Detlef Pollack, Das unzufriedene Volk. Protest und Ressentiment in Ostdeutschland. Rezensiert von Thomas Feltes

Detlef Pollack, Das unzufriedene Volk. Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute. Transcript-Verlag, Bielefeld 2020, 232 S., ISBN: 978-3-8376-5238-3, 20.- Euro.

„…auch heute noch treten die Ostdeutschen vor allem als Klagende, Protestierende und Unzufriedene öffentlich in Erscheinung: Unsere Industrie sei abgewickelt worden, wir würden als Bürger zweiter Klasse behandelt, wir hätten keine eigene Stimme“ – so der Autor in der Einführung zu seinem Buch. Für ihn ist es Zeit, „diese Untugend des „Arme Schweine Kults“ … endlich abzulegen und anzuerkennen, dass es uns heute weitaus besser geht als vor 30 Jahren“ (aaO.). Ostdeutschland als ein vom Westen kolonialisiertes Land der kleinen Leute ohne politisches Gewicht und ohne soziale Anerkennung (S.8) –  mit diesem Vorurteil will Pollack aufräumen und vertritt dazu die These, „dass es sich bei der ostdeutschen Bevölkerung um einen starken politischen Akteur handelt, der sich im Prozess der deutsch-deutschen Wiedervereinigung … sehr wohl ins Spiel zu bringen gewusst hat und es auch noch im Modus des Klagens versteht, sich selbst zu behaupten“ (aaO.).

Eine durchaus steile These, die er noch verstärkt, wenn er schreibt, dass „die Ostdeutschen allerdings doch taktisch so gewieft (sind), dass sie es mit ihrem Wahlverhalten in den Kommunalwahlen des Jahres 2019 verhindert haben, die AfD zur stärksten Partei des Ostens werden zu lassen. Ihre Botschaft lautet offenbar: Wir sind noch einfangbar, wenn Ihr Euch denn ganz arg um uns bemüht“ (S. 9). Satirisch oder sarkastisch gemeint?  Wohl nicht. Denn „die Ostdeutschen“ werden von ihm weder definiert noch differenziert, und wer anders als die ostdeutschen Wähler sollten denn die AfD zur stärksten Partei des Ostens werden lassen? Fremde Mächte? Und bitte schön: Wer soll die Ostdeutschen denn „einfangen“? Wer ist mir „Ihr“ und „Euch“ gemeint, die sich bemühen sollen? Und welches demokratische Verständnis steht hinter dieser Aussage?

Richtig ist, dass sich „die Ostdeutschen“ von der friedlichen Revolution bis heute als durchaus mächtiger politischer Akteur erwiesen haben bzw. erweisen. So ging, und dies belegt Pollack in seiner Studie eindrucksvoll, im revolutionären Umbruch von 1989 die Dynamik nicht von der kleinen Schar der Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen aus, sondern von der Bevölkerung – wobei er sich schwertut, genauer zu beschreiben, was damit gemeint ist und welchen Anteil an „der Bevölkerung“ diejenigen hatten, die am „revolutionären Umbruch“ beteiligt waren. Es sagt zwar, dass es „laut umfangreichen Studien“ für den Erfolg von Protesten ausreiche, wenn drei bis vier Prozent der Gesamtbevölkerung daran teilnehmen. In der DDR seien es weitaus mehr, teilweise mehr als 50% gewesen (S. 225)[1]. Und. „Jüngere Bürger unter 25 und Studierende … spielten keine vordergründige Rolle“ (S. 85). Ob sie eine Rolle im Hintergrund spielten, lässt der Autor dabei offen, ebenso mangelt es wie hier leider oftmals an belastbaren Belegen für solche Aussagen.

Wenn der Klappentext feststellt, dass heute „die ostdeutsche Bevölkerung durch ihr Wahlverhalten und nicht zuletzt durch ihren Opferdiskurs die öffentlichen Debatten“ beherrscht, dann muss man doch die Frage stellen, warum das so ist. Man muss fragen, welche Rolle dabei möglicherweise einerseits das schlechte Gewissen der „Wessis“ spielt, die den Osten nach der Wende ausgebeutet haben. Andererseits muss man genau dieses Gefühl, gegen das der Autor ankämpft, im Westen untersuchen. Das Gefühl oder die Einstellung, die sich so auf den Punkt bringen lassen: „Ihr habt doch jetzt alles, was ihr wollt. Warum jammert ihr immer noch?“.

Am ostdeutschen Protestverhalten – so nochmal der Klappentext – „lässt sich begreifen, wie sich eine Bevölkerung zum Volk konstituiert – unter den Bedingungen einer Diktatur – und wie in der Demokratie die kollektive Selbstermächtigung zum Ressentiment verkommt“. Zwar untersucht Pollack das Protestverhalten selbst durchaus breit und gründlich; was aber fehlt ist eine Analyse des „hier und jetzt“. Leider bleiben dabei zu viele Fragen aus der Strecke, wie z.B. die, ob diese „Konstitution zum Volk“ tatsächlich so abgelaufen ist, und vor allen, wer denn nun dieses „Volk“ ist bzw. wer dazu gehörte und aktuell gehört. Statusgruppen und Modelle sozialer Schichten sind für den Westen gut beschrieben. Vergleichbares für den Osten fehlt. Und: Die „kollektive Selbstermächtigung“ wird dabei auch von ihm selbst relativiert, wenn er beschreibt und belegt, warum letztlich die DDR zusammengebrochen ist – nicht primär wegen der bürgerschaftlichen Proteste, sondern vor allem, weil sie wirtschaftlich am Ende und politisch in sich zerstritten war. Hätten die Politfunktionäre am Ende zusammengehalten, wäre die Sache vielleicht ganz anders und nicht so gewaltfrei ausgegangen.

Es bleibt also noch vieles zu erklären, auch durch Gespräche mit Zeitzeugen, wie sie bspw. vom Zeitzeugenbüro der Stiftung Gedenkstätte Hohenschönhausen dokumentiert werden[2]. Hier wie anderenorts warten noch viele Dokumente auf eine systematische Auswertung.

Insgesamt ist die Studie von Pollack durchaus lesenswert, aber leider unvollständig. Sie hilft bei der Analyse der Entwicklung im Osten Deutschlands weiter, aber nicht unbedingt beim Verstehen des Wahl- oder Alltagsverhaltens der dort derzeit lebenden Menschen. Da sollte man dann doch eher zu den Veröffentlichungen der Studien von Heitmeyer u.a. zu den „Deutschen Zuständen“[3] greifen (die leider nach nur 10 Jahren 2011/12 eingestellt wurden), oder zu den Studien zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“[4] von Andreas Zick und anderen bzw. zu den „Mitte-Studien“, z.B. zur „Verlorenen Mitte“[5] des gleichen Autors.

Es darf, und dies stellt Pollack am Ende seines Buches fest, nicht übersehen werden, dass sich bei einigen Ostdeutschen „dieses Gefühl der Demütigung zu einer dauerhaften Affektlage“ verfestigt hat, „das den Resonanzboden für das politische Handeln der Rechtspopulisten darstellt“. Allerdings dürfe, so Pollack, nicht übersehen werden, „dass die Mehrheit der Ostdeutschen anders tickt und sich in die bundesdeutsche Ordnung eingefädelt hat“ (S. 228 f.). Belegt wird die letzte Aussage leider ebenso wenig wie der Autor genauer die Anteile dieser beiden Richtungen definiert und beschreibt. Dies wäre aber für die Analyse der gegenwärtigen Situation notwendig.

Übrigens kann man den Autor auch im „taz-Talk“ erleben, verfügbar hier: https://www.youtube.com/watch?v=Rj00Hmlb36E

 

Thomas Feltes, September 2020

[1] In einer Fußnote aus S. 79 errechnet der Autor verschiedenste Anteile, von 13% bis zu 470 (!) %.

[2] https://www.stiftung-hsh.de/forschung/zeitzeugenbuero/

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Zust%C3%A4nde

[4] https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/214192/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit

[5] https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie