Stuart Hall: Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln. Rezensiert von Thomas Feltes

Stuart Hall: Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln. Argument-Verlag Hamburg, 304 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen. ISBN 978-3-86754-109-1, 36,00 Euro

Wenn die Autobiografie eines Soziologen hier vorgestellt wird, der sich zwar auch mit Kriminalität und Polizei beschäftigt hat[1], dessen Schwerpunkt dies aber nicht war, so bedarf dies einer Begründung. Da genügt es nicht darauf zu verweisen, dass Stuart Halls Impulse unverzichtbar für postkoloniale Kritik, für Medien- und Kulturanalysen wie auch für Perspektiven eines undogmatischen Marxismus sind. Dies interessiert diejenigen, der sich im Bereich von Kriminalität, Kriminologie und Polizei(wissenschaft) bewegen, in der Regel (mit wenigen Ausnahmen) nicht, es sei denn, er oder sie gehören zur ausgestorbenen (oder aussterbenden?) „Rasse“ der marxistischen Kriminologen[2]. Und damit wären wir genau beim Thema, das auch Kriminologen und Polizei(wissenschaftler) interessieren muss: Die Begrifflichkeit von „Rasse“, Ethnie, Herkunft, oder welche Begrifflichkeit auch immer verwendet wird für Menschen, die nicht zu den „Eingeborenen“ gehören, die Fremde im eigenen Land sind und die vor allem in jüngster Zeit wieder darum kämpfen müssen, als Bürger dieses Landes gesehen[3] und akzeptiert zu werden.

Vor einiger Zeit hatte ich einen Disput mit einem deutschen Journalisten, der sich per Email bei mir beklagte, dass ich in einer Meldung für den Polizei-Newsletter (Nr. 217, April 2018 2018, Meldung Nr. 3)[4] von „farbigen Verdächtigen“ sprach. Genauer gesagt hatte ich den Begriff „black suspects“ aus dem Originalbeitrag, der in der anerkannten Wissenschaftszeitschrift „Crime and Delinquency“, die jeglicher rechter Gesinnung unverdächtig ist, verwendet worden war, so ins Deutsche übertragen[5]. Der Journalist schrieb mir: „Der Begriff (farbiger Verdächtiger, TF) ist nicht in Ordnung. Er suggeriert, dass weiß der Normalzustand ist und „farbig“ eine Abweichung davon, so etwas wie ein „angemalter“ oder „eingefärbter“ Weißer. Der Begriff ist außerdem eine von Weißen geschaffene Fremdbezeichnung für eine ethnische Gruppe und keine frei gewählte Selbstbezeichnung. Zudem ist der Begriff ein Euphemismus, eine „höflich gemeinte“, weil schwächere Form von „schwarz“. Viele Menschen nutzen ihn, weil sie denken „schwarz“ dürfe man nicht sagen und damit „schwarz“ abschwächen wollen. Genau das ist das Problem, denn „schwarz“ ist überhaupt kein schlimmer Begriff. Außerdem nennt man Weiße ja auch „weiß“, obwohl sie nicht weiß wie ein Blatt Papier sind.“

Auf meine Entgegnung und Rückfrage, welche Formulierung ich bei der Übertragung des Begriffes „black suspects“ aus der amerikanischen Originalquelle verwenden sollte, da m.E. weder die wörtliche Übersetzung, noch die Originalversion besser gewesen wären[6], bekam ich folgende Antwort: „… da kann ich Ihnen nicht helfen. … Übersetzungen sind, nicht nur bei dieser Kategorie von Begriffen, nicht immer Eins zu Eins möglich, mit einer Adaption von Begriffen kommt man hier also auch nicht unbedingt weiter. Weil es nichts Besseres gibt, etwas Unzulängliches zu nehmen, hielte ich bei diesem Thema für keine gute Lösung.“

Irgendwie musste ich dem Journalisten zustimmen, fand aber keinen Ausweg aus der Zwickmühle.

Und da gerät mir nun diese Autobiografie in die Hände, bei der in einem ausführlichen Vorwort genau auf diese Problematik der Übersetzung entsprechender Begriffe ins Deutsche eingegangen wird. Der Verlag hatte angesichts der besonderen Herausforderung der Übersetzung dieses Buches eine Redaktionsgruppe ernannt, um Übersetzungsprobleme zu klären, die sich aus den verschiedenen Konnotationen und Gebrauchsweisen des für Stuart Hall wesentlichen Begriffsfeldes um Race ergeben (S. 9). Allein schon diese Tatsache muss hervorgehoben werden, zumal die Redaktionsgruppe dann gleich mehrere Beispiele benennt, warum es so schwierig ist, bestimmte englische Begriffe ins Deutsche zu übertragen.

Im Ergebnis kommen sie zu der Entscheidung, race/racial und damit zusammenhängende Begriffe nicht zu übersetzen (und auch nicht mit Anführungszeichen zu versehen), sondern so zu belassen. Ähnlich stellt sich das Problem mit „colour“ bzw. „coloured“. Schon diese (wenigen) Seiten, auf denen das Redaktionsteam sich mit dieser Übersetzungsproblematik beschäftigt, lohnen die Lektüre des Buches, denn sie sensibilisieren gleichermaßen für Begrifflichkeiten wie für Übersetzungsprobleme. Sprache ist eben, worauf das Redaktionsteam hinweist, „kein neutrales Werkzeug, sondern ein Kampfplatz um hegemoniale Bedeutungen du ihre begriffliche Fassung“ (S. 11). Und:

Die Übertragungspraxis von >coloured< ins Deutsche >farbig< ist nicht haltbar, obwohl mit dem Begriff oftmals versucht wird, weniger verletzend über Race zu sprechen. Im Unterschied zu >of Colour< handelt es sich jedoch um keine politische Selbstbezeichnung, über die auch Gemeinsamkeit hergestellt wird. Im Gegenteil wird mittels >farbig < erneut eine skalierende Abstufung von Hautfarben hergestellt. Aus diesem Grund wird Colour hier (also in dem Buch, TF) englisch belassen. Wenn explizit, also materiell Hautfarbe gemeint ist, dann wird im Deutschen auch >Hautfarbe< verwendet“ (aaO.).

Nun aber zum Buch selbst, zur Biografie von Stuart Hall. „Ein Leben zwischen zwei Inseln“ lautet der Untertitel und beschreibt damit die Tatsache, dass Hall 1932 in Jamaika geboren wurde, 1951 in Oxford zu studieren begann und danach in England blieb. Wikipedia beschreibt ihn als „born into a middle-class Jamaican family of African, British, Portuguese Jewish and likely Indian descent”.[7] 2014 starb er in London.

Die Autobiografie des Cultural Studies-Begründers verbindet, so der Verlagstext, „persönliche Erfahrung und Erinnerung mit klugen Diskursen um Race und (Post)Kolonialismus, liefert eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und führt in komplexes politisch-kulturelles Denken ein: zugänglich, stellenweise heiter, kohärent und geschmeidig. Das Leben in der Diaspora schärfte Stuart Halls Blick auf Gesellschaft. Seine Erinnerungen zeigen das (post)koloniale Jamaika, das England der 1950er, die Weltpolitik, die Entwicklung der New Left. Eine bereichernde Lektüre für alle, die politisch interessiert sind, sich mit den Themen Race, Identität, Kolonialismus, Kapitalismuskritik befassen und/oder mit der Aneignung von Kultur und Geschichte. Dieses Buch ist auch ein Einstieg in Stuart Halls Denken und theoretisches Arbeiten. Es schlägt eine Brücke zwischen Erfahrung und Wissenschaft und lehrt Kolonial- und Kulturgeschichte“.[8]

Stuart Hall zählte zu den wichtigsten Intellektuellen marxistischer Orientierung. Als einer der Begründer und Hauptvertreter der Cultural Studies beschäftigte er sich vor allem mit kulturellen Praktiken und gab antikolonialistischen und antiimperialistischen Bewegungen wichtige Impulse. Er prägte den Begriff „Thatcherismus“ und war Mitbegründer der „New Left“. Stuart Hall galt zudem als einer der führenden Kulturtheoretiker Großbritanniens.[9]

Ungeachtet dessen bleibt die Frage, was wir hier in Deutschland des Jahres 2020 mit seinem Buch anfangen können oder sollten. Hall beschreibt, wie er in den 1950er Jahren nach England kam und was er dort wie erlebt. Tatsächlich konzentriert er sich auf dieses eine Jahrzehnt (1950 bis 1960), und dennoch ist vieles von dem, was er (be)schreibt, sehr aktuell, auch für unsere Gesellschaft. Seine Ankunft in England beschreibt er so: „Da war ich aus den Vorgaben der unmittelbaren Prägung durch die koloniale Unterwerfung (in Jamaika, TF) herausgetreten und fand die Möglichkeit, eine andere Art Mensch zu werden“ (S. 19).

Hall beschreibt aber auch sein heutiges „generelles Verlustgefühl“ in Bezug auf seine Erinnerungen. „Sie stellen sicher, dass ich mein Leben lang Jamaikaner bleibe, egal wo ich lebe“ (S. 25). Gestatten wir den Menschen, die zu uns gekommen sind und immer noch kommen, ein Leben lang das zu bleiben, was sie einmal waren? Wir rufen nach „Integration“, meinen aber Assimilation, also die möglichst weitreichende Angleichung an uns, unseren Lebensstil, unsere Moral, unsere „christlichen“ Werte. Auch wenn die zwangsweise Herbeiführung einer Assimilation durch politische Maßnahmen offiziell abgelehnt wird: informeller Zwang ist alltägliche Praxis in Deutschland. Die Verleugnung der Herkunft hat aber, wie nicht nur Psychologen und Psychiater wissen, oftmals dramatische Folgen für die Betroffenen.

Hall schreibt dazu: „Doch was dies (Jamaikaner zu bleiben, TF) in Bezug auf meine Lebenspraxis und mein Zugehörigkeitsgefühl tatsächlich bedeutet hat, war wesentlich problematischer“ (aaO.). Er schreibt von seiner lebenslänglichen „randständigen Position“, von seinem „merkwürdigen, schwer fassbaren, beständigen Unbehagen“ und zitiert C.L.R. James: „Wir sind in, aber nicht aus Europa“. Spätestens hier werden die Parallelen zur aktuellen Situation in Deutschland (und auch anderenorts in Europa) deutlich: Viele Menschen leben hier, teilweise seit Jahrzehnten, die nicht aus Deutschland stammen, und die man dies auch immer wieder spüren lässt oder es ihnen sogar vorhält. Dabei fragt kaum jemand danach, wie es diesen Menschen dabei geht, was dies mit ihnen „macht“, wie ihre Psyche dies verkraftet (oder auch nicht).

Hall hatte „nie den Ehrgeiz, ein waschechter Engländer zu werden … Aber die Briten wirkten wie eine sehr andere, fremdländische Race“ (S. 30). Fragt bei uns jemand danach, ob diejenigen, die in den vergangenen 50 Jahren nach Deutschland gekommen sind, „Deutsche“ werden wollten oder wollen und danach, wie sie die Race der Deutschen sehen? Sicherlich, es gibt migrationsspezifische Forschungen dazu. Nur: Kommen die Ergebnisse in der Gesellschaft an? Wohl kaum.

Wie wichtig es dabei ist, die eigene Identität zu behalten oder zu gewinnen, macht Hall ebenfalls deutlich, wenn er schreibt, „dass Identität nicht bloß eine Kombination festgelegter Eigenschaften ist, die unveränderliche Essenz des innersten Selbst, sondern ein sich beständig verändernder Prozess der Positionierung. Wir neigen dazu, Identität als etwas zu betrachten, das uns zu unseren Wurzeln zurückbringt, als einen Teil unseres Selbst, der über die Zeit im Wesentlichen gleich bleibt. Tatsächlich aber ist Identität ein nie abgeschlossener Prozess des Werdens“ (S. 31 f.). Ein Baum, der keine Wurzeln mehr hat, stirbt ab. Was ist mit Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, und von denen wir verlangen, dass sie ihre Wurzeln verleugnen? Sie können nicht „Werden“.

Sicherlich, Hall beschäftigt sich primär und vordergründig (?) mit den Auswirkungen des Kolonialismus. Aber gibt es nicht auch einen Kolonialismus zu Hause, im eigenen Land? Ein Kolonialismus, der diejenigen, die zu uns gekommen sind, kolonialisieren will?

Der Kolonialismus gründete „niemals auf Geben, sondern immer auf der Eroberung von Land und Rohstoffen, auf der gewaltsamen Ausbeutung von Arbeitskraft, dem Aufzwingen fremder Gesetze, der Unterwerfung von Völkern und der Vernichtung und Marginalisierung sämtlicher kulturellen Traditionen, die der kolonialen Herrschaft abträglich sein könnten. Und so funktioniert er immer noch. … Er stellt einen der einschneidendsten Brüche in der Geschichte der Neuzeit dar, …. Er hat Gesellschaften wie Individuen unwiderruflich verformt. Er hinterließ uns ein entsetzlich geisttötendes Erbe: den widersprüchlichen und verzerrten Zustand der Entfremdung, den Frantz Fanon »Schwarze Haut, Weiße Masken« genannt hat. Der Kolonialismus hat sich alle Mühe gegeben, uns, die unterjochten Kolonisierten, umzumodeln und zu Abziehbildern seiner selbst zu machen. Er machte uns zu >Anderen<, entfremdete uns von uns selbst.“ (S. 36)

Vieles kreist bei Hall um seine Überlegungen, „wie man auf die unschuldige – oder gar nicht so unschuldige – Frage antwortet: „Woher kommst Du?“ (S. 107). Auch wir stellen diese Frage immer wieder, allerdings nicht uns selbst, sondern „den anderen“, den „Fremden“ – aus unterschiedlichen Motiven. Dabei schwingt immer im Hintergrund die Idee, dass „die Gliederung aus Race, Colour und Klasse … die gesamte soziale Hierarchie“ stützt (S. 109). Haben wir deshalb so ein Problem damit, dass Menschen zu uns kommen, die wir, nebenbei bemerkt, dringend brauchen, weil sie unsere soziale Hierarchie stören könnten? Eine wahrlich verstörende Idee.

 

Thomas Feltes, März 2020

 

[1] Hall hat sich gemeinsam mit anderen mit “moral panic, folk devils, and deviancy amplification“ beschäftigt, und zwar durchaus intensiv in dem Buch „Policing the Crisis“, das dankenswerterweise online vollständig verfügbar ist https://sociologytwynham.files.wordpress.com/2014/10/policing-the-crisis.pdf

[2] https://soztheo.de/kriminalitaetstheorien/herrschafts-und-gesellschaftskritik/marxistische-kriminalitaetstheorien/

[3] S. dazu zu den ersten Reaktionen nach dem Anschlag in Hanau https://taz.de/Berichterstattung-zum-Anschlag-in-Hanau/!5662906/

[4] „Beamte mit Beschwerdevorgängen schießen häufiger“ https://www.polizei-newsletter.de/newsletter.php?N_NUMBER=217&N_YEAR=2018

[5] https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0011128718756038

[6] Auch „native american“ finde ich absolut unpassend (den natives sind andere), ebenso wie „Afroamerikaner“.

[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Stuart_Hall_(cultural_theorist)

[8] https://argument.de/produkt/stuart-hall-vertrauter-fremder-ein-leben-zwischen-zwei-inseln/

[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Stuart_Hall_(Soziologe)