Uwe Füllgrabe – Psychologie der Eigensicherung. Überleben ist kein Zufall – Rezensiert von: Thomas Feltes

Füllgrabe, Uwe; Psychologie der Eigensicherung. Überleben ist kein Zufall; Richard Boorberg Verlag, 2019, 8., aktualisierte und erweiterte Auflage, 348 S.; ISBN 978-3-415-06486-7, gebunden 34,90 Euro, als e-Book 33.- Euro.

Wenn ein Buch damit beworben wird, dass es eine „Tatsache“ sei, „dass sich in der letzten Zeit nicht nur Angriffe auf Polizisten häufen, sondern auch auf Feuerwehrleute und Rettungskräfte“ und dies die Notwendigkeit dieses Buches belege, dann wird man als Kriminologe hellhörig. Denn der Anstieg, von dem hier ausgegangen wird, ist nicht belegt, wird aber oft (vor allem von Polizeigewerkschaften) behauptet. Angestiegen ist sicherlich die öffentliche Wahrnehmung dieses Problems, und angestiegen sind auch die Klagen von Polizeibeamt*innen und Einsatzkräften über Gewalt im Einsatzalltag. Gleichermaßen angestiegen sind aber auch die Berichte über Gewalt durch Polizeibeamt*innen – wobei in Deutschland Fälle wie in den USA oder Großbritannien unbekannt sind, bei denen (so in den USA) mehrere Millionen Dollar[1] oder (wie zuletzt in GB immerhin 270.000.- Euro) Schadensersatz gezahlt wird, weil Polizeibeamt*innen unangemessene Gewalt angewendet haben[2]. Bei uns bewegen sich diese Summen, sofern überhaupt gezahlt wird, im drei- oder unteren vierstelligen Bereich[3].

Ungeachtet der Frage, welche Wahrheit oder Wahrnehmung nun „richtig“ ist, ist das Buch von Füllgrabe[4] hilfreich und notwendig. Es zeigt auf, dass das Beherrschen von Kampfsport allein nicht immer gegen Angreifer hilft, und dass der Ruf nach mehr Repression durch Politik und Gewerkschaften eher wohlfeil ist. Psychologische Faktoren spielen bei Konflikten im Polizeialltag eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Rolle, wie ein Projektbericht der Kriminologischen Forschungsgruppe der Bayerischen Polizei unter dem Titel „Konflikte im Polizeialltag. Eine Analyse von Beschwerden gegen Polizeibeamte und Körperverletzungen im Amt in Bayern“ jüngst gezeigt hat[5]. Hier konnten besondere Merkmale der Konfliktinteraktion ebenso herausgearbeitet werden, wie Eskalationsverläufe bei Körperverletzungen im Amt analysiert und (de-)eskalierende Faktoren festgehalten wurden. Die Ergebnisse der Auswertung deuten darauf hin, dass es bei gestörten   Interaktionsverläufen häufig schon frühe Warnzeichen gibt. Werden diese erkannt, kann rechtzeitig gegengesteuert werden. Die Autoren der Studie schreiben u.a.: „Verbale Kommunikation ist ein einflussreiches Mittel im Vorfeld gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Polizeibeamtem und Bürger. Sofern es die Situation erlaubt, sollten Maßnahmen wiederholt und ausführlich erläutert und unmittelbarer Zwang nicht „voreilig“ angekündigt werden. Dies kann zu einer Beruhigung der Lage beitragen, selbst dann noch, wenn das polizeiliche Gegenüber bereits fixiert wurde. Ein verfrühtes Einsetzen von Gewalt kann die körperliche Auseinandersetzung im weiteren Verlauf jedoch sogar verschärfen“ (aaO. S. 262).

Um dies umzusetzen, hilft die Lektüre des Buches von Füllgrabe. Auf der Grundlage von Ereignissen aus der polizeilichen Praxis sowie unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse vermittelt das eingeführte Standardwerk anschaulich, wie man gefährliche Situationen bewältigen kann. Der Autor zeigt auf, wie man Verletzungen vermeiden und „seine Überlebenschancen durch Beachtung psychologischer Faktoren erhöhen kann“ – auch wenn diese Formulierung des Verlages erneut unangemessen plakativ ist, denn es gibt durchaus andere Berufe, die gefahrenträchtiger sind, und die Wahrscheinlichkeit eines Suizid-Todes im Polizeidienst[6] ist um ein vielfaches höher als ein Tod, der durch das sog. „polizeiliche Gegenüber“ verursacht wurde.

Der Autor beschäftigt sich u.a. damit, welche Rolle psychologische Faktoren spielen, wie sich Gewalt entwickelt und wie sie vermieden werden kann. Behandelt werden auch polizeiliche Fehler bei der Eigensicherung, die Steuerung von Situationen, „mentales Judo“ (leider fehlt ein Kapitel über „verbal judo“[7]). Die/der Leser*in kann selbst prüfen, ob sie oder er vorbereitet, einsatzkompetent, und beispielsweise das Phänomen „Suicide by cop“ kennt und ob man weiß, wie man den „lagebedingten Erstickungstod“ verhindern kann. Behandelt werden auch die unterschiedlichen Motivationen von gewaltbereiten Personen.

Leider nicht behandelt (zumindest nicht ausdrücklich) wird der Umgang mit psychisch gestörten Personen. Da aber in der jüngsten Zeit zunehmend solche Personen durch polizeilichen Schusswaffengebrauch zu Tode kommen[8], wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet hätte. Eine Studie in den USA konnte jüngst zeigen, dass Einsätze in Verbindung mit psychisch Kranken etwa doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen als andere Einsätze und dass sie insgesamt 21% der Zeit von Polizeibeamt*innen beanspruchen[9].

Auch wenn man dem Buch an einigen Stellen anmerkt, dass seine erste Auflage schon einige Jahre zurückliegt, ist die Neubearbeitung durchweg gelungen und es wäre zu wünschen, dass jeder Polizeianwärter dieses Buch unter Anleitung (!) durcharbeitet. Fast noch wichtiger wäre es allerdings, wenn auch „erfahrene“ Beamt*innen zudem Buch greifen, denn die alltäglichen Situationen zeigen, dass vieles, was man in der Ausbildung (zumindest zumeist) gelernt hat, sehr schnell im Polizeialltag wieder „vergessen“ wird. Vielleicht greift ja auch die oder der eine oder andere Vorgesetzte einmal zu dem Buch, wenn ein Einsatz nicht so abgelaufen ist, wie sie/er sich das gewünscht hätte. Das würde dann auch dabei helfen, die Fehlerkultur in der Polizei zu optimieren, und es könnte dazu beitragen „Widerstandsbeamt*innen“ eine positive Alternative anzubieten anstatt sie disziplinarisch zu sanktionieren. Denn solche Unterstützung ist, wie ebenfalls eine Studie aus den USA gezeigt hat[10], deutlich erfolgreicher bei Beamt*innen, die durch überschießende Gewalt auffallen.

Der Besprechung lag das eBook (als pdf) zugrunde. Empfohlen wird allerdings tatsächlich die Anschaffung des gedruckten Buches, das zum Nachschlagen deutlich besser geeignet ist.

[1] Zuletzt vier Millionen Dollar: https://www.welt.de/vermischtes/article176893059/US-Gericht-Polizei-erschiesst-Schwarzen-Familie-erhaelt-vier-Dollar-Entschaedigung.html

[2] Beamte hatten in GB eine Person mit psychischen Problemen mit einem Gürtel über dem Gesicht gefesselt, der daran starb https://www.theguardian.com/uk-news/2019/may/03/police-fined-235000-over-death-of-thomas-orchard?CMP=share_btn_tw

[3] Zwei Fußballfans, die bereits 2007 bei einem Fußballspiel von der Polizei verletzt worden waren, sind mit ihrer Klage bis vor den Menschenrechtsgerichtshof (MRGH) gezogen. Hier sprach man ihnen nun – zehn Jahre nach der Tat – je 2.000 Euro Schadenersatz zu. Entscheidend an dem Urteil war vor allem die Kritik der Richter an den Ermittlungen. Diese waren polizeiintern und ohne Erfolg zu Ende gegangen. https://www.advopedia.de/news/ratgeber/diesen-schadensersatz-erhalten-opfer-von-polizeigewalt

[4] S. www.uwe-füllgrabe.de/

[5] https://www.polizei.bayern.de/content/4/3/7/konflikte_im_polizeialltag.pdf

[6] Diese Rate ist mindestens doppelt so hoch wie in der Durchschnittsbevölkerung. Hinweise aus dem Ausland (Frankreich, Österreich) weisen jedoch darauf hin, dass sie durchaus noch deutlich höher sein kann.

[7] Allerdings konnte in einer Studie in den USA gezeigt werden, dass die Fortbildung in verbalen Deeskalationsstrategien („verbal judo“) nur bestimmte, wenig anspruchsvolle Faktoren im Handeln der Beamten beeinflusst. Und es wurde gezeigt, dass mit zunehmendem Alter die Bereitschaft der Beamten sinkt, deeskalierende Maßnahmen zu ergreifen. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/15614263.2019.1589472?src=recsys

[8] http://www.irremenschlich.de/projekte/polizei

[9] https://www.treatmentadvocacycenter.org/road-runners

[10] „Strategies for Intervening with Officers through Early Intervention Systems: A Guide for Front-Line Supervisors“ liefert viele praktische Hinweise zu Aspekten der frühen Interventionssysteme (EIS). Diese Aspekte beinhalten die Definition der Rolle des Linienvorgesetzten, sie strukturieren den Interventionsprozess, kennzeichnen Wege für die verschiedenen Programme und die Dienstleistungen, die EIS ergänzen und verstärken und schaffen eine Kultur von Verantwortlichkeit bei den ausführenden Dienststellen. http://www.cops.usdoj.gov/mime/open.pdf?Item=1671

Rezensiert von: Thomas Feltes