Laurence Miller. The Psychology of Police Deadly Force Encounters: Science, Practice, and Policy. Illinois 2020

Laurence Miller, The Psychology of Police Deadly Force Encounters: Science, Practice, and Policy. Illinois 2020: Charles C. Thomas Publisher. ISBN 978-0-398-09326-6, 45.- US-Dollar. 287 S.

Nicht nur (aber auch) wegen der in den vergangenen Monaten in den Medien intensiv diskutierten Vorfälle von Polizeigewalt liegt es nahe, sich mit möglichen individuellen und strukturellen Erklärungsversuchen zu beschäftigen. Während dabei bislang vor allem strukturelle Fragen im Vordergrund standen (Stichworte: Gewaltmissbrauch, Rassismus, mangelnde Fehlerkultur), blieb die Frage nach den individuellen, d.h. persönlichen Faktoren, die polizeiliches (Gewalt-)Handeln wesentlich beeinflussen, im Hintergrund. Dabei ist jedes menschliche Handeln nicht nur von externen Faktoren beeinflusst, sondern ganz wesentlich von individuellen Merkmalen und Erfahrungen geprägt. Mit dieser Problematik beschäftigt sich das Buch von Laurence Miller, das in seiner umfassenden Darstellung der Thematik wohl als einmalig angesehen werden kann.

Im Ausland wird ist die Psychologie des Einsatzbeamten zwar durchaus thematisiert, aber auch hier fehlte es an entsprechenden Handreichungen für die Praxis. Hier setzt das Buch von Miller an, das sich zwar dem Titel nach mit der „Psychology of Police Deadly Force Encounters“ beschäftigt, tatsächlich aber viele Aspekte enthält, die auch für allgemeines polizeiliches Handeln und Verhalten von Interesse sind.[1]

Laurence Miller ist klinischer, forensischer und polizeilicher Psychologe in Florida. Er bietet Schulungen für Strafverfolgungsbehörden an und arbeitet als unabhängiger Sachverständiger in Zivil- und Strafsachen in Nordamerika. Er ist außerordentlicher Professor an der Florida Atlantic University und Autor von über 400 Publikationen zu den Themen Gehirn, Verhalten, Strafjustiz, Strafverfolgung, traumatische Behinderung und Arbeitsplatz[2].

Miller betont, dass der Bereich polizeilicher Gewaltanwendung sehr differenziert betrachtet werden muss. Unterschiedliche Disziplinen wie Neurowissenschaften, kognitive Psychologie, Soziologie und Politik spielen dabei seiner Meinung nach eine wichtige Rolle. Miller, der auf eine 30-jährige Erfahrung zurückgreifen kann, stellt die einschlägigen empirischen Daten und theoretischen Modelle polizeilichen Gewalthandelns vor und betont dabei, dass wissenschaftliche Ergebnisse von größter Bedeutung sind, wenn man zu einem rationalen Verständnis der menschlichen Natur (und von Polizist*innen) gelangen und damit praktische Maßnahmen zur Verbesserung der Gesellschaft (und der Polizei) entwickeln will.

Die von Miller dargestellten Ergebnissen aus empirischen Forschungen aus den genannten Bereichen sind zwar primär auf die USA bezogen, sie helfen aber, die Bedeutung der unterschiedlichsten Aspekte für polizeiliches Handeln auch bei uns in Deutschland zu verstehen und einzuordnen. Miller wendet sich auch an Anwälte und Sachverständige, die an umstrittenen tödlichen Gewalt- und anderen Fällen von Fehlverhalten der Polizei arbeiten. Die entscheidende Frage, warum ein/e Beamt*in so gehandelt hat, wie er oder sie es getan hat, und warum die Anwendung von (übermäßiger) Gewalt aus der Sicht dieser Person tatsächlich vernünftig und/oder notwendig erschien, durchzieht dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite.

Das Buch enthält neun Kapitel, die in drei Abschnitte unterteilt sind. In Kapitel 1 werden die Art der polizeilichen Gewaltanwendung, einschließlich tödlicher Gewalt, und einige der in den USA geltenden gesetzlichen Standards erörtert. In Kapitel 2 werden die verschiedenen Umstände, unter denen sich eine Interaktion zwischen Polizei und Bürgern zu einer tödlichen Begegnung entwickeln kann, erörtert. Kapitel 3 befasst sich mit Merkmalen der Einstellung, Persönlichkeit, Ausbildung und Berufserfahrung von Beamten, die dazu führen können, dass einige Beamte häufiger als andere Gewalt als bevorzugte Option in Betracht ziehen. Die Kapitel 4, 5 und 6 befassen sich mit der kognitiven Neurowissenschaft der Notfallreaktion und beschreiben, wie Beamte tödliche Gewalttaten wahrnehmen, darauf reagieren und sich daran erinnern.

Ein genaues Verständnis dieser unterschiedlichen Aspekte ist für die gerechte Beurteilung von Anwendung von Gewalt durch die Polizei von wesentlicher Bedeutung. Eines der Ziele dieses Buches ist es daher, die Kluft zwischen Forschung und Praxis zu überbrücken. Kapitel 7 will sich auf Konflikte zwischen Polizei und Gesellschaft konzentrieren. Hier war eine der ermutigenden Erfahrungen für den Autor die Entdeckung, dass Gehirn- und Verhaltenswissenschaftler die aufgeworfenen Fragen ernst nehmen, um die kognitive Psychologie tödlicher Gewaltaktionen empirisch zu untersuchen. Kapitel 8 beschreibt die Arten von individuellen psychologischen Reaktionen, die Beamt*innen nach der Anwendung von (tödlicher) Gewalt zeigen können, und bietet eine Reihe von Vorschlägen für das praktische Management und die psychologische Beratung dieser Mitarbeiter*innen, einschließlich besonderer Überlegungen für diejenigen Beamt*innen, die zusätzliche Belastungen erleiden. Kapitel 9 befasst sich mit dem rechtlichen Bereich und beschreibt die Struktur und den Prozess einer forensischen psychologischen Bewertung der Strafverfolgung. Es bietet eine Reihe von Empfehlungen zum Umgang mit Belastungen und Herausforderungen.

Insgesamt ist die klare Sprache und Struktur des Buches hervorzuheben. Immer wieder (z.B. auf S. 25) sorgen Grafiken und Tabellen dafür, dass Aspekte (wie hier zu den Faktoren, die beim Einsatz von Polizeigewalt eine Rolle spielen oder später auf S. 52 andere Variablen, die bei solchen Situationen eine Rolle spielen) übersichtlich zusammengestellt werden.  Miller behandelt intensiv bestimmte Einsatzsituationen, in denen der Einsatz von Polizeigewalt wahrscheinlich ist (z.B. bei Personen, die durch Drogen oder Alkohol beeinflusst oder psychisch gestört sind, S. 39 ff.). Auch das Thema „Suicide by Cop“ wird ausführlich behandelt (S. 44 ff.), ein Thema, das für uns in Deutschland (noch?) nicht die Relevanz besitzt wie dies in den USA der Fall ist.

Vor allem aber beschäftigt sich Miller intensiv mit der Frage, warum sich Polizeibeamt*innen falsch verhalten (S. 59 ff.). Er geht dabei anhand verschiedener psychologischer und organisatorischer Modelle an diese Frage heran. Seine Darstellung von „traits, types and disorders“ in den Persönlichkeiten von Polizeibeamt*innen sollten auch und gerade in Deutschland genau gelesen werden, sind sie doch mehr oder weniger direkt auf unsere Situation übertragbar. Und ja, auch bei Polizeibeamt*innen gibt es psychologische Störungen oder sogar Krankheiten, die sich auf ihr Verhalten auswirken (können), auch wenn diese (wie wohl auch in den USA) nur selten erkannt werden (S. 70 ff.).

Miller kommt dann zu dem ebenso überraschenden wie erschreckenden Ergebnis, dass (in den USA) 35% der Beamten „bad boys in blue (and a few bad girls)“ sind (S. 65), d.h. Beamt*innen, die regelmäßig gegen Gesetze und Vorschriften verstoßen, denen man aber weder mit individuellen, noch mit strukturellen Maßnahmen helfen kann. Es sind, so Miller, wohl genau diese 35%, die das Image der Polizei nachhaltig schädigen. Ob auch bei uns rund ein Drittel der Beamt*innen zu dieser Gruppe gehören, die man nicht mehr positiv beeinflussen kann, wissen wir nicht. Allerdings ist nicht der prozentuale Anteil das entscheidende Problem, sondern die Frage, wie mit diesen Beamt*innen umgegangen werden sollte.

Sehr ausführlich behandelt Miller auch die Entscheidung, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen oder eben nicht (S. 109 ff.). Dabei behandelt er dieses Thema von verschiedenen Seiten: Neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden dazu ebenso vorgestellt wie psychologische und organisationsstrukturelle. Danach geht er dann auf die individuellen Folgen für Beamt*innen ein, die exzessive Gewalt angewendet haben.

Insgesamt hat Miller hier ein Buch vorgelegt, dessen Übersetzung man sich ins Deutsche wünschen würde, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass es von einem US-amerikanischen Autor stammt und auf die Situation in den USA bezogen ist. Denn die grundlegenden Überlegungen zur Psychologie der Gewaltanwendung (und zwar nicht nur der tödlichen, wie es der Titel suggeriert) gelten ebenso für Deutschland und genau so auch die Konsequenzen und Maßnahmen, die Miller für die Organisation Polizei vorschlägt.

Ein Buch, das jede/r Einsatztrainer*in der deutschen Polizei ebenso lesen sollte wie jede Führungsperson. Vielleicht findet sich auch ein deutscher Verlag, der die Übersetzung ermöglicht. Es wäre zu wünschen.

Thomas Feltes, Dezember 2020

[1] Ein Blick in das Buch sowie das Inhaltsverzeichnis stehen hier zur Verfügung. http://www.mys1cloud.com/cct/ebooks/9780398093266.pdf

[2] Einige Beiträge von Miller finden sich hier: https://www.police1.com/columnists/laurence-miller/