Thomas Kubera / Gerd Thielmann (Hrsg.) – Handbuch für Führung und Einsatz der Polizei. Kommentar zur PDV 100 – VS-NfD – Rezensiert von: Holger Plank

Kubera, Thomas[1] / Thielmann, Gerd[2] (Hrsg.); Handbuch für Führung und Einsatz der Polizei. Kommentar zur PDV 100 – VS-NfD“ [3]; ISBN: 978-3-415-05991-7, ca. 3.100 Seiten, Richard Boorberg Verlag, Stuttgart, o. J., Loseblattsammlung in zwei Bänden, Bearbeitungsstand 6. Ergänzungslieferung[4] April 2019, 76.- €

Die Polizeidienstvorschrift (PDV) 100 (VS-NfD) wird – wie alle PDV und Leitfäden – vom Arbeitskreis II (AK II) der Innenministerkonferenz beauftragt und herausgegeben und (seit 1974) von der Vorschriftenkommission (VK – organisiert als eine Art „stän­dige Projekt­gruppe“) des AK II erarbeitet. Dabei ist die PDV 100 (VS-NfD) die Basisvorschrift, in gewisser Weise „die Mutter aller weiteren Dienstvorschriften“ (Vorwort der Hrsg.). Sie bildet somit einen wichtigen Referenzrahmen ab. Sie ist für die Polizeien in den Ländern und im Bund verbindlich, auch wenn länderspezifische Ergänzungen möglich sind („Landesteile“). Rechtlich betrachtet stellt sie prinzipiell eine „verhaltenssteuernde Ver­waltungs­vorschrift“ dar. Mit ihr wird daher das behördliche Handlungs- und Ent­scheidungs­ermessen gebunden (Selbstbindung der Eingriffsverwaltung), wenngleich sie aufgrund ihrer bundesweiten Ausprägung und Bedeutung na­türlich auch einen Schuss „Kompromisscharakter“ (Kommentar, Ein­führung, S. 10) beinhaltet.

Die Vorschrift und hat somit grundlegende Bedeutung für jede Fachrichtung der Polizei, Schutz-, Verkehrs- und Kriminalpolizei gleichermaßen. Polizeiintern hört man mitunter die Sentenz, die PDV 100 (VS-NfD) sei „die Bibel für Polizeibeamte im Einsatz“. Diese Umschreibung darf man m. E. auch im übertragenen Sinne verwenden, ohne im originären kirchlich-religiösen Kontext der „Häresie“ verdächtig zu werden. Die PDV 100 (VS-NfD) beinhaltet nämlich im Wesentlichen „systematisiert verfasstes, abstrahiertes Erfahrungs­wissen und Sachverstand“. Es ist aber nicht so, dass in diesem Zu­sammenhang für die Vorschrift gilt, mit ihr und ihren Inhalten würden „Po­li­zisten (nur) von Polizisten lernen, was Polizisten von Polizisten gelernt haben“. Vielmehr ist das kondensierte Erfahrungs­wissen der PDV 100 (VS-NfD) natürlich auch angereichert mit interdis­ziplinären Erkenntnissen aus For­schung und Wissenschaft. Zudem beschreibt diese grundlegende Vorschrift – einer berufs­stän­dischen Präambel gleich – das „Grund­verständnis der Poli­zei in einem demokratischen Rechts­staat, definiert deren Rolle und Selbstverständnis“ (Kapitel 2)

Es gab (nicht nur) in den 1970er Jahren gute Gründe für die Genese / Fort­entwicklung der Vorschrift. Bezogen auf den Einsatz definierte sie erstmals bund-länderübergreifend polizeiliche operative und strategische Standards. Durch die Vereinheitlichung von Begrifflichkeiten (allgemeine „Einsatz- und Führungsgrundsätze“, „taktische Maß­nahmen“ und „Maßnahmen aus besonderem Anlass“ sowie zusätzlich im „Glossar“, Anl. 20 der Vorschrift) fungierte sie innerhalb des bis dahin genuin föderalen und mit betont eigenständigen Habitus auftretenden Polizeien des Bundes und der Länder seither gleichsam als berufsständische „Plansprache“, wenn man so will als polizeiliches „Esperanto“, welches die „babylonische Sprachver­wirrung“ innerhalb der polizeilichen Eingriffsverwaltung eingrenzen half. Dieses gemeinsame Verständnis war damals nicht nur wegen der zunehmenden länder­übergreifenden polizeilichen Einsatzlagen und -anlässe dringend geboten und ist heute überhaupt unverzichtbar, vergeht doch keine Woche, in der nicht starke polizeiliche Kräfte bund-länderübergreifend auf Anforderung zur Einsatzunterstützung außerhalb ihres originären Zuständigkeitsbereiches tätig werden. Einheitliche Polizeidienstvorschriften – auch neben der PDV 100 (VS-NfD) – geben somit in allen wesentlichen Themenbereichen verbindliche, bundesweit ein­heitliche Standards für die Aus- und Fortbildung, die Führung[5] (!), das polizeiliche Tätigwerden (Einsatz!), die Ausrüstung und Ausstattung sowie eine einheitliche Fachsprache vor und „sollen damit die reibungslose Zusammenarbeit der Polizeien des Bundes und der Länder (in allgemeinen und besonderen Aufbauorganisationen – AAO und BAO) gewährleisten.“ Ohne einen solchen gemeinsamen Rahmen wäre dies aktuell auch nur schwer vorstellbar. Allerdings – bzw. vielleicht gerade deshalb – wurde die Vorschrift nach ihrer grundlegenden Überarbeitung in den Jahren 1993 – 1999 auch in den Folgejahren, den zahlreichen komplexen Einsatzanforderungen geschuldet einige Male sowohl im Text (Fassung PDV 100 – 2012) als auch den Anlagen (Fassung PDV 100 / Anlagen – Stand 10/2016) überarbeitet und an aktuelle Szenarien und phänomenologische Entwicklungen angepasst.

Nun ist die Vorschrift nach der Verschlusssachenanweisung (VSA) als „Ver­schluss­sache – Nur für den Dienstgebrauch“ (VS-NfD) eingestuft. Das macht es für den Rezensenten zwar schwerer, anhand von konkreten Bezügen auf den Text die Vorteile einer solchen Dienstvorschrift und ihrer gewissenhaften, ja akribischen Kommentierung und Fallbeispielssammlung in der vorliegenden Form angemessen zu beschreiben und zu würdigen, es ist aber mit Blick auf die VSA nicht unmöglich. Es wird dabei aber auch sofort ein Dilemma deutlich, denn Fachdisziplinen (hier insbesondere das Organi­sations- und Einsatzmanagement) nehmen auf wissenschaftliche Erkenntnisse Bezug, „entwickeln sich im Wesentlichen über Schrifttum und den öffentlichen Diskurs weiter“ und stellen so auch ihr übergreifendes Theoriegebäude immer wieder selbstreflexiv zur Disposition! Hier ist ein – wohl kaum – unauflösbarer Widerspruch angelegt, den auch die leider „kränkelnde“ Polizeiwissenschaft im Schrifttum vielfach aufgegriffen hat.

Warum braucht es nun also einer so umfassenden (gut 3.100 Seiten !) Kommentierung, wo liegt deren Mehrwert? Schmidt[6] bringt dies nachfolgend recht gut auf den Punkt: „(…) das Spektrum der von der PDV 100 (VS-NfD) umfassten Wissen­schaftsgebiete reicht von den erwarteten Feldern wie Polizei-, Führungs- und Kriminalwissenschaften, über zahlreiche Rechtsgebiete wie Straf-, Eingriffs- oder Öffentliches Dienstrecht, greift Elemente aus Polizeitechnik, Verkehrslehre oder Verwaltungs- und Organisa­tions­­wissenschaften auf und blendet auch berufsethische Betrachtungen nicht aus.“ Deshalb sei es leicht nachvollziehbar, dass es „mit einer bloßen Betrachtung des Vor­schrif­tentextes[7] – ungeachtet ihres hohen Standards – alleine nicht sein Bewenden haben könne.“ Sowohl im Kontext der polizeilichen Aus- und Fortbildung als auch in der Praxis tauchen immer wieder Fragestellungen auf, „deren Beantwortung die reine Vorschrift nicht leisten könne.“ Diese Fragestellungen betreffen „Allgemeine Maß­nahmen“ der Polizei (Kap. 2 der Vorschrift), „taktische Maßnahmen“ (Kapitel 3) und „Maßnahmen aus besonderen Anlässen“ (im Kap. 4 werden insgesamt 21 derartige „besondere Einsatzanlässe“ schematisch behandelt). Der Anlagenteil der Vorschrift gliedert sich in die Anlagen 1 – 20 (z. Zt. insgesamt 18, zwei Anlagen sind derzeit nicht belegt).

Der Kommentar, dessen Vertrieb aufgrund der VS-Einstufung der Vorschrift geraume Zeit eingestellt war, ist – wie selbst aufgrund meiner notwendigerweise allgemein gehaltenen Ausführungen wohl deutlich erkennbar ist – für die Praxis, Lehre und Forschung schon aufgrund der Dichte und Komplexität der Grundvorschrift und auch ihrer zahllosen rückbezüglichen Wechselwirkungen mit anderen, weiterführenden, spezielle Einsatzanlässe vertieft behandelnde PDV nahezu unverzichtbar. Seine Wiederauflage, noch dazu im übersichtlich gegliederten, moderneren Layout, war überfällig. Es ist gut, dass der Verlag mit Unterstützung der Herausgeber nach langen Verhandlungen mit dem AK II eine Vereinbarung zur Publikation in der vorliegenden Form treffen konnte. Den Herausgebern und den allesamt in Praxis und Lehre erfahrenen polizeilichen Kommentatoren aus mehreren Bundesländern sei deshalb ebenso wie dem Verlag gedankt! Das Ergebnis kann sich sehen lassen und das Werk darf m. E. in keiner Einsatzabteilung oder Fachbibliothek sicherheitsbehördlicher Hochschulen fehlen, auch wenn sich das Werk bei einem noch breiteren fachlich-akademischen Diskurs nochmals fortentwickeln könnte.

[1] Leitender Polizeidirektor, seit Juni 2015 Abteilungsleiter beim Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen (LAFP NRW), vorher Fach­ge­bietsleiter „Grundlagen der polizeilichen Einsatzlehre und Zeitlagen“ an der Deutschen Hochschule der Polizei

[2] Leitender Polizeidirektor a. D., bis 2015 Vizepräsident der Deutschen Hochschule der Polizei, z. Zt. als „Senior Project Officer“ bzw. „International Expert“ in internationalen Projekten tätig, u. a. für CEPOL und die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ).

[3] Siehe Website des Richard Boorberg Verlags.

[4] Um die Aktualität der Kommentierung zu gewährleisten und aktuelle Entwicklungen in die Bewertung einzubeziehen erscheinen jährlich i. d. R. zwei Ergänzungslieferungen.

[5] Im Unterschied zu grundlegenden Dienstvorschriften anderer Sicherheitsorganisationen umfasst die PDV 100 (VS – NfD) nicht nur die Führung im Einsatz sondern auch im täglichen Dienst, vgl. Ziff. 1.5 der Vorschrift.

[6] Schmidt, Peter, IPA aktuell, Ausgabe 3/2019, S. 29 f.

[7] Inzwischen gut 170 Seiten Vorschriftentext und zusätzlich rund 100 Seiten Anlagen (Anl. 1 – 20).

Rezensiert von: Holger Plank