Antje Gansewig, Maria Walsh: Biografiebasierte Maßnahmen in der schulischen Präventions- und Bildungsarbeit. Rezensiert von Rüdiger Schilling

Antje Gansewig, Maria Walsh: Biografiebasierte Maßnahmen in der schulischen Präventions- und Bildungsarbeit. Eine empirische Betrachtung des Einsatzes von Aussteigern aus extremistischen Szenen unter besonderer Berücksichtigung ehemaliger Rechtsextremer. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020, ISBN 978-3-8487-6317-7. € 98,-, ca.  475 S.

Biografiebasierte Maßnahmen in der schulischen Präventions- und BildungsarbeitIn diesem Werk widmen sich die beiden Autorinnen dem Einsatz von Zeitzeugen, vornehmlich Aussteigern aus der rechtsextremen Szene. Es ist „die erste umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Frühere Extremisten in der schulischen Präventionsarbeit‘ in dieser Art“ (S. 406). Sie führen in den Phänomenbereich und in den überwiegend schulischen Einsatz von Aussteigern ein und begründen so ihre Studie. Diese selbst wird in ihrer Vielfalt dargestellt, reflektiert und in bisherige Forschungserkenntnisse eingebettet. Der Einsatz von Zeitzeugen, zumindest aus extremistischen Szenen, wird begründet hinterfragt und es werden hohe Hürden für einen erfolgversprechenden Nutzen solcher Maßnahmen aufgestellt.

Einem dreiseitigen Vorwort der Autorinnen folgt ein detailliertes Inhalts-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis. Das Buch ist in vier Bereiche unterteilt:

Zunächst wird der Theorie- und Forschungsgegenstand beschrieben (I). Extremismus in Deutschland wird zusammengefasst und das Phänomen Rechtsextremismus in seiner Gesamtheit komprimiert dargestellt. In der Folge werden weitere Einflussfaktoren wie Ein-, Konsolidierungs- und Ausgangsprozesse, Hilfsangebote, schulische Präventions- und Bildungsarbeit sowie biografiebasierte Präventions- und Bildungsmaßnahmen verschiedener Art beschrieben. Letzteres wird aus Täter- wie Betroffenenperspektiven beleuchtet. Zuletzt wird in diesem Teil von Wirkannahmen und -mechanismen berichtet und Entstehung, sowie Fragestellungen der Forschung und deren Design skizziert.

In der Bestandsaufnahme zum Einsatz ehemaliger Extremisten in der schulischen Präventionsarbeit (II) geht es zunächst um das methodische Vorgehen und in der Folge um die Ergebnisse der dort gewählten Interviewanalyse einschließlich den Hintergrundinformationen, den Informationen zu den Aussteigern in der (schulischen) Arbeit und die antizipierte Wirkungsweise. Der Aussteigereinsatz kann so bewertet und für diesen Teil ein Fazit gezogen werden. Zur Bestandsaufnahme gehört allerdings auch eine bundesweite Befragung relevanter Akteure auf Landesebene hinsichtlich der Verbreitung von Präventionsangeboten ehemaliger Extremisten, sowie die damit gesammelten Erfahrungen. Betrachtet werden aber auch Angebote mit Aussteigern aus nichtextremistischen Szenen. Vollständig wird die Bestandsaufnahme durch Medienanalysen in deskriptiver und inhaltsanalytischer Form.

Im dritten Abschnitt des Buches widmen sich die Autorinnen der Untersuchung der exemplarischen Präventionsmaßnahme (III) als Teil dieses multimethodalen Ansatzes. Hierzu waren Voruntersuchungen nötig und über deren Anlage ist zu berichten. Es wird zwischen Prozessevaluation und Wirkungsuntersuchung unterschieden. Teilnehmende Beobachtungen und Befragungen von Lehrkräften und Schülern sind Gegenstände der Prozessevaluation, deren Erkenntnisse im Anschluss der detaillierten Analysen diskutiert werden. Auch die Wirkungsuntersuchung wird empirisch und methodisch aufgefächert, Ergebnisse darstellt und hinsichtlich intendierter und nicht intendierter Effekte beschrieben.

Am Ende der empirischen Betrachtung finden resümierende Betrachtung und Implikationen (IV) statt. Hierzu werden die Ergebnisse ausführlich diskutiert und Forschungsbedarf wie Handlungsempfehlungen formuliert.

Den Autorinnen gelang gleich zu Beginn eine komplette Beschreibung des Phänomens Rechtsextremismus im Rahmen ihrer Einführung in die Forschung (S. 32 f). Darin fallen positiv und zutreffend wahrgenommenen Statements auf: „Es zeigt sich, dass Radikalisierungsprozesse und politisch extreme Einstellungen sowie Erscheinungsformen Phänome sind, die sich nicht an äußeren politischen Rändern entwickeln und etablieren. Sie werden durch gesamtgesellschaftliche, ökonomische, soziale und politische Entwicklungen und Diskurse konstituiert und getragen“ (S. 41).

Die „Erklärungsmodelle für und empirische Befunde zu rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen“ ab Seite 44 könnten als Übersicht verschiedener Erklärungsansätze dienen. Dadurch wird deutlich, in welcher Breite bei gleichzeitiger Detailtreue das Fundament für die folgenden Forschungen geschaffen wurde. Nur ein weiteres Beispiel hierfür ist die – im Grunde historische – Sammlung von Zeitzeugen in der Bildungsarbeit ab Seite 70. Hier wird die Geschichte biografiebasierter Bildungsarbeit in vielen Facetten gezeichnet. Sehr aufschluss- und erkenntnisreich ist darunter die Lektüre zum gesammelten Erfahrungswissen und der damit verbundenen Wirkannahmen (S. 78 ff.). Die Darstellung der empirischen Befunde hierzu ab Seite 83 ist ernüchternd, die Handlungsempfehlungen ab Seite 87 dagegen sehr zentral für all diejenigen, die Zeitzeugen einsetzen möchten. Dort generieren sich wichtige Informationen und ganz praktische Tipps zur Umsetzung solcher Methoden. Auf Leitfäden hierzu wird hingewiesen (S. 88 unten). Die dargestellten Qualitätsstandards für Aussteigervorträge ab Seite 103 beinhalten wertvolle Hinweise zur Arbeit mit Aussteigern, wobei auch hier auf Widersprüche hingewiesen wird (Bspw. S. 107 unten). All dies mündet in somit gut begründete Handlungsempfehlungen der Autorinnen für Bildungsakteure (S. 108).

Die Autorinnen berichten sachlich und fundiert. Als ein Beispiel kann das, von den Autorinnen gezogene, Zwischenfazit zu den biografiebasierten Präventions- und Bildungsmaßnahmen innerhalb der Beschreibung des Forschungsgegenstands dienen. Darin steht u.A.: „Die vorangegangenen Ausführungen liefern einen Einblick in die starke Verbreitung und enorme Bandbreite biografiebasierter Maßnahmen in der schulischen Prävention- und Bildungsarbeit in Deutschland – bei gleichzeitig geringer empirischer Befundlage“ (S. 111). Wo Informationen zu interpretieren sind, geschieht die schlüssig und nachvollziehbar. Und wo Kritik angebracht ist, wird diese konstruktiv und sachlich geäußert. Ein Beispiel hierfür sind die Ausführungen zum Einsatz von ehemaligen Suchtkranken in der schulischen Bildungsarbeit (S. 68/69). Hier wird sehr deutlich, was empirische Theorie weiß und was dagegen tatsächliche Praxis macht.

Insgesamt haben die Autorinnen ihre Forschungen umfangreich begründet und die Untersuchungsgegenstände hergeleitet. Es entstand letztendlich ein Kompendium, welches, über dem Einsatz von Zeitzeugen hinaus, der schulischen Präventionsarbeit dienlich ist. Beispiele hierfür sind die Ausführungen zu Rechtsextremismus ab S. 32, zu Werteerziehung ab S. 58, oder zu entwicklungsorientierter Gewalt- und Kriminalprävention. Deutlich wird der empirisch belegte, notwendige Vorzug von Kompetenzförderung vor bloßer Information oder gar Abschreckung.

Der Forschungsteil ist auffallend transparent und ermöglicht so Reliabilität. Gewonnene Ergebnisse werden kritisch hinterfragt, reflektiert und in empirische Befunde eingebettet. Dies geschieht vielschichtig, sehr ausführlich und umfangreich. Daraus folgt durchaus auch berechtigte Kritik, z.B. ab Seite 163 im Fazit zu den Interviews im Rahmen der Bestandsaufnahme zum Einsatz ehemaliger Extremisten in der schulischen Präventionsarbeit. Hier wird deutlich, wie wenig selbstkritisch mit dem Einsatz ehemaliger Extremisten umgegangen wird und wie selbstverständlich positiv die eigene Arbeit gesehen wird. Auch das Resümee der bundesweiten Befragung relevanter Akteure auf Landesebene zeigt Selbstverständlichkeiten auf, die es so nicht geben dürfte: „Die Ergebnisse weisen auf einen bundesweit etablierten Einsatz von ehemaligen Extremisten – vornehmlich aus dem Bereich Rechtsextremismus – in der schulischen und außerschulischen Präventionsarbeit hin. Weiterhin scheinen auch Präventionsmaßnahmen von/mit Aussteigern aus nichtextremistischen Szenen gängige Praxis zu sein. Beides überrascht, da keine ausreichenden Erkenntnisse über die Wirkungen von Präventionsmaßnahmen ehemaliger Extremisten bei Kindern und Jugendlichen vorliegen“ (S. 185). Es gibt sogar Hinweise auf negative Effekte (aaO). Auch die Resultate der späteren Wirkungsuntersuchung „deuten nicht auf einen Einfluss auf rechtsextreme Einstellungen, Gewalt und Delinquenz bei den Schülern hin“ (S. 413). Die Schlussfolgerungen ab Seite 415 sind eindeutig, ratsam und durch die Studien ordentlich begründet.

Das Buch ist insgesamt sehr strukturiert aufgebaut. Es ist als Ganzes lesenswert, könnte aber auch als Nachschlagewerk fungieren. Wer sich für Präventionsarbeit an Schulen und für den Einsatz von ehemaligen Angehörigen (rechts-) extremistischer Szenen interessiert, kommt um die Lektüre dieses Buches nicht herum. Dort findet er kurze und prägnante Beschreibungen tangierter Notwendigkeiten. Wer der Arbeit mit Szeneaussteigern in Schulen bereits kritisch, gar ablehnend gegenübersteht, wird durch die Arbeit der Autorinnen in seiner Haltung bestärkt werden. Wogegen derjenige, der der Überzeugung ist, die Authentizität eines Aussteigers sei für Schüler gewinnbringend, über die Lektüre die Fallstricke kennenlernen wird, die mit solchen Aktionen verbunden sind. Dieser Präventionsakteur wird so hoffentlich den Auftritt eines Aussteigers prüfend begleiten, kritisch kommentieren und in schulische Vor- und Nachbereitung einbetten, was im Übrigen für jeden Auftritt eines Zeitzeugen gilt, wie die vorliegenden Studien zeigen.

Ob diese nun vertiefenden Erkenntnisse letztendlich dazu führen, den Einsatz von Zeitzeugen qualitativ auf solide Beine zu stellen, bleibt abzuwarten.

Rüdiger Schilling, April 2020