Rotsch, Thomas[1] (Hrsg.);„Zehn Jahre ZIS – Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik“ [2]; ISBN: 978-3-8487-4666-8, 1260 Seiten, erschienen bei Nomos, Baden-Baden, 2018, 129.- €
Prof. Dr. Rotsch, der Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes sowie Mitherausgeber[3] und Schriftleiter der nunmehr im 14. Jahrgang (aktuelle Ausgabe 2/2019) und seit der ersten Ausgabe „open access“ vollständig online verfügbaren, von der DFG geförderten und kpl. downloadfähigen „Zeitschrift für die Internationale Strafrechtsdogmatik“ (ZIS), hatte bereits während seiner Assistentenzeit in Kiel die Idee eines solchen strafrechtswissenschaftlichen Online-Formats. Am 15. Januar 2006 war es dann soweit, die Erstausgabe der (monatlich erscheinenden, ein „Heft“ [7/8] jeweils als Doppelausgabe) Zeitschrift war im Internet verfügbar. Das Format und Konzept
„war von Beginn an darauf angelegt, die Herausforderungen anzunehmen, die in einer durch die fortschreitende Globalisierung und zunehmende multimediale Vernetzung gekennzeichneten Welt auch und gerade an das Strafrecht herangetragen werden. Dabei sollte zwar insbesondere die „Europäisierung“ und „Internationalisierung“ des Strafrechts in den Blick genommen, die nationale Strafrechtsdogmatik aber keineswegs ausgeblendet werden. Im Gegenteil war beabsichtigt, auch der deutschen Strafrechtswissenschaft die Möglichkeit zu geben, die Vorteile des Internet zu nutzen und so auch der nationalen Strafrechtsdogmatik auf einfache Weise effektiv und weltweit (wieder) Gehör zu verschaffen“,
so Rotsch in seinem ersten Fazit zum fünfjährigen Bestehen der Zeitschrift in der Ausgabe 5/2011, S. 285 f. Seither sind weit mehr als 1.000 Beiträge veröffentlicht worden und die Zeitschrift verzeichnet über 11.000 Zugriffe pro Monat.
Der Sammelband ist insofern auch als „Jubiläumsschrift“ zum zehnjährigen Bestehen im Jahr 2016 zu verstehen, oder wie es der Autor im Vorwort beinahe „romantisch“ zum Ausdruck bringt, auf vielfachen Wunsch von Autoren und auch des Nomos Verlags
„jenseits der unbestreitbaren Vorteile der „digitalen Transformation“ auch als Ausdruck einer romantischen Sehnsucht nach Papier und des wiedererwachsenden Wunsches nach analoger Idylle (…).“
So versammelt der Band denn auch jene 50 Beiträge führender deutschsprachiger Strafrechtswissenschaftler*innen, die zum Jubiläum der Online-Zeitschrift in mehreren Ausgaben des Jahres 2016 (vgl. Internetauftritt der Zeitschrift und Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes) veröffentlicht wurden und nimmt fünf weitere, bis zum Erscheinen der Jubiläumsschrift im Jahr 2018 bislang unveröffentlichte Aufsätze auf. [4] Nur diesen[5] möchte ich mich deshalb an dieser Stelle und auch nur ausschnittsweise widmen, da alle anderen Beiträge, dem Konzept der Online-Zeitschrift folgend, allesamt „open access“ erreichbar sind.
So greift Neumann[6] bspw. das hinsichtlich der „digitalen Transformation“ aktuelle und bedeutsame Thema der „Programmierung autonomer Fahrzeuge für Dilemma-Situationen“ (S. 393 – 407) als „Notstandsproblem“ auf. Er setzt sich mit einer rechtsethisch sehr bedeutsamen Frage auseinander, nämlich ob künftig eine Programmierung autonom bewegter Fahrzeug zulässig sei, durch die das Fahrzeug bei einem unvermeidlichen Unfall im Rahmen eines obligatorischen Ausweichmanövers über einen Algorithmus z. B. auf eine kleinere von zwei am Unfallort anwesenden Personengruppen gelenkt werden würde, um so in der klassischen „Weichenfall-Entscheidung“ (§§ 34, 35 StGB) möglichst wenige Menschen schwer zu verletzten oder gar zu töten. Wie wirkt sich dann die Vornahme einer derartigen programmatischen Entscheidung auf den Programmierer oder auf dessen Auftraggeber und deren strafrechtliche Verantwortlichkeit aus etc. Neumann macht deutlich, dass die Diskussion hierzu gerade erst begonnen habe (!) und angemessene dogmatische Konstruktionen zur Lösung solcher Dilemmata noch nicht annähernd verfügbar seien. Angesichts der rasanten Entwicklung des „IoT“ mehr als bedenklich, wie ich meine.
Hierzu hat sich bspw. kürzlich auch Precht[7] mit kritischer Anmerkung gemeldet. Dort wo Programmierer Maschinen und künstlicher Intelligenz „ethische“ Programmcodes implementieren wollten und damit im Anschluss im Schadensfall für den Programmierer / Auftraggeber naturgemäß straf- und haftungsrechtliche Verantwortung erwachse, habe für ihn die Digitalisierung eine Grenzlinie überschritten, die moralisch mindestens fragwürdig und im Allgemeinen zu unterlassen sei.
Dennoch, wie Hilgendorf an anderer Stelle am Beispiel eines künftig weitgehend „autonomisierten“ Straßenverkehrs in dem Beitrag „The dilemma of autonomous driving: Reflections on the moral and legal treatment of automatic collision avoidance systems“ (vgl. Besprechung des Sammelbandes „Digitization and the Law“ im PNL) entwickelt, benötige Recht nicht nur im Kontext von digitalisierter (Teil-)Autonomie eine hinreichende „Algorithmisierung“.
Ein weiteres, angesichts der jüngsten Doping-Fälle, transnationalen polizeilichen Aktionen und spektakulären Festnahmen im Rahmen der nordischen Ski-WM sehr relevantes Thema ist die Frage der Wirksamkeit des „Strafrechts als Instrument zur Dopingbekämpfung?“, der sich Putzke[8] in seinem Beitrag (S. 959 – 972) im Rahmen des im Dezember 2015 in Kraft getretenen Anti-Doping-Gesetzes (AntiDopG) sehr kritisch im Hinblick auf die Rechtsgutfrage, Fragen der hinreichenden Bestimmtheit, den „Nemo-Tenetur-Grundsatz“ sowie daraus evtl. folgenden Beweisverwertungsverboten kritisch widmet.
Kurzum, gäbe es dieses hervorragende strafrechtswissenschaftliche Online-Angebot nicht, man müsste es direkt neu erfinden! Man darf deshalb der Zeitschrift noch viele erfolgreiche Jahre und den weiteren Ausbau der Online-Zugriffe wünschen. Gleichzeitig gebührt den Herausgebern und allen Autoren für ihr ehrenamtliches Engagement um die Fortentwicklung einer interdisziplinären Strafrechtswissenschaft ein herzlicher Dank. Gerade vor dem Hintergrund eines nationalen Strafrechts, das sich – weg vom klassischen Rechtsgutgedanken – zunehmend zu einem Risiko- bzw. Präventionsstrafrecht entwickelt, ist eine breite öffentliche Verfügbarkeit derartiger strafrechtswissenschaftlicher Diskurse (hier sogar in strafrechtsvergleichender europäischer bzw. internationaler Perspektive) nur zu begrüßen, oder, wie es Kubiciel kürzlich an anderer Stelle ausgedrückt hat: Nur so könne „der Renaissance der Kriminalpolitik eine Wiedergeburt der Wissenschaft als Rat- und Impulsgeber folgen.“ Die Wissenschaft müsse sich daher methodisch erweitern und derart „auf weitere Veränderungen des Strafrechts einstellen, die keiner systematischen Idee folgen (…).“[9]
Angesichts eines schon deshalb würdigenswerten Jubiläums darf man, um den Herausgeber des Sammelbandes (nochmals) abschließend zu zitieren, auch in einem Formatwechsel durchaus (ausnahmsweise) der romantischen Sehnsucht nach Papier und des wiedererwachsenden Wunsches nach analoger Idylle (…)“ verfallen. Ad multos annos!
[1] Prof. Dr. iur. Thomas Hilgendorf, Professur für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Umweltstrafrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
[2] Vgl. Verlags-Website und Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes.
[3] Zusammen mit Prof. Dr. iur. Roland Hefendehl (Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Freiburg); Prof. Dr. iur. Andreas Hoyer (Institut für Kriminalwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Lehrstuhl für Straf-, Strafprozess- und Wirtschaftsstrafrecht); Prof. em. Dr. Dr. h. c. Bernd Schünemann (ehemals Lehrstuhl für Straf-, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der LMU München, entpflichtet).
[4] Thematisch gegliedert in die Rubriken: „Grundlagen des Strafrechts“ (sieben Beiträge), „Allgemeiner Teil des Strafrechts“ (zwölf Beiträge), „Besonderer Teil des Strafrechts“ (achtzehn Beiträge), „Strafverfahrensrecht“ (drei Beiträge), „Nebenstrafrecht“ (fünf Beiträge), „Europäisches Strafrecht“ (fünf Beiträge), „Völkerstrafrecht“ (ein Beitrag), „Ausländisches Strafrecht, Rechtshilferecht, Strafrechtsvergleichung“ (drei Beiträge) und „Verschiedenes“ (ein Beitrag, zugleich Würdigung von Prof. em. Dr. Claus Roxin zum 85ten Geburtstag).
[5] Neben den beiden nachfolgend kurz erwähnten handelt es sich um a) Prof. Dr. Gunnar Duttge, „Die ewige Wiederkehr des ermordeten Haustyrannen“ (S. 133 – 146); Hrsg. Thomas Rotsch, „Lederspray redividus“ – Zur konkreten Kausalität bei Gremienentscheidungen“ (S. 233 – 264, inzwischen in der ZIS, Ausgabe 1/2018, S. 1 ff. erschienen); Prof. em. Dr. iur. Dres. h. c. Claus Roxin, „Zur fakultativen Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB“; Andreas Hoyer (vgl. Fn. 3), „Plädoyer für die Rekonstruktion eines einspurigen Sanktionensystems“ (S. 427 – 436).
[6] Prof. em. Dr. iur. Dres. h. c. Ulfried Neumann, ehemals Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie der Goethe-Universität Frankfurt.
[7] Richard David Precht, „Jäger, Hirten, Kritiker“, Goldmann, 2018.
[8] Prof. Dr. iur. Holm Putzke, LL.M. (Krakau), Professur für Strafrecht an der Universität Passau.
[9] Prof. Dr. iur. Michael Kubiciel, Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Augsburg, „Kriminalpolitik und Strafrechtswissenschaft“, in: Zabel (Hrsg.), Strafrechtspolitik. Über den Zusammenhang von Strafgesetzgebung, Strafrechtswissenschaft und Strafgerechtigkeit, Nomos Verlag, Baden-Baden, 2018, S. 99 – 132 (vgl. Besprechung des Sammelbandes im PNL).
Rezensiert von: Holger Plank