Christe-Zeyse, Jochen Dr.[1] (Hrsg.); Kriminalistik und forensische Wissenschaften. Festschrift für Ingo Wirth[2]; ISBN: 978-3-89574-941-4, 452 Seiten, erschienen im Verlag Dr. Köster, Berlin, Schriftenreihe Polizei, 2018, 59,80 €
Im Rahmen des 11. Tages der Wissenschaft der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg, den der Förderverein der FH im November 2017 unter dem Motto „Kriminalistik und forensische Wissenschaften“ in Oranienburg veranstaltete, wurde auch der Dipl.-Kriminalist (HU Berlin, Sektion Kriminalistik) Prof. Dr. med. Dr. phil. Ingo Wirth[3] in den Ruhestand verabschiedet.
Hierbei überreichte der Präsident der FH der Polizei des Landes Brandenburg, Rainer Grieger, ihm (zu Ehren) die nachfolgend in ihren Inhalten kursorisch besprochene Festschrift, in der, neben der Einführung und Grußworten, 19 fachwissenschaftliche kriminalistische Abhandlungen, davon 12 Redebeiträge in Aufsatzform in der Abfolge des Programms, von 22 Autoren (vgl. Inhaltsverzeichnis, Fn. 2) veröffentlicht sind. Diese bietet in ihrer Gesamtheit einen guten und auch recht aktuellen Überblick über die derzeitige Situation der Kriminalistik in Lehre, Forschung und Praxis mit Bezügen zu „benachbarten“ forensischen Wissenschaften.
Unter dem Blickwinkel der Kriminalistik als (eigenständiges) wissenschaftliches Studienfach beleuchte ich nachfolgend und in Ausschnitten nur einige wenige der Beiträge des Sammelbandes als Festschrift für Wirth näher, z. B. die Ausarbeitung von Holger Roll[4], „Kriminalistik als Studienfach“ (S. 319 – 385), in welchem sich der Autor nach einem kurzen geschichtlichen disziplinären Abriss der Frage widmet, ob „das Studienfach Kriminalistik in der Lehre aktuell den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht werden kann.“ Dieser Frage versucht sich der Autor inhaltlich zunächst über eine aufwendige vergleichende Analyse der Studien- und Ausbildungsgänge (Auswertung von 15 Länder-Modulhandbüchern !), die momentan von den Hochschulen der Polizei oder allgemeinen Fachhochschulen im Fachbereich Polizei angeboten werden, anzunähern, um diese Erkenntnisse anschließend mit dem Masterstudiengang an der Steinbeis-Hochschule Berlin und dem ehemaligen Diplomstudiengang an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin akribisch über eine Dokumenten-, Text- und eine statistische Analyse in Beziehung zu setzen. Schon hier wird allerdings die eingeschränkte wissenschaftlich-institutionelle Perspektive der Disziplin Kriminalistik deutlich, die ohne Zweifel das Potenzial für eine Wissenschaft hat[5], nur, außerhalb der polizeiinternen Aus- und Fortbildungsangebote kann man diese Wissenschaft in Deutschland (im Unterschied z. B. zum anglo-amerikanischen universitären forensischen Angebot) derzeit nur am „Institut für Kriminalistik“ an der privaten „Steinbeis-Hochschule“ in Berlin (zum Master) und als Wahlbereich im Master-Studiengang „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“ an der „Ruhr-Universität in Bochum“ studieren (letzteres Angebot bleibt beim Autor unberücksichtigt, was dem Zeitpunkt der Erstellung geschuldet sein dürfte).
Die Polizei hält allerdings keinesfalls das Monopol an der Disziplin Kriminalistik Neben ihr benötigen zahlreiche andere Institutionen, Behörden und Privatpersonen kriminalistische Aus- und Fortbildungsinhalte (obgleich es nach wie vor kein eigenständiges Berufsbild des „Kriminalisten“ gibt), wofür Roll zutreffend zahlreiche Bsp. (S. 330 f.) anführt. Nicht nur, aber vor allem auch die Rechtswissenschaft betrachtet die Disziplin innerhalb ihrer Curricula wohl nach wie vor als „sachlich unwichtig, (…) höchstens als eine bedeutungslose Orchidee im Wahlfach.“[6] Dennoch bestehen gerade hier im Rahmen der freien strafprozessualen (forensischen) Beweiswürdigung (§ 261 StPO) im Rahmen des gerichtlichen Hauptverfahrens zahllose kriminalistische Anknüpfungspunkte zur Fehlervermeidung. Wie notwendig diese Überlegung auch im Sinne des Modells einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ Liszt`scher Prägung[7] ist, zeigen nicht nur die (leider) immer noch hochaktuellen Erkenntnisse der umfassenden (dreibändigen) Untersuchungen von Karl Peters[8] aus den 1970er Jahren, allerdings jüngst mehrfach mit ähnlichem kritisch-reflexiven Tenor wieder aufgegriffen[9], sehr eindringlich. Will die Kriminalistik sich als eigenständige Wissenschaft behaupten, muss sie sich als Studienfach über das bisherige, recht beschränkte Angebot hinaus ausbreiten! Einen detaillierten Kriterienkatalog für eine „Kriminalistik als Wissenschaft“ zeigt Roll (S. 335 ff.) auf und sieht die Disziplin in der Tradition der Sektion Kriminalistik der HU Berlin hierbei nicht als Entität sondern als bipolares (allgemeine und besondere / bzw. spezielle Kriminalistik) „System“ mit unterschiedlichen Lehranforderungen, die er über „Kompetenzprofile“ (S. 342 ff.) erschließt.
Seine Untersuchung schließt er mit Thesen und aus bestimmten, nachvollziehbaren Gründen nicht mit allgemeinen Schlussfolgerungen ab. Er stellt hierbei z B. fest, dass die polizeispezifischen Studiengänge in ihren kriminalistischen Inhalten kaum miteinander kompatibel sind und nur wenige eine spezifische Ausrichtung auf eine spätere Verwendung in der Kriminalpolizei mit entsprechend hohen prozentualen Anteilen der notwendigen Kompetenzprofile enthalten. Überwiegend seien die Kriminalwissenschaften sogar stark zersplittert und kaum mehr als einzelne Fächer zu erkennen. Insgesamt seien die in den Modulhandbüchern dokumentierten Lehrinhalte nicht ausreichend für eine spezialisierte Kriminalistikausbildung. Schon aufgrund des (inzwischen) „überpolizeilichen Berufsbildes“ des Kriminalisten sei daher ein grundständiger (fächerübergreifender) Studiengang Kriminalistik, schon wegen der „Brückenfunktion der Disziplin zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“ (S. 378), unverzichtbar. Diese Forderung korreliert ganz offenkundig mit dem interdisziplinären Ansatz der Kriminologie, die sich aus guten Gründen z. B. in einigen „Instituten“, beginnend in Heidelberg und Tübingen, heute zusätzlich noch in Köln, organisiert hat.
Ackermann[10] (S. 33 – 55) teilt in seinem Beitrag die Auffassung Rolls, sowohl in der Ansicht, dass der Kreis derer, die sich für eine spezialisierte kriminalistische Ausbildung der Polizei (wie sie derzeit nur in Berlin, Hamburg, Hessen und Schleswig-Holstein angeboten wird – der erste eigenständig kriminalistische Masterstudiengang wird derzeit an der FH in Brandenburg vorbereitet) einsetzen, immer größer werde, dass diese einheitliche Ausbildung für alle Kriminalisten (über die Polizei hinaus) erforderlich sei und weitergehend, dass nicht nur aber vor allem durch die Digitalisierung der Kriminalität und ihrer Bekämpfungsmethodik ein neues Zeitalter der Straftatenuntersuchung begonnen habe, welches eine Neugestaltung und Anwendung kriminalistischer Ermittlungsmethoden geradezu herausfordere.
Das Bild einer eigenständigen Kriminalistik als Hochschuldisziplin, über die „spärlichen“ bestehenden Angebote hinaus, wird in dem Sammelband, nicht nur über die beiden zitierten Beiträge, überaus deutlich. Schon deswegen ist die Festschrift interessant und man darf ihr eine größere Verbreitung als im Bestand an einigen wenigen Bibliotheken polizeilicher Fachhochschulen wünschen.
Einen weiteren Aspekt, nicht nur um den Herausgeber des lesenswerten Bandes zu zitieren, sondern auch um den Blick auf die Situation, Chancen und Risiken anwendungsbezogener Forschung an Polizeihochschulen zu richten, möchte ich abschließend den Beitrag von Christe-Zeyse (vgl. Fn. 1), „Leuchtturmforschung an Polizeihochschulen? Gedanken zur Rolle der anwendungsbezogenen Forschung an polizeilichen Bildungseinrichtungen“ (S. 203 – 232) aufgreifen. Er plädiert darin nämlich für die Aufgabe der (inzwischen ohnehin „bröckelnden“) Trennung zwischen universitärer Grundlagen- und anwendungsbezogener Forschung an den Fachhochschulen und für die zunehmende Etablierung kollegialer Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen den beiden Institutionen. An motivierten und kompetenten Wissenschaftlern fehlt es auch den polizeilichen Fachhochschulen inzwischen überwiegend nicht mehr, allerdings bieten die z. T. engen und inhaltlich dichten Curricula nur wenig studentische Freiräume. Man kann sich mit Christe-Zeyse nur wünschen, dass sich die Neugier an der Forschung, verbunden mit „Frustration, aber auch mit Stunden des Hochgefühls“, wie er sicher auch aus eigener Erfahrung mit abschließender Sentenz einfließen lässt, auch an den Fachhochschulen noch stärker verbreitet.
Die Festschrift ist bemerkenswert in ihrer Entstehung und Präsentation anl. eines Wissenschaftstages an einer polizeilichen Fachhochschule (ein Format, welches man sich durchaus auch anderen Orts wünschen würde), inhaltlich facettenreich, haptisch wie auch optisch sehr ansehnlich gestaltet und hochwertig gedruckt und ehrt damit in höchst angemessener Weise einen verdienten Praktiker, Wissenschaftler und Streiter für die Wissenschaftsdisziplin Kriminalistik – und zwar über eine bloße „Hilfswissenschaft“ der Rechtswissenschaft hinaus.
[1] Dr. rer soc. Jochen Christe-Zeyse, Sozialwissenschaftler, seit 2008 Vizepräsident der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg in Oranienburg.
[2] Prof. Dr. med., Dr. phil. Ingo Wirth, studierte Medizin an der Charité (HU Berlin), nach dem Abschluss als Diplommediziner war er ab 1978 als wissenschaftlicher Assistent an der HU am Institut für Gerichtliche Medizin der Charité tätig, wo er 1980 zum Dr. med. promovierte; 1988 Habilitation und Facultas Docendi für das Fachgebiet Gerichtliche Medizin; ab 1990 Hochschuldozent an der Sektion Kriminalistik an der HU Berlin, zugleich von 1990 – 1993 Teilzeitstudium der Kriminalistik an der HU Berlin; ab 1993 an verschiedenen Landespolizeischulen beschäftigt, zuletzt als Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Brandenburg in Oranienburg tätig; dort, im Jahr 2000 Berufung zum Prof. für Kriminalistik; 2005 Promotion zum Dr. phil. an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder. Zur Festschrift vgl. Verlags-Website, dort inkl. eines Inhaltsverzeichnisses zu dem Band.
[3] Mehrere Hundert fachwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Veröffentlichungen; (Mit-) Herausgeber mehrerer (Standard-)Werke zur Kriminalistik und Rechtsmedizin, z. B. „Rechtsmedizin. Grundwissen für die Ermittlungspraxis“ (3. Auflage 2012 im Kriminalistik Verlag, Heidelberg); „Kriminalistik-Lexikon“ (4. Auflage 2013 im Kriminalistik Verlag, Heidelberg); „Morduntersuchung in der DDR“ (2014, Verlag Dr. Köster, Berlin); „Die Kriminalistik an den Universitäten der DDR“ (2. Auflage 2015 im Verlag Dr. Köster, Berlin); „Todesermittlung. Grundlagen und Fälle“ (5. Auflage 2016 im Kriminalistik Verlag, Heidelberg, vgl. Besprechung PNL) und einiger populärwissenschaftlicher Bücher zur Rechtsmedizin, z. T. als Fallgeschichten.
[4] Prof. Dr. iur., vertritt in der Lehre die Kriminalistik, Kriminologie und Kriminaltechnik an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern in Güstrow, im Nebenamt im Masterstudiengang Kriminalistik am Institut für Kriminalistik an der privaten Steinbeis-Hochschule in Berlin als Lehrbeauftragter tätig.
[5] Vgl. hierzu nur de Vries, 2010, S. 27 ff. oder Schulz, 2019, S. 67 ff.
[6] Bode, 2013, S. 151, zur Frage der Einordung der Kriminalistik als eigenständige Wissenschaftsdisziplin, vgl. Plank, 2017, S. 155 ff.
[7] Vgl. hierzu, Plank, 2017 (Fn. 6)
[8] Karl Peters, Fehlerquellen im Strafprozess. Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, Band 1 – 3, 1970 -1974 erschienen bei C. F. Müller, München.
[9] Vgl. z. B. nur Böhme, 2018 oder Dunkel, 2018. Interessant in diesem Zusammenhang auch der Sammelband von Barton et al., „Vom hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit. Fehlurteile im Strafprozess“, Nomos Verlag, 2018.
[10] Prof. em. Dr. sc. iur. Rolf Ackermann, ehemaliger Vizepräsident der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg, Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik e. V.
Rezensiert von: Holger Plank