolisch intendierten „-automatismen“ der Kriminalpolitik. Schaar geht nach meiner Beobachtung dabei auf beinahe alle überwachungskritischen Themen seit dem Initial des verheerenden Terrorangriffs auf die Twin-Towers des World Trade Centers in New York[11] im Jahr 2001 ein, also unter anderem: elektronischer Personalausweis, Staatstrojaner, Telekommunikationsüberwachung, Vorratsdatenspeicherung, „integrierte Sicherheitspolitik“[12], Videoüberwachung, (automatisierter) Datenaustausch und -abgleich etc.
Im letzten Kapitel der Studie unterbreitet Schaar unter der Überschrift „Es geht auch anders“ eine ganze Reihe Empfehlungen / Forderungen für eine rationale (Kriminal-)Politik, bspw. die Einführung eines „Evaluationsrates“ (S. 222) in Anlehnung an das bereits bestehende Gremium „Normenkontrollrat“. Angesichts der Bedeutung des Themas bleibe für „Symbolpolitik“ an dieser Stelle kein Raum (S. 66 f.). Für die Bürger hat er in Anlehnung an Zygmunt Bauman aber auch eine Empfehlung parat. Die „Angst vor dem Anderen“ dürfe nicht zu einer (auf den ersten Blick überraschenden) „Bereitschaft vieler Menschen führen, sich einer umfassenden Überwachung zu unterwerfen“ (S. 60). Tatsächlich, so die trotz unbestritten nach wie vor vorhandener latenter terroristischer Bedrohung objektive, durch Kriminalstatistiken belegbare Lage zeige, dass Sicherheit und Sicherheitsgefühl immer deutlicher auseinanderklaffen (S. 75). Die objektive Sicherheit, betrachtet man alleine die Bedrohung elementarer Rechtsgüter wie Leib, Leben, Freiheit etc., sei zuletzt so gut wie kaum jemals zuvor in der Geschichte der Republik, während sich das Sicherheitsempfinden bei vielen Menschen geradezu diametral zu diesem Faktum entwickle. Das könne auch an der inzwischen tagesfüllend ausufernden medialen Vermittlung (interessant in diesem Zusammenhang ist das Kapitel 6 „Terrorismus als Medienereignis“) von Sicherheit liegen, wie dies Adrian Lobe mit Verweis auf die Videoüberwachung unter Bezugnahme auf Schaar in einer Kolumne in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft darlegt.[13] Kriminalität, Risiko und individuelle Bedrohung erscheinen den Menschen im umfassend medial angereicherten Alltag, obgleich in der Mehrzahl individuell nicht betroffen, näher als dies in der „Realität“ tatsächlich der Fall sei.
Ein in seiner Aktualität und Dichte der Fakten und Argumente, seinem Facettenreichtum, seiner konstruktiv-kritischen Argumentation, verbunden mit einigen konstruktiven Hinweisen an den Gesetzgeber, sehr gelungener und daher wichtiger Beitrag zur Debatte rund um das Spannungsfeld „Freiheit und Sicherheit“.
[1] Volkswirtschaftler, von 2003 bis 2013 Bundesbeauftragter für den Datenschutz, vorher stv. Datenschutzbeauftragter in Hamburg, siehe Autoren-Verlagsprofil.
[2] Blick ins Buch und Inhaltsverzeichnis auf der Website der Körber-Stiftung, Hamburg.
[3] Alexander von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, Berlin, 1841, S. 59; vollständig im Original: „Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden noch die Frucht derselben zu genießen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit“
[4] https://www.sueddeutsche.de/kultur/terrorismus-die-sicherheitsmaschine-1.3763068
[5] Zurückzuführen auf Benjamin Franklin (1818, S. 270), vollständig und im Original: „They who can give up essential liberty to obtain a little temporary safety, deserve neither liberty nor safety.“
[6] Der legere Ausdruck, der angesichts des ernsten Themas unangemessen erscheint, sei mir im Rahmen des gewählten Bildes aber gerade noch erlaubt.
[7] Deutschlandfunk, Interview von Gerwald Herter am 26.02.2018.
[8] Vgl. hierzu auch den Gastbeitrag von Peter Schaar vom 15.09.2017 in der Märkischen Allgemeinen.
[9] Wobei niemand auf die Idee käme, die gewachsene Demokratie dort in Frage zu stellen.
[10] Wie Lennart Mühlenmeier im Rahmen seiner Rezension am 12.07.2107 bei netzpoltik.org titelt.
[11] Er zitiert in diesem Zusammenhang auch eine zeitkritische und nachdenkenswerte Aussage (S. 38) des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Wolfgang Hoffmann-Riem aus dem Jahr 2006: „Der Eckpfeiler Sicherheit scheint mit dem World Trade Center zugleich eingeknickt zu sein, wie stark, wissen wir noch nicht. Vermutlich ist nur eine Illusion von Sicherheit zerstört und durch das Bewusstsein großer Verwundbarkeit ersetzt worden.“
[12] Damit meint er die seit den 1990er Jahren zu beobachtende Tendenz (S. 57 f.), außen- und innenpolitische, polizeiliche, geheimdienstliche und militärische Mittel zunehmend zu verschränken.
[13] https://www.spektrum.de/kolumne/auf-dem-radar/1534395