Horst Dilling, Harald J. Freyberger (Hrsg.) – Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen – Rezensiert von: Thomas Feltes

Dilling, Horst; Freyberger, Harald J. (Hrsg.); Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Mit Glossar und Diagnostischen Kriterien sowie Referenztabellen ICD-10 vs. ICD-9 und ICD-10 vs. DSM-IV-TR von WHO – World Health Organization; ISBN 9783456859927. 9., aktualisierte Auflage entsprechend ICD-10 GM 2019, 528 Seiten, 36,95 Euro

Psychische Störungen sind nicht nur in der Bevölkerung weitaus verbreiteter, als allgemein angenommen. Bundesweit erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Für die knapp 18 Millionen Betroffenen und ihre Angehörigen ist eine psychische Erkrankung mit massivem Leid verbunden und führt oft zu schwerwiegenden Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben. Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Angststörungen (15,4 %), gefolgt von affektiven Störungen (9,8 %) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 %). Psychische Erkrankungen zählen in Deutschland nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und muskulären Erkrankungen zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zudem im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine um 10 Jahre verringerte Lebenserwartung[1].

Menschen mit solchen Störungen beschäftigen auch die Polizei in einem Umfang, der gemeinhin deutlich unterschätzt wird. Da in der jüngsten Zeit zunehmend psychisch gestörte Personen durch polizeilichen Schusswaffengebrauch zu Tode kommen, sollten sich Polizeibeamt*innen und vor allem die Polizeiführung verstärkt mit diesem Problem beschäftigen, zumal es Hinweise darauf gibt, dass Einsätze in Verbindung mit psychisch Kranken deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen als andere Einsätze. In den USA beanspruchen sie inzwischen 21% der Zeit von Polizeibeamt*innen[2]. Leider gibt es in Deutschland keine verlässliche Aufstellung darüber, in wie viel Prozent aller Fälle des Einsatzes von Polizeigewalt das sog. “Gegenüber“ psychisch gestört ist. 2013 ging man von einem Anteil von einem Drittel bei allen von der Polizei getöteten Personen aus[3]. Tatsächlich aber dürfte der Anteil deutlich höher sein und weit über 50% liegen[4].

In dem Buch der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) der WHO kommt den psychischen Störungen eine Sonderstellung zu. Der «Taschenführer» enthält die diagnostischen Kriterien für die einzelnen psychischen Störungen und Störungsgruppen in kommentierter Form. Nach einem kurzen Einführungsabschnitt zu jeder Störung werden die für die Diagnose relevanten Kriterien aufgeführt und mit Hinweisen zur Differenzial- und Ausschlussdiagnostik ergänzt. Damit umfasst dieser Ansatz sowohl die pragmatische Darstellung der Diagnosen entsprechend den ICD-10-Forschungskriterien als auch, anstelle der ausführlicheren diagnostischen Leitlinien, die kompakte Definition und Beschreibung der einzelnen Störungen. Ergänzend enthält diese Ausgabe ein Faltblatt mit allen psychiatrischen ICD-10-Diagnosen im Überblick. Für die 9. Auflage wurde das Buch entsprechend der German Modification (ICD-10-GM) 2019 des Deutschen Instituts für Medizinische Datenverarbeitung und Information (DIMDI) überarbeitet und ergänzt.

Zwar ist der ICD-10 auch im Internet verfügbar (International Classification of Mental and Behavioural Disorders)[5], wobei ab Mitte 2019 voraussichtlich ICD-11 verfügbar sein soll. Die Zusammenstellung in Taschenbuchform sollte jedoch auf jeder Polizeidienststelle verfügbar sein, damit Beamt*innen sich in den Fällen, in denen sie mit Personen Kontakt haben oder die sie beispielsweise aus ihrer Wohnung zu einer Untersuchung oder Vorführung bringen sollen und bei denen eine psychische Störung vermutet wird, sich über den Hintergrund und die Einordnung der jeweiligen Störung informieren können. Auch zwischendurch kann es nicht schaden, wenn Streifenbeamt*innen in dem Buch blättern. Dies betrifft vor allem das Kapitel über „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ (F60-F69 S. 231 ff.) und das Kapitel über „psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ (F00-F09, S. 61 ff.), das im Kontext von Einsätzen in Verbindung mit Drogenabhängigen zu lesen ist.

Das Taschenbuch ersetzt allerdings in keinem Fall eine fachärztliche oder psychologische Diagnose. In allen Fällen, in denen in der Vorbereitung eines Einsatzes oder bei der Durchführung erwartet werden kann, dass man mit Personen konfrontiert wird, die psychisch gestört sind, sollte fachkundiger Rat und Unterstützung angefordert werden. Versuche, psychisch gestörte Personen, die beispielsweise eine Gefahr für sich oder andere darstellen, mit eigenen, ausschließlich polizeilichen Mitteln zu „beruhigen“ oder gar festzunehmen, sind in der Vergangenheit zu häufig mit massiven Schäden für Beamt*innen, vor allem aber für die gestörten Personen ausgegangen – leider oftmals auch mit dem Tod[6].

[1] https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/933a83524dd5459f46f2d2885ff57a0b69264cef/Factsheet_Psychiatrie.pdf

[2] https://www.treatmentadvocacycenter.org/road-runners

[3] https://www.thieme.de/de/psychiatrie-psychotherapie-psychosomatik/polizei-interventionen-55540.htm

[4] http://www.taz.de/Psychologe-ueber-toedliche-Polizeischuesse/!5408530/

[5] http://www.icd-code.de/icd/code/ICD-10-GM.html

[6] S. dazu https://www.zeit.de/2012/42/Polizeigewalt-Interview

Rezensiert von: Thomas Feltes