Christoph Butterwegge, Ungleichheit in der Klassengesellschaft. Rezensiert von Felix Rauls

Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft. PapyRossa Verlag, Köln 2020, 183 Seiten, ISBN 978-3-89438-744-0, 14,90 Euro

Mit „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ gelingt es Butterwegge, einerseits Grundlagen der Ungleichheitsforschung kurz, aber nicht verkürzt darzustellen, und andererseits aktuelle Ausprägungen der Ungleichheit zu beschreiben und analysieren. So nimmt er immer wieder den Umgang mit der Corona-Pandemie zum Anlass, zu kritisieren, in wessen Interesse Politik gemacht wird – nämlich zugunsten Hyperreicher und Unternehmen, zulasten Armer. Andererseits bezieht er auch die grundlegenden Ausführungen auf die aktuelle Situation, wenn er etwa den „schweinischen Kapitalismus“ (in Abgrenzung zum rheinischen Kapitalismus der 1990er) mit Lohn- und Sozialdumping, „skrupellose[r] Leuteschinderei und massenhafte[r] Tierquälerei“ (S. 81 f.) beschreibt und am Beispiel der massenhaften Covid-Infektionen im Schlachtbetrieb von Tönnies festmacht.

Grundlagenlegung

Die Grundlagenlegung erfolgt verständlich – nicht nur, weil er abstrakte Beobachtungen durch konkrete Beispiele greifbar macht, sondern auch, weil er Empirie derart geschickt einbindet, dass sie nicht als erschlagendes Zahlenwerk daherkommt. Hierbei bleibt das Buch, wie Butterwegge selbst anmerkt, auf das Beschreiben des Status Quo begrenzt; Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der Ungleichheitsproblematik möchte er in einem weiteren Band ausführen.

Butterwegge kritisiert, dass in der öffentlichen Debatte der Fokus zu sehr auf der Armut liege, während Reichtum weitgehend unberücksichtigt bliebe. Dabei seien beide jeweils die Seite derselben Medaille – oder, um es mit Brecht auszudrücken: »Reicher Mann und armer Mann, standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär’ ich nicht arm, wärst Du nicht reich.« Den Grund sieht Butterwegge darin, dass Armut ohnehin penibel erfasst werde, wenn es um den Bezug staatlicher Leistungen geht, während sich Vermögende gegen statistische und behördliche Erfassungen zur Wehr setzen könnten.

Mit der neoliberalen Träumerei, dass Reichtum auf eigener Leistung beruhe, räumt Butterwegge auf, indem er darstellt, dass Reichtum zum Großteil auf Erbschaften und nur selten auf eigenem Erwerb beruht. Überhaupt werde das, was gesellschaftlich als Leistung anerkannt werde, nicht an der Erfüllung gesellschaftlicher Erfordernisse, sondern an ökonomischem Erfolg gemessen. Deutlich werde das an dem Umgang mit einerseits gesellschaftlich unerlässlichen (neuerdings „systemrelevant“ genannten) Berufsgruppen wie der unterbezahlten Krankenpflege, andererseits mit gesellschaftlich entbehrlichen, überbezahlten wie dem Investmentbänker*innentum.

Butterwegge will Armut nicht als Folge individuellen Versagens, sondern als notwendiges Strukturelement der kapitalistischen Gesellschaft verstanden wissen. Diese habe sich in jüngerer Vergangenheit immer weiter zugespitzt, durch wilde Spekulationen und Digitalisierung, die letztlich zu einem Kasinokapitalismus geführt habe. Die Folgen – höhere Sozialausgaben – würden durch den Staat übernommen, also verallgemeinert, während die Profite in die Taschen weniger Privater wanderten. Arbeit, von der die Menschen zuverlässig leben können, werde immer weniger, der Ausbau des Niedriglohnsektors habe zu einer Normalisierung prekärer Arbeitsbedingungen geführt. Die Einführung des Mindestlohns sei zwar in der Sache richtig gewesen, wegen seiner Niedrigkeit aber kein geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung.

Der von Butterwegge geforderte Blick auf die Hyperreichen dürfe sich nicht nur auf die Einkommens-, sondern müsse sich mehr auf die Vermögenssituation richten, weil der Gini-Koeffizient in Deutschland beim Vermögen europaweit am höchsten ist (= höchste Ungleichheit), doppelt so hoch wie beim Einkommen. Bei der Betrachtung des Vermögens dürfe nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität eine Rolle spielen, weil Eigentum an Immobilien und Unternehmen mehr gesellschaftliche Macht und Möglichkeiten eröffne als das im Kopfkissen versteckte Bargeld.

Erscheinungsformen der Ungleichheit

Die ungleichen Verteilungsverhältnisse zeigen sich laut Butterwegge besonders im Bereich Wohnen, Gesundheit und Bildung. Damit diese Rezension nicht allzu umfangreich wird, soll sie sich allein mit den Ausführungen zum Faktor Gesundheit beschäftigen. Hier sei schon länger bekannt, dass Herz-Kreislauf- und psychische Erkrankungen in der Unterschicht deutlich häufiger als in der Oberschicht vorkommen, vor allem wegen der Wohnsituation (Gegend, Bausubstanz), der Arbeitsbedingungen und dem Zugang zu medizinischer Versorgung. Das zeige sich auch aktuell am Infektionsrisiko mit Covid, das bei Armen deutlich höher ist. So ergab eine Studie im Auftrag der AOK, dass das Risiko von ALG II-Bezieher*innen für Krankenhausaufenthalte wegen Corona um 84 % erhöht sei.

Covid habe die „Ungleichheit in Deutschland wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht“ (S. 141), die Ungleichheit aber gleichzeitig noch verschärft, weil einerseits Kurzarbeit und Massenentlassungen herrschten, andererseits Großkonzerne und Großanleger Extraprofite machten. Als perfides Beispiel führt Butterwegge den Multimilliardär Thiele an, der zu Beginn der Pandemie billig bei Lufthansa einstieg und nach der Rettung mit Steuergeldern erhebliche (Personal-)Kürzungen durchsetzte.

Nicht nur die wirtschaftlichen Folgen, sondern auch der Lockdown selbst treffe vor allem Nicht-Privilegierte: Tafeln schlossen; Home-Office gab es eher nur in höheren beruflichen Positionen, weshalb die Betreuungssituation Menschen in einfachen Berufsverhältnissen besonders forderte; wegen mangelnder technischer Geräte, bestehender Sprachbarrieren und oft fehlender ruhiger Heimarbeitsplätze hat die Schul- und Kita-Schließung Nicht-Privilegierte besonders hart getroffen.

Für das Konjunkturpaket der Bundesregierung als Reaktion auf den (ersten) Lockdown hat Butterwege wenige lobende Worte übrig: Während Großunternehmen Kredite und Bürgschaften beanspruchen konnten, blieb es für Solo-Selbstständige, kleine und mittlere Unternehmen bei einmaligen Zuschüssen. Auf einen Ernährungszuschlag mussten Hart IV-Beziehende, deren Kinder wegen der Schulschließung kein kostenfreies Mittagessen in der Schule bekamen, vergeblich hoffen. Während für Unternehmen etwa 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt worden seien (und einige unterstützte Unternehmen – wie BMW – gleichzeitig Dividenden ausschütteten), müssten Arbeitnehmende, Studierende, Renter*innen und Transferleistungsbeziehende sich mit 30 Milliarden Euro zufrieden geben. Dabei sei Geld, das bei Bedürftigen lande, der beste Konjunkturmotor, weil es nicht auf dem Konto oder an Börsen lande, sondern sofort investiert werde.

Wichtig ist, dass Butterwegge nicht vergisst, eine der Ursachen für den drohenden Kollaps der Gesundheitsversorgung beim Namen zu nennen: Die Teilprivatisierung und Gewinnorientierung (Butterwegge nennt etwa das Stichwort Fallpauschalensystem) in einem Bereich, der sich nicht betriebswirtschaftlich „rechnen“ kann, nämlich der Gesundheit von Menschen.

Bezug zu Polizei und Sicherheit

Die von Butterwegge behandelten Themen weisen mannigfaltige Bezüge zu den Themenkomplexen Polizei und Sicherheit auf. Es ist bekannt, dass Nicht-Privilegierte ohnehin besonders häufig Adressaten polizeilicher Maßnahmen werden – dies dürfte sich durch die Corona-Einschränkungen und Kontaktbeschränkungen verstärken, weil sie kaum private Rückzugsräume haben.

Andererseits bestehen Zusammenhänge zum Thema Sicherheit: Soziale Ungleichheit, der Ausbau des Niedriglohnsektors und der Abbau des Sozialstaats führen zu Abstiegsängsten. Diese Ängste sind meist diffus und wenig greifbar, weshalb sie häufig auf Kriminalität projiziert werden. Sicherheit muss aber auch weiter verstanden werden als die „Innere Sicherheit“. Sicherheit muss auch soziale Sicherheit umfassen, also die Gewissheit, mit einem Beruf auch armutssicher über die Runden zu kommen, ebenso wie die Sicherheit, nicht in Altersarmut zu landen. Sicherheit muss auch gesundheitliche Sicherheit umfassen.

Butterwegge selbst verdeutlicht ansehnlich den Zusammenhang zwischen Innerer und sozialer Sicherheit: an einer Stelle bezieht er sich auf eine Studie von Wilkinson/Picket (2010), aus der sich ergab, dass „große Einkommensunterschiede zu sozialen Funktionsstörungen führen“, etwa zu einer steigenden Anzahl Inhaftierter (S. 158 f.).

Fazit

Butterwegges Buch ist empörend: Die zum Himmel schreiende ungerecht ungleiche Verteilung von Vermögen in der Welt und der Bundesrepublik ist in den letzten Monaten etwas in Vergessenheit geraten; der Klimawandel und vor allem die Corona-Pandemie sind derzeit mehr im Gespräch. Wer sich das Problem sozialer Ungleichheit vergegenwärtigen möchte, dem*der sei dieses Buch ans Herz gelegt. Sowohl Klimawandel als auch Pandemie stehen zudem in engem Zusammenhang mit dem Thema Ungleichheit, wie Butterwegge auch zu Beginn seines Buches feststellt: Der Kapitalismus und die ihm innewohnende Ungleichheit sind (jedenfalls eine wesentliche) Ursache des Klimawandels. Sozioökonomische Gleichheit hingegen ist Voraussetzung für Gesundheit und Nachhaltigkeit.

Die Forderung nach einer solidarischen Vermögensumverteilung (jüngst etwa von Herbert Grönemeyer in einem DIE ZEIT-Gastbeitrag erhoben), zeigt, dass die Vermögens-Ungleichverteilung bei der Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen nicht vergessen werden darf.

Felix Rauls, November 2020