Ines Geipel – Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass – Rezensiert von: Thomas Feltes

Geipel, Ines; Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass; 4. Druckaufl. 2019, 277 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. ISBN: 978-3-608-96372-4. Klett-Cotta, 20.- Euro

Spätestens mit den Wahlen zum EU-Parlament im Mai 2019 ist jedem deutlich geworden, dass der Osten Deutschlands zwar nicht braun ist, aber zumindest in vielen Bereichen mehrheitlich rechts, rechtskonservativ und auch rechtsextremistisch wählt. Ob aus dem Wahlverhalten auch auf individuelle Einstellungen geschlossen werden kann, ist zwar umstritten. Was wir aber seit dem NSU-Drama glaubten zu wissen, ist nunmehr auch schwarz auf weiß nachzuvollziehen. Aber wieso ist die Grundstimmung im Osten so anders als im Westen? Woher kommt diese auf den ersten Blick so konträre Einstellung zur (sozialistischen) DDR-Philosophie? Geipels Buch macht deutlich, dass es eindeutige und wohl auch kausale Beziehungen zwischen dem gibt, was man in der DDR getan und erlebt hat, und wie man sich jetzt fühlt – und wählt.

Das in den Medien hochgelobte Buch von Ines Geipel macht es dem Leser zu Beginn nicht einfach. Auf den ersten mehr als 50 Seiten beschreibt Geipel die Beziehung zu ihrem Bruder intensiv und detailliert, um den das gesamte Buch kreist. Wer hier also bereits eine Auseinandersetzung mit den anderen Subthemen des Buches („der Osten und der Hass“) erwartet, wird erst einmal enttäuscht. Im weiteren Verlauf wird aber deutlich, dass diese Einführung wichtig ist zum Verständnis der Sichtweise von Geipel und auch zum Verständnis des gesamten Buches.

Ines Geipel ist 1960 geboren und Schriftstellerin und Professorin für Verssprache an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«. Die ehemalige Weltklasse-Sprinterin floh 1989 nach ihrem Germanistik-Studium aus Jena nach Westdeutschland und studierte in Darmstadt Philosophie und Soziologie. 2000 war sie Nebenklägerin im Prozess gegen die Drahtzieher des DDR-Zwangsdopings. Ihr Buch »Verlorene Spiele« (2001) hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundesregierung einen Entschädigungs-Fonds für DDR-Dopinggeschädigte einrichtete. 2005 gab Ines Geipel ihren Staffelweltrekord zurück, weil er unter unfreiwilliger Einbindung ins DDR-Zwangsdoping zustande gekommen war.

In dem vorliegenden Buch versucht sie nun, die Geschichte der DDR auch anhand ihrer eigenen Familiengeschichte Revue passieren zu lassen und dabei (mehr implizit als explizit) auch deutlich zu machen, woher der Hass im Osten kommt (oder herkommen kann).

Wenn Sie beispielsweise auf S. 113 schreibt: „Vater schätzte gutes Essen, Schönes und Leistung, er brauchte die Musik, er mochte Orgien und Exzesse, aber vor allem war er darauf aus, andere Menschen zu vernichten“, dann könnte man glauben, dass es hier um individuelles, nicht verallgemeinerbares, persönlich Erlebtes geht. Geipel gelingt es aber durch immer wieder eingestreute Beispiele deutlich zu machen, dass es einerseits diese Einzelpersonen und Einzelerlebnisse sind, die die Entwicklung der DDR und das Erleben der dort aufgewachsenen Menschen prägen, dass es andererseits aber Grundstrukturen gibt, die eine wesentliche Rolle spielen.

Auf S. 116 schriebt sie: „Psychologen und Psychiater, die im Hinblick auf den Osten von einem auffällig hohen Prozentsatz von Vielfachverwahrlosung sprechen“. Kindheitserfahrungen mit Gewalt und Verwahrlosung, dass wissen Kriminologen inzwischen, spielen eine entscheidende Rolle bei späterem eigenen delinquenten Verhalten, und auch bei politischen Grundeinstellungen. „Was die Kriegskinder an eingetrichterter NS-Erziehungsideologie völlig unbearbeitet und derealisiert durch die Fünfziger und Sechziger geschleppt hatten, brach nun auf und entgrenzte sich in Form von Gewalt und infantiler Omnipotent ins Innere“ (S. 116). Das Wissen aus der Nazi-Zeit konnte man mehr oder weniger 1:1 im neuen Repressionsapparat der DDR nutzen. Geipel beschreibt eindringlich, wie sich bereits in den siebziger und achtziger Jahren in der DDR militante Neonazi-Gruppen etablieren und mehr oder weniger gezielt und brutal vorgingen (s. 139).

Im weiteren Verlauf macht Geipel in ihrem Buch deutlich, dass die Entwicklung danach und bis heute ganz wesentlich auf die Erfahrungen zurückgeht, die in den 1960 und 1970er Jahren in der DDR gemacht wurden – und zwar auch die Entwicklung heute und die Einstellung der nach 1989 Geborenen. Der Hass, der auch und besonders in der jüngeren Generation für uns eher unverständlich ist, hat hier seine Ursachen: Die Eltern der jetzt 25-35-jährigen haben zuerst in der DDR unter einer Situation gelitten, die Persönlichkeit prägte. Vor allem aber haben sie sich mit dem System und dem Leben dort arrangieren müssen und arrangiert (von weniger Ausnahmen abgesehen). Mit der Wende und den negativen Erfahrungen danach (Stichwort „Treuhand“) kam dann eine weitere Erfahrung in ihr Leben, die zu noch mehr Abkapslung, Verbitterung und Hass führte und nach wie vor führt. Hass, der sich auch auf die Kinder überträgt, die ihre Eltern still leiden und sich selbst, soweit sie noch im „Osten“ leben, abgehängt sehen.

Fremdenfeindlichkeit und Hass auf »den Staat«. Die Frage, ob wir den Osten Deutschlands verlieren muss gestellt und vor allem schnell beantwortet werden. Das Buch von Geipel sucht Antworten auf das Warum der Radikalisierung, ohne die aktuell bestimmende Opfererzählung nach 1989 zu bedienen. Es erzählt von den Schweigegeboten nach dem Ende der NS-Zeit, der Geschichtsklitterung der DDR und den politischen Umschreibungen nach der deutschen Einheit. Verdrängung und Verleugnung prägen die Gesellschaft bis ins Private hinein, wie die Autorin mit der eigenen Familiengeschichte eindrucksvoll erzählt.

Kein einfaches Buch, aber ein Buch, das zu lesen sich lohnt. Nicht nur, aber vielleicht vor allem für Politiker und alle, die sich um die „Sicherheit“ im Osten vorgeben kümmern zu wollen. Denn es ist nicht die (niedrige) Kriminalitätsbelastung, welche die Menschen verunsichert, sondern es sind die Umstände, die ich für Deutschland insgesamt an anderer Stelle[1] beschrieben habe, die aber besonders im „Osten“ eine große Rolle spielen.

[1] Thomas Feltes, Die „German Angst“. Woher kommt sie, wohin führt sie? Innere vs. gefühlte Sicherheit. Der Verlust an Vertrauen in Staat und Demokratie. In: Neue Kriminalpolitik 1, 2019, S. 3 – 12.

Rezensiert von: Thomas Feltes