Helen Behn – Suicide by Cop in Deutschland. Eine Pilotstudie auf Grundlage einer Dokumentenanalyse von Fällen aus Niedersachsen – Rezensiert von: Thomas Feltes

Behn, Helen; Suicide by Cop in Deutschland. Eine Pilotstudie auf Grundlage einer Dokumentenanalyse von Fällen aus Niedersachsen; Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt/Main, 2019, ISBN: 978-3-86676-591-7, 28.90 Euro

Suicide by Cop, die von einer Person provozierte eigene Tötung unter der Ausnutzung von Polizeibeamten, ist ein Phänomen, das in Deutschland bislang empirisch nicht untersucht wurde. Ob man es, wie der Umschlagtext des Buches suggeriert, als „Kriminalitätsphänomen“ bezeichnet, hängt letztendlich aber davon ab, welche Handlung derjenige unternimmt, der es darauf anlegt, von einem Polizeibeamten getötet zu werden.

Ergebnisse aus der Forschung zu diesem Thema liegen überwiegend aus dem angloamerikanischen Sprachraum vor. Mit der vorliegenden Studie versucht die Verfasserin unter Anwendung eines Methodenmixes die bestehende Forschungslücke für den deutschsprachigen Raum zu schließen, oder besser gesagt, sie liefert einen Ansatz, wie man diesem Phänomen systematisch nachgehen könnte. Denn die vorliegende Studie ist als Pilotstudie angelegt und erstreckt sich auf Niedersachsen. Sie umfasst den Betrachtungszeitraum von zehn Jahren und eine Gesamtzahl von 180 Fällen (134 Justizakten wurden von der Verfasserin ausgewertet). Methodisch steht eine Justizaktenanalyse, ergänzt durch eine Dokumentenanalyse, im Vordergrund. Während einerseits mittels eines deskriptiven Vorgehens das Fallaufkommen bestimmt und kategorisiert wurde (u.a. quantitative Erhebung von personenbezogenen und situationsbezogenen Faktoren), wurde auf der anderen Seite bei (vermeintlich) klar zu determinierenden Fällen mittels qualitativer Inhaltsanalyse die mögliche Motivlage extrahiert. Im Ergebnis wurden 90 (Verdachts)Fälle hinsichtlich verschiedener Faktoren zum Thema Suicide by Cop determiniert und vertieft untersucht.

Die Analyse aller Fälle ergab, dass überwiegend psychische Erkrankungen, gefolgt von Einfluss von Drogen und/oder Alkohol sowie der spontane Entschluss als Motiv bzw. als Ursache dem Geschehen zu Grunde lagen. Die Ergebnisse zeigen zu einem großen Teil Überschneidungen zu den Ergebnissen aus den deutschen Studien zum Thema Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte. Ebenso ergeben sich Überschneidungen zu Ergebnissen aus Studien des internationalen (vor allem anglo-amerikanischen) Forschungsstandes.

In Bezug auf personenbezogene Faktoren, d.h. eine „Tätertypologie“ stellt Behn fest, dass die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, dass es sich bei dem Verursacher eines entsprechenden Geschehens um eine männliche, ledige, deutsche Person handelt. Sie ist vermutlich mindestens im Vorfeld der Tat kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten und weist keine Hafterfahrung auf. Hinsichtlich des Sozialstatus ist sie tendenziell arbeitslos/arbeitssuchend.

Als situationsbezogene Faktoren benennt die Verfasserin die Tatortgröße: Städte/Orte mit einer Einwohnerzahl von mehr als 20.000 bis unter 100.000 Einwohnern sind überrepräsentiert. Der Tatort ist überwiegend der eigene Wohnraum bzw. die Örtlichkeit der eigenen Wohnanschrift, die Tatzeit beläuft sich überwiegend auf die Abend- und Nachtstunden. Das Gesamtgeschehen stellt eine Bedrohungssituation dar oder wird als solche wahrgenommen. Der Einsatzausgang ist mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Verletzungen beim Verursacher gekennzeichnet.

Positiv (für Beamte und Betroffene) formuliert Behn folgendes: „Dass in Einsatzgeschehen der Wille einer Suicide by Cop-Tötung deutlich wird und es zu einem letalen Ausgang kommt, scheint aufgrund der Gesamtumstände (transparente Suizidalität) tendenziell unwahrscheinlich, da bei diesen sichtbaren Umständen verstärkt die Anwendung einer suizidpräventiven Einsatztaktik zu unterstellen ist“ (S. 93). Ob dies tatsächlich der Fall ist, müsste genauer untersucht werden, zumal nicht auszuschließen ist, dass es Fälle gibt, bei denen diese suizidale Absicht nicht erkennbar wird.

Zumindest ebenso interessant wie die direkten Ergebnisse der Studie von Behn sind die indirekten: So stellt sie beispielsweise fest, dass es deutliche Unterschiede in der Erfassung des Schusswaffengebrauchs durch Polizeibeamten und der dabei getöteten Personen gibt, und dass mindestens zwei Fälle nicht in den Zahlen der DHPol erfasst wurden. Durch den Vergleich der Auswertung unterschiedlicher polizeilicher Erfassungssystems (PKS, internes Vorgangsbearbeitungssystem NIVADIS, sowie Justizakten) wird auch deutlich, dass die entsprechend erfassten Fälle bzw. generierten Daten mit Vorsicht zu interpretieren sind, da sie unvollständig und/oder verfälscht sein können. So war bspw. in 18,2 % der Fälle, bei denen aufgrund der Straftat ein Aktenzeichen bei der StA zu erwarten gewesen wäre, keines im polizeilichen Vorgangsystem eingetragen (S. 76 f.).

Abgerundet wird die Studie von Behn durch eine klare Stellungnahme zu den Einsatzmitteln Pfefferspray (abzulehnen) und Taser (unter bestimmten Voraussetzungen einsetzbar, bei bestimmten Personen nicht) (S. 242 ff.).

Letztlich muss die Tatsache zum Nachdenken anregen, dass praktisch in allen von Behn ebenfalls in ihrer Studie geschilderten Einzelfällen (die übrigens sehr anschaulich dargestellt sind und sehr gut in Aus- und Fortbildung benutzt werden können) eine „psychiatrische Erkrankung“ als mögliche Motivlage benannt wird, wobei Behn auch auf die Komplexität dieser Krankheitsbilder hinweist (S. 221). Neben dem Einfluss von Alkohol und Drogen ist dies damit einer der wichtigsten Aspekte, auf den (angehende) Polizeibeamte vorbereitet werden sollten – worauf Behn auch hinweist (S. 249).

Insgesamt hat die Verfasserin hier eine in vielfacher Hinsicht beachtenswerte Studie vorgelegt, zu der man ihr nur gratulieren kann, zumal sie die empirischen Arbeiten ebenso wie die Texterstellung neben ihrer Dozententätigkeit an der Polizeiakademie in Niederachsen und offensichtlich ohne finanzielle und personelle Unterstützung durchgeführt hat. Dieses Engagement würde man sich von deutlich mehr Dozierenden an den Polizeihochschulen wünschen, die damit auch zu einem Fortschritt der Polizeiwissenschaft beitragen könnten.

Rezensiert von: Thomas Feltes