Zöller, Mark A.[1] / Hilger, Hans[2] / Küper, Wilfried[3] / Roxin, Claus[4] (Hrsg.); Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension. Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag“ [5]; ISBN: 978-3-428-15674-0, 1510 Seiten, erschienen in zwei Teilbänden in 2., unveränderter Auflage 2019 im Verlag Duncker & Humblot, Berlin, 2019 (1. Auflage 2013, einbändig), Reihe: Schriften zum Strafrecht, Band 250, 199.90.- €)
Die Festschrift vereinigt in 2., unveränderter Auflage, nun jedoch in zwei Leinenbänden, 83 Beiträge von 86 namhaften Autoren (vgl. Inhaltsverzeichnis) zu Ehren von Prof. Dr. em. Jürgen Wolter, einem der Großen des Strafrechts, der bis 2008 an der Universität Mannheim den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie innehatte.
Die Beiträge gliedern sich in sieben Kapitel
- Teilband
Kapitel 1 – Grund- und Grenzfragen der Strafrechtswissenschaft
Kapitel 2 – Allgemeiner Teil des Strafrechts
Kapitel 3 – Besonderer Teil des Strafrechts
Kapitel 4 – Kriminalpolitik und Sanktionen
- Teilband
Kapitel 5 – Strafverfahrens- und Polizeirecht
Kapitel 6 – Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug und
Kapitel 7 – Ausländisches, Europäisches und Internationales Strafrecht
Derart spiegelt sich nicht nur im Speziellen die Vielfältigkeit der Forschungsinteressen des Geehrten, sondern auch die vielfältigen dogmatischen und empirischen Einflüsse auf die dogmatische Strafrechtswissenschaft im Allgemeinen. Die inhaltlich mächtige Festschrift bildet deshalb in ihrem Inhaltsreichtum nichts weniger ab, als die „Gesamte Strafrechtswissenschaft in internationaler Dimension“ im Geiste des Schöpfers dieses Begriffes, Franz v. Liszt[6]. Dieser hat bereits ausgangs des 19. Jahrhunderts die damals in Wissenschaft, Lehre und Justizpraxis entwickelten Kernaufgaben der Strafrechtswissenschaft, nämlich „der Analyse der Rechtssätze des materiellen Rechts und des Verfahrensrechts, deren Auslegung und die Erarbeitung von Grundbegriffen und Prinzipien sowie die Ordnung all dessen in einem System“[7], die er schon akzentuierter als die Kollegen seiner Epoche in den „Kontext einer gediegenen Ausbildung des künftigen Praktikers“ setzte[8], definiert. Ergänzend ordnete er ihr als Wissenschaft auch die Aufgabe der Erklärung des Verbrechens und der Analyse möglicher Reaktionen hierauf, insbesondere der Strafe, zu. Das war auch folgerichtig, da mit der von ihm begründeten Theorie der „Zweckorientierung im Strafrecht“ erstmals eine wirkungsbestätigende evaluative Komponente erforderlich wurde. So wurden die Kriminologie (obgleich er diesen von Garofalo geprägten Ordnungsbegriff selbst erst sehr spät konzeptionell verwendete), die Kriminalistik (darunter verstand er, neben dem juristischen Wissen, welche Sachverhalte Straftaten sind, auch die Fähigkeit, diese Sachverhalte „festzustellen“[9]) und die Pönologie zu zentralen Disziplinen des Strafrechts. Zudem und abschließend sollte die „Gesamte Strafrechtswissenschaft“ auch noch „die Lehrmeisterin des Strafgesetzgebers, seine zuverlässige Beraterin im Kampf gegen das Verbrechen“ sein.[10] Winfried Hassemer[11] beschreibt das der Idee einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ zugrundeliegende Ordnungsgefüge, wie es sich Franz von Liszt vorgestellt haben mag, wie im eigen wort- und geistreich, ja fast aphoristisch und euphemistisch als „göttliche Ordnung“: „Jeder weiß, was er zu tun hat. Dem Strafrecht geht es um die Normen und die Werte; hier wird bestimmt, was sein soll, weil es gerecht[12] ist. Die Kriminologie liefert die Fakten, die Wahrheit; sie sagt uns, wie die Dinge stehen, und prophezeit uns vielleicht gar noch, wie sie sich unter dem Einfluß (sic.) einer bestimmten Strafjustiz entwickeln werden. Und die Kriminalpolitik setzt mit Augenmaß ins Werk, was Strafrecht und Kriminologie zuvor gemeinsam hervorgebracht haben.“ Schon deshalb gebührt den Herausgebern, dem Verlag und allen Autoren Dank, die beachtenswerte „Figur“ einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ bleibt mit dieser Festschrift in der Diskussion – ich vermute, sehr zum Pläsier des Laureaten.
Der Begriff ist aber nicht nur dogmatisch (v. a. Kap. 1 – 3 der Festschrift) sondern vor allem kriminalpolitisch (Kapitel 4 und 6) von Bedeutung, wie dies wiederum der 2014 leider viel zu früh verstorbene langjährige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts und Frankfurter Rechtslehrer Winfried Hassemer[13] sehr schön zum Ausdruck gebracht hat: „Kriminalpolitik verlangt nicht so sehr Konzentration auf die theoretischen Grundlagen als vielmehr den Blick für eine ‚Gesamte Strafrechtswissenschaft’ einschließlich der empirischen Daten aus der Sanktionswirklichkeit oder der Entwicklung und Kontrolle der Devianz, einschließlich auch des Interesses für neue oder alternative Sanktionen, für das Zusammenspiel von materiellem Strafrecht und Verfahren, für den Zusammenhang von Strafrecht, Sozialrecht, Wohnungsbau, für Jugend- und Gesundheitspolitik …“
Ohne auf die einzelnen, durchgängig lesenswerten Beiträge, die aus dem bereits weiter oben verlinkten Inhaltsverzeichnis ersichtlich sind, einzugehen, die Festschrift ist edel gestaltet, von den Herausgebern großartig und mit Akribie angelegt, inhaltlich facettenreich, sowohl (strafrechts-)dogmatisch als auch empirisch und damit interdisziplinär sehr ergiebig, kurzum, sie ist ein Muss für jede rechtswissenschaftliche Fachbibliothek, vor allem aber ist sie ein Schmuckstück im heimischen Bücherschrank, in welches es sich immer wieder „einzutauchen“ lohnt. Man wird bei jedem „Tauchgang“ in diesem Werk neue Eindrücke und Impulse schöpfen!
[1] Prof. Dr. Mark A. Zöller, Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsrecht an der Universität Trier.
[3] Prof. Dr. em. Wilfried Küper.
[4] Prof. Dr. em. Claus Roxin.
[5] Siehe Website des Verlags.
[6] Der im Übrigen zusammen mit Alfred Dochow im Jahr 1881 die noch heute maßgebliche „Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft“ begründete. Allerdings, ab der 6. Auflage (1894) seines „Lehrbuchs des Deutschen Strafrechts“, verzichtet v. Liszt später auf die Verwendung dieses Gattungsbegriffs.
[7] Ders., 1905, AuV, Band 1, S. 212, 214 ff.
[8] Frisch, 2016, S. 24
[9] Ders., 1905, AuV, Band 2, S. 284, 286 f., 288 f.
[10] Ders., 1905, AuV, Band 2, S. 284, 293 ff.
[11] Hassemer, 2008, S. 116 und 2005, S. 19
[12] Kaspar, 2013, S. 109 ff., bemängelt jedoch unter Berufung auf Kelsen (1953, passim), dass es im Hinblick auf eine gerechte, schuldangemessene Strafzumessung kaum möglich sei, objektive Kriterien für eben jene Gerechtigkeit zu benennen.
[13] Ders. 1994, S. 274 f.
Rezensiert von: Holger Plank