Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe. Rezensiert von Holger Plank

Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe[1] (ISBN: 978-3-280-05698-1, 124 Seiten, orell füssli Verlag, Zürich, 2020, 10.- €)

Jörg Kinzig[2] hat ein schmales, dennoch interessantes und in jedem Fall lesens­wertes „Büchlein“ – er selbst bezeichnet es als Essay (S. 9) – über Verbrechen und Strafe geschrieben. Darin widerlege er „mit dem Langmut eines Nachhilfelehrers Klischee um Klischee“, schreibt sehr zutreffend Wolfgang Janisch in der SZ vom 13.04.2020.

In zwölf Kapiteln räumt er populäre Fehleinschätzungen, bspw. zum Gegenstand, Wesen und Auftrag der Kriminologie und der Notwendigkeit ihres akademischen Aufwachsens (S. 13 ff.), zur sehr bedingten Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik[3] (PKS, Kap. 2), zur Krimina­litätsfurcht und ihren mitunter irra­tionalen Wirkungen (Kap. 5), zur Ausländer- bzw. Zu­wan­dererkriminalität (Kap. 3 und 4), zu den Strafzumessungsregeln und dem damit verbundenen ebenso un­zutref­fenden, wie jüngst zunehmend politisch verbrämten Vorwurf der „Kuschel­justiz“ (Kap. 9) oder aber hinsichtlich der Entwicklung schwerwiegender Sexual­verbrechen (Kap. 3), prägnant dennoch kenntnis- und facettenreich ab.

À point bringt Kinzig dabei auch das Verhältnis zwischen Strafrechtswissenschaft und Kri­mi­nalpolitik grundlegend zum Ausdruck und versteckt in seinen Aus­führungen hierbei gut nachvollziehbare Kritik zum schier unüberschaubaren Umfang des Kern- und Nebenstrafrechts. Sein Beispiel eines auf dem Markt befindlichen 15.000-seitigen Fachkommentars zum Nebenstrafrecht, der mit „satten 9,62 Kilogramm (eher) die Assoziation von Ziegelsteinen“ als den Bezug zur Ultima-Ratio-Funktion des Strafrechts als schärfstes Schwert des Rechts­staates hervorruft, verweist implizit auf die dringende Not­wendigkeit, Kern- und Nebenstrafrecht umfassend zu systematisieren, zu interpretieren und derart behutsam mit dem Ziel der Konzentration forzuentwickeln. Hierbei kann die Strafrechtswissenschaft als Beraterin der Kriminalpolitik wesentliche Hilfe­stellung leisten, z. B. auch im Rahmen sinnhafter Überlegungen zum empirisch begründeten Rückbau überkommener bzw. wirkungsloser Vorschriften.

Auch zur Entwicklung und grundlegenden Bedeutung der Kriminologie als unverzichtbarer (vom Strafrecht unabhängiger!) interdisziplinärer, empirischer Begleiterin der Strafrechtswis­senschaft in diesem Kontext, zu deren universitärer Entwicklung es immer wieder bedenkliche Zwischenstände gab[4], wagt Kinzig als Direktor des – neben Heidelbergältesten deutschen kriminologischen Instituts in Tübingen eine wohltuend positive Prognose.

Beachtenswert sind auch die Ausführungen zum Opfer[5] und deren Rolle und Stellung im Strafprozess (Kap. 11). Eine immer wieder kritisierte „Frontstellung Täter- vs. Opferschutz“ sei weder der Sache dienlich noch sei sie substanziell wirklich zutreffend, so Kinzig (S. 107).

Kinzigs Büchlein ist „der Versuch, die irrational geführten – oder soll man sagen: geschürten – Debatten um Verbrechen und Strafe an die wissenschaftliche Basis zurückzuleiten“, so Janisch. Dieser Aussage kann man sich nur anschließen und den Essay als prägnanten und streitbaren Beitrag zu einer „Gesamten Strafrechts­wissenschaft“ zur schnellen, dennoch erhellenden Lektüre empfehlen. Nach max. zweistündigen konzentrierten Lesens ist man upgedatet und in jedem Fall argumentativ gut für die meisten Diskussionen argumentativ gut „gerüstet“.

Holger Plank, im April 2020

[1] Vgl. Inhaltsverzeichnis auf der Verlags-Website des orell füssli Verlages,  zuletzt abgerufen am 14.04.2020.

[2] Prof. Dr. iur., Kriminologe und Strafrechtler, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Straf- und Sanktionenrecht und Direktor des Instituts für Kriminologie an der der Eberhard Karls Universität in Tübingen.

[3] Hierzu darf im Übrigen auf die jüngste und ebenfalls lesenwerte Veröffentlichung des „Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten“ (RatSWD) vom 28.02.2020 zur notwendigen „Weiterent­wicklung der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistik“ verwiesen werden.

[4] Vgl. nur das „Freiburger Memorandum“, 2012, und der hierzu hrsg. Sammelband der MSchrKrim 96 (2013), H. 2/3, passim.

[5] Die Kinzig über die „vier V“, wonach sich die Kriminolgie mit dem Verbrechen, dem Verbrecher, der Verbrechenskontrolle und dem Verbrechensopfer (im Rahmen der Viktimologie) beschäftige, zum wesentlichen unmittelbaren Forschungsgegenstand der Kriminologie erklärt.