Dorothee Dienstbühl, Extremismus und Radikalisierung. Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Rezensiert von Thomas Feltes

Dorothee Dienstbühl, Extremismus und Radikalisierung. Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage. Boorberg-Verlag Stuttgart 2019, 304 S., 29,80 Euro

Als „Kriminologisches Handbuch zur aktuellen Sicherheitslage“ 2019 angekündigt, verspricht der Verlag damit nicht mehr und nicht weniger als eine sachlich und wissenschaftlich fundierte Bestandsaufnahme der Sicherheitslage. Dass es dabei (ausschließlich) um „Extremismus und Terrorismus“ geht, wird auch aus dem Titel nicht wirklich deutlich, der zwei doch sehr unterschiedliche Begriffe (Extremismus und Radikalisierung) verbindet. Die Verfasserin, im August 2020 zur „Extremismusbeauftragten“ an der Polizei-Hochschule NRW ernannt, hatte sich zuletzt mit einem Leitartikel zur Ausgabe „Linksextremismus. Brutal. Zynisch. Arrogant.“ in der Zeitschrift „Deutsche Polizei“ der Gewerkschaft der Polizei in der (polizeilichen) Öffentlichkeit gemeldet, in dem sie eine Beziehung zwischen der Ideologie der RAF und den jüngsten Ausschreitungen von linken Demonstranten in Berlin und Leipzig herstellte.

Als „Fortführung der RAF mit anderen Mitteln“ bezeichnet sie hier die Bewegungen[1]. Sie ist aber auch Gastautorin des rechtspopulistischen Blogs „Achse des Guten“ und erfreut sich positiver Besprechungen auf rechtsextremen und rassistischen Plattformen[2]. Sie nennt Antirassismus, speziell die im Gefolge des Floyd-Mordes entstandene Bewegung, eine „staatsgefährdende Ideologie“. Daher wundert es auch nicht, dass sie in einer Handreichung der AFD Fraktion im Thüringer Landtag, unter einem Grußwort zitiert und explizit als referenzierte Literaturquelle angegeben wird.

Wie steht es also um das „kriminologische Handbuch“, das sie 2019 im renommierten Boorberg-Verlag veröffentlicht hat?

Wenn der Verlag in der Ankündigung davon spricht, dass „solche komplexen Kriminalitätsgefüge … eine fächerübergreifende Betrachtung“ verdienen und er betont, dass politischer und religiöser Extremismus „in den letzten Jahren zu Kernproblemen für die deutschen Sicherheitsbehörden geworden“ sind, dann wird deutlich, dass es gerade nicht um die Sicherheitslage generell gehen soll, denn dazu gehört mehr als Extremismus und „Terrorismus“. Auf die Spitze getrieben wir dies dann mit der Aussage, dass sich „der besondere Stellenwert des Themenbereiches für die Sicherheitsbehörden allgemein und speziell für die polizeiliche Ausbildung und Praxis … aus der Tatsache, dass Extremismus und Terrorismus Kriminalitätsfelder darstellen, in denen nahezu alle Straftaten verwirklicht werden“ ergäbe. Nahezu alle Straftaten werden im Kontext von Extremismus und Terrorismus verwirklicht? Tatsächlich könnte man dies glauben, wenn man die mediale Aufarbeitung bestimmter Ereignisse zugrunde legt, aber ein Fachbuchverlag und eine Dozentin an einer Polizei-Hochschule sollten es besser wissen (und schreiben). Kriminologisch (und ein solches Handbuch soll es ja sein) belegbar ist dies jedenfalls nicht, und bei näherem Hinsehen sogar abwegig.

„Die Deutschen haben mehr Angst vor Trump als vor Corona“ titelten die R+V-Versicherung bei der jüngsten Veröffentlichung der Ergebnisse der R+V-Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“, die belegen, dass in dieser Ausnahmesituation viele Sorgen in den Hintergrund treten. Im Fokus stehen 2020 die wirtschaftlichen Themen, lediglich übertroffen von der Befürchtung, dass die Politik von Donald Trump die Welt gefährlicher macht – Platz eins der aktuellen Umfrage.

Unter den zehn größten Ängsten der Deutschen befindet sich übrigens in diesem wie im vergangenen Jahr der Terrorismus nicht mehr. Politischer Extremismus rangiert auf Platz 14, Terrorismus auf Rang 15.

Quelle: https://www.ruv.de/static-files/ruvde/downloads/presse/aengste-der-deutschen/grafiken/StaticFiles_Auto/ruv-aengste-plaetze-1-10.jpg

Richtig ist, dass diese „Ängste“ in den Jahren zuvor noch weiter vorne rangierten, die Angst vor „Terrorismus“ sogar 2017 auf Platz 1[3], sodass das Buch von Dienstbühl nicht per se nicht mehr aktuell ist. Aber die Behauptung (des Verlages?), das Werk diene (sic!) „als weniger theoriefokussierte, sondern mehr phänomenbezogene wissenschaftliche Grundlage“ und die „Erkenntnisse verhelfen den Sicherheitsbehörden zu einem tieferen Verständnis dieser Kriminalitätserscheinungen und erleichtern somit den praktischen Umgang mit deren Akteuren und Strukturen“ ist, vorsichtig formuliert, zumindest mutig. Denn was genau soll eine „phänomenbezogene wissenschaftliche Grundlage“ sein? Eine Beschreibung von Fakten? Das alleine ist und kann nicht wissenschaftlich sein, denn dazu gehören immer Analyse, Einordnung und Bewertung.

Die Verfasserin vermittele „grundlegendes Wissen zur Einschätzung von Bedrohungspotenzialen vor Ort“ – auch diese Aussage ist gewagt, denn zur Analyse „vor Ort“ (also in Duisburg, Oberhausen oder List auf Sylt) dient das Buch sicherlich nicht. Dazu ist es zu oberflächlich verfasst, zu wenig objektiv sind die Recherchen und so einseitig die Schlussfolgerungen. Sicherlich ist es richtig, wenn die Verfasserin in ihrem Vorwort betont, dass „100%ige Objektivität … niemand gewährleisten“ kann. Das kann aber keine Entschuldigung für unwissenschaftliche Subjektivität sein.

Ein Werk, das fast komplett internationale Analysen ausblendet und sich vornehmlich auf Polizeiquellen beruft, kann man nicht als „wissenschaftlich“ bezeichnen. Und ein Werk, das den Begriff „Kriminologie“ im Titel führt, aber als kriminologisches Lehrbuch das von Göppinger aus dem Jahr 2008 anführt, disqualifiziert sich selbst. Schon ein Blick in das Werk von Eisenberg und Kölbel hätte genügt, um den Fokus angemessen zu erweitern[4]. Wenn dann noch der Autor eines der im Polizeibereich weit verbreiteten Lehrbuches falsch geschrieben wird (Schwindt statt Schwind), dann darf man sich berechtigte Zweifel haben, ob dieses in einem renommierten Verlag erschienene Buch seinem selbst gesteckten Anspruch gerecht werden kann, zumal das Verständnis von Kriminologe, auf S. 51 bis 68 in dem Buch dargestellt, ebenfalls sehr beschränkt daherkommt.

Und übrigens: Für ein 2019 erschienenes Buch ist es absolut inakzeptabel, sich mit den Ereignissen rund um den NSU auf gerade einmal einer (!) Seite zu beschäftigen (den gleichen Umfang erhält die „Rote Hilfe“; den „Grauen Wölfen“ werden über 4 Seiten gewidmet) – von NSU 2.0 ganz zu schweigen, denn bereits 2018 hatte die FAZ zu diesem Kontext getitelt: „Die Polizei – dein Feind und Henker?[5]. Gerade hier hätte es doch für die Zielgruppe Polizei einiges darzustellen, zu analysieren (!) und zu schlussfolgern gegeben. Warum macht das die Verfasserin nicht? Weil sie selbst im Polizeibereich tätig ist? Dies wäre beschämend, für sie wie für die Polizei als Institution.

Das Buch ermöglicht leider nicht das, was der Klappentext und die Verlagswerbung versprechen, nämlich einen „kriminologischen Zugang“, der „eine sachliche und wissensbasierte Annäherung mit Distanz (liefert), die im Berufsleben aufgrund aktueller und akuter Entwicklungen nicht immer möglich ist.

Einfach nur schade und peinlich für die Polizei insgesamt, die Hochschule in NRW und den Verlag, der zumindest mit der Titelvergabe bei Büchern in Zukunft etwas vorsichtiger sein sollte. Immerhin hat erst kürzlich ein anderes „Kriminologie-Lehrbuch“ aus dem Polizeibereich für Aufmerksamkeit und Kritik gesorgt, und am Ende hat diese Kritik dazu geführt, dass es eingestampft wurde und sich das BKA und alle Landeskriminalämter aus der Herausgeberschaft einer (in der Vergangenheit renommierten) Polizei-Zeitschrift zurückgezogen haben, in der das Buch verteidigt worden war[6].

Thomas Feltes, September 2020

[1] https://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/id/dp202007?open&ccm=400020310

[2] Nachweise finden sich hier: https://www.facebook.com/DasSiebteFlugblatt/photos/a.1441202579517240/2378604042443751/

[3] https://de.statista.com/infografik/11013/die-aengste-der-deutschen-2017/

[4] Eisenberg/Kölbel, Kriminologie, 7. Auflage Tübingen 2017, § 46, Rdnr. 38 ff.

[5] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/nsu-2-0-in-frankfurt-rechtsextreme-drohen-einer-anwaeltin-15944675.html

[6] Vgl. https://www.stern.de/panorama/polizei—sippenforschung—-ns-sprech-im-kriminologie-lehrbuch-8882528.html