Die konvivialistische Internationale: Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt. Open Access, Vorgestellt von Thomas Feltes

Die konvivialistische Internationale: Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt. Transcript-Verlag 2020, ca. 144 Seiten, ISBN: 978-3-8394-5365-0. pdf-download kostenlos hier, Druckversion 10.- Euro.

Was ist Konvivialismus? Das werden sich die meisten fragen, die den Titel dieses Buches lesen.

Das Wort Konvivialismus kommt (wie sollte es auch anders ein) aus dem Lateinischen: con-vivere bedeutet zusammen leben, und genau darum geht es. Wie können wir unter den gegenwärtigen Bedingungen in einer Welt so zusammenleben, dass unsere eigenen moralischen und ethischen Ansprüche erfüllt werden?  Die globalen Probleme des Klimawandels, der Armut, der sozialen Ungleichheit oder der Finanzkrise erfordern ein Umdenken und veränderte Formen des Zusammenlebens – von der Corona-Pandemie, die nach der Fertigstellung des Manifestes ausgebrochen ist, ganz zu schweigen. Viele Bewegungen, Initiativen und Gruppierungen suchen aktuell schon nach alternativen Wegen. Ihnen allen gemeinsam ist das Streben nach einer neuen Kunst, miteinander zu leben (con-vivere).

Als sich im Jahr 2010 Wissenschaftler*innen trafen, um über die Aktualität von Konvivialität und Konvivialismus zu debattieren, war noch nicht abzusehen, welche Resonanz diese Begriffe in den Folgejahren erfahren würden. Es entwickelte sich eine Diskussion, die 2013 mit dem von etwa 40 französischsprachigen Wissenschaftler*innen und Intellektuellen initiierten „Manifeste Convivialiste“ – eine „Déclaration d’interdépendance“ – einen Weg zu einer gesellschaftlichen Debatte in Frankreich eröffnet hat. Im September 2014 wurde das Manifest auch auf Deutsch unter dem Titel „Das konvivialistische Manifest“ veröffentlicht. Mit dem Untertitel „Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“ wurde der Band von Frank Adloff und Claus Leggewie herausgegeben und hat die Debatte über die Fehlentwicklungen zeitgenössischer Gesellschaften, die Kapitalismuskritik mit Konzepten für eine Neudefinition von Reichtum und Wohlstand verbindet, in den deutschsprachigen Raum getragen.

Nunmehr wurde das zweite konvivialistische Manifest veröffentlicht. Begründet wird dies damit, dass in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökologischen Krisensituation nichts dringender gefragt ist als eine Vorstellung davon, wie eine Zeit nach dem Neoliberalismus aussehen kann. „Das zweite konvivialistische Manifest stellt eine politische Philosophie vor, die konsequent relational und pluriversal angelegt ist, die das Zusammenleben der Menschen untereinander und das Verhältnis zur Natur auf neue, glaubwürdige und überzeugende Grundlagen stellt. Ein zentraler Aspekt ist dabei die Überwindung aller Formen menschlicher Hybris“ (Klappentext).

Nach einer intensiven Diskussion haben fast 300 Wissenschaftler*innen, Intellektuelle und Aktivist*innen aus 33 Ländern dieses Manifest unterzeichnet. In der Öffentlichkeit dennoch bislang kaum wahrgenommen, ist es wertvoll und wichtig zugleich und es gibt auch und gerade während der Corona-Pandemie genügend Gründe, es zu lesen. Und wenn dann der Transcript-Verlag das Buch auch noch als „open access“ hier bereitstellt, gibt es keinen vernünftigen Grund, es nicht zu lesen – oder zumindest einmal darin zu blättern. Denn dann wird man schnell begreifen, worum es geht und warum dieses „Manifest“ so wichtig ist – auch wennmanche vielleicht der Begriff stört.

„Anstatt dass die Demokratie oder der Geist der Menschenrechte an Boden gewinnen, sind es vielmehr die Diktaturen oder die sogenannten »illiberalen Demokratien«, die »Demokraturen«, die überall gedeihen. Der reiche Westen hatte sich davon überzeugen und glauben machen wollen, dass er der Welt Frieden und Wohlstand bringe. Stattdessen hat er Sturm gesät. Da er sein Versprechen nicht hat halten können, schlägt ihm nun der ganze Hass entgegen, der sich in Jahrhunderten kolonialer oder imperialer Herrschaft über den Planeten angestaut hat“ (S. 11).

Warum Konvivialismus? Diese Frage wird wie folgt in dem Buch beantwortet: „Die Jugendlichen der reichen Länder werden sich der Klima- und Umweltprobleme Tag für Tag bewusster, aber sie tun sich noch schwer zu erkennen, dass ihr Schicksal auch mit dem der Jugendlichen verbunden ist, die sich anderswo von Diktaturen zu befreien versuchen oder sich zur Emigration gezwungen sehen. Die grünen Parteien haben im Westen immer mehr Zulauf, doch das Bemühen, die Natur zu bewahren, stellt an sich noch keine Politik dar. Es genügt für sich genommen bei Weitem nicht, um auf den Neoliberalismus zu antworten. Wenn wir aber eine Chance haben wollen, der Gefahr, die die Weltherrschaft des spekulativen Finanzkapitalismus für die Zukunft der Menschheit bedeutet, die Stirn zu bieten, brauchen wir unbedingt eine alternative politische Philosophie zum Neoliberalismus. Eine Philosophie, die sich nicht darauf beschränkt, seine sechs zentralen Aussagen als unzutreffend zu kritisieren, sondern die tatsächlich die Umrisse einer anderen möglichen Welt entwirft. Einer menschlicheren, lebenswerten Welt, in der alle, oder die große Mehrheit, sich wiedererkennen und besser leben können, in dem gemeinsamen Bemühen, zu retten, was von unserer Umwelt und den vier Roosevelt’schen Freiheiten noch gerettet werden kann und muss. Um dahin zu gelangen, müssen wir das Gefühl von Ohnmacht überwinden, das wir alle teilen“. (S. 14 f.)

 

Thomas Feltes, September 2020