Islam Qerimi, Gewohnheitsrecht in Albanien – Rolle und Herkunft des Kanun bei den Albanern. Rezensiert von Lars Dippel

Islam Qerimi, Gewohnheitsrecht in Albanien – Rolle und Herkunft des Kanun bei den Albanern. Bearbeitete und vervollständigte Neuausgabe, Diplomica Verlag, Hamburg 2018, ISBN 978-3-95993-073-4, 16,99 Euro.

Mit dem Kanun, dem Gewohnheitsrecht der Albaner, wird in der Regel das Institut der Blutrache verbunden. Vor dem geistigen Auge hat man das Bild jener dunkelhaarigen schnauzbärtigen Männer, die mit blutunterlaufenen Augen, blanke Messer in den Händen haltend, anderen nach dem Leben trachten. Dass dies dem Reich der Märchen und blühenden Phantasie entspringt, dürfte jedem halbwegs denken Menschen einleuchten. Aber mit Schubladen und Vorurteilen lässt es sich eben auch bequemer leben. Die Abhandlung von Qerimi setzt sich mit diesem Merkmal des Gewohnheitsrechts kritisch, jedoch auch erläuternd auseinander, ohne das Phänomen der Blutrache zu rechtfertigen.

Das Werk mit seiner Neubearbeitung und Vervollständigung ist mit seinem Seitenumfang von nur 46 Seiten übersichtlich und stellt jedoch in erfreulicher Kürze die Grundzüge des albanischen Gewohnheitsrechts, Kanun genannt, dar. Hierbei spart der Autor auch nicht mit einem kurzen historischen Überblick, wobei er auch auf die mögliche Herkunft bzw. Abstammung der Albaner von den Illyrern hinweist. Hierbei stellt er auch klar, dass auch die Illyrer irgendwann einmal in das jetzige Siedlungsgebiet der albanisch sprechenden Menschen einwanderten. Er weist hierbei darauf hin, dass auch jene Stämme ihre Sitten und Gebräuche als Hauptquellen des Rechts hatten und somit quasi die Basis für die Herausbildung des dann später entstehenden albanischen Gewohnheitsrechts bildeten.

Im Zusammenhang mit der historischen Darstellung stellt der Autor auch eine Selbstverständlichkeit dar, die jedoch gerade in Nordeuropa stark in Vergessenheit geraten ist: „In jedem Land oder Staat gibt es Juristische Quellen, die zum Teil in schriftlicher oder in nicht schriftlicher Form bestehen.“ (S. 9). Selbstverständlich ist es deshalb, da es sowohl bei den Germanen wie auch den Wikingern, den Sachsen und allen anderen Völkern, die ja bekanntlich keine homogen geschlossene Masse waren, sondern aus unterschiedlichsten Stämmen bestanden, ein Gewohnheitsrecht gab.
Ohne dies explizit auszudrücken sagt der Autor nichts anderes als dass, was das albanische Gewohnheitsrecht ist. Es ist als gleichrangig mit allen anderen Gewohnheitsrechten anzusehen. Der feine Unterschied besteht jedoch darin, dass es bis in unsere Zeit überdauert hat und wohl in einigen Bereichen auch noch Anwendung findet.

Ebenfalls liefert der Autor einen Erklärungsansatz, warum das albanische Gewohnheitsrecht so lange überleben konnte. Er führt dies auf die wechselnde Besetzung der albanischen Territorien durch unterschiedliche andere Völker mit jeweils unterschiedlichen, teilweise religiös stark bestimmten, rechtlichen Regelungen zurück. Das Festhalten an dem Gewohnheitsrecht jedenfalls ergänzte die jeweiligen fremden Rechtsnormen. Teilweise führt der Autor an habe sich auch ein Parallelsystem ergeben. Ebenfalls führt er dies auch auf die geographischen Gegebenheiten der Siedlungsgebiete zurück. In früherer Zeit waren viele der Täler und Gegenden, in denen albanisch-sprachige Menschen siedelten, nicht oder kaum durch staatliche Stellen zu erreichen. Kann also ein staatliches Recht praktisch nicht durchgesetzt werden um Haus und Hof der Menschen zu schützen, so muss es für ein gesellschaftliches Miteinander andere Wege geben. Eine Gesellschaft gibt sich eigene Regeln. Auch dies ist keine neue Erkenntnis. Und so, der Autor, war es auch mit dem albanischen Gewohnheitsrecht.

Interessant wäre in diesem Zusammenhang sicherlich die Beantwortung der Frage, inwiefern die geographische Abgeschiedenheit in der heutigen Zeit Einfluss auf die mehr oder weniger starke Anwendung des Gewohnheitsrechts hat. Hierüber hinaus vertritt er auch die nachvollziehbare These, dass dieses Gewohnheitsrecht, der Kanun, irgendwann auch Teil der eigenen (kulturellen) Identität wurde und so die Jahrhunderte überdauern konnte. Mit dem Kanun seien zugleich sowohl Sprache wie Kultur der Albaner bewahrt worden. Hochinteressant ist die sehr kurze Darstellung der Bedeutung des Worts „Kanun“ und seine sprachliche Herkunft. Überrascht wird sich der Leser auch zeigen, dass es nicht ein einheitliches Gewohnheitsrecht gibt, sondern insgesamt vier Hauptströmungen, die der Autor kurz, jedoch zugleich sehr tief darstellt.

In Teil vier der Darstellung wendet sich der Autor dem Inhalt des Gewohnheitsrechts zu. Hierbei unterteilt er in positive und negative Besonderheiten. Zu den positiven Besonderheiten zählt er das Ehrenwort, die Gastfreundschaft, der Schutz (des Gastes auch außerhalb des Hauses), die Ehre und die Mannhaftigkeit. Bei den negativen Merkmalen geht der Autor tief auf das Instrument der Blutrache und die Ungleichheit ein, wobei er sich sehr intensiv mit der Ungleichheit der Frau im albanischen Gewohnheitsrecht auseinandersetzt. Ganz klar positioniert sich der Autor bei den negativen Merkmalen, insbesondere bei der systembedingt angelegten Ungleichbehandlung der Frau. Der Autor lehnt dies offenkundig klar ab.

Der letzte Punkt ist für Juristinnen und Juristen, aber auch für jeden anderen Leser, sehr interessant. Ergibt sich hierdurch doch gerade für Juristinnen und Juristen ein Einblick für die möglichen Gründe einer Abweichung von vor Ort geltenden Normen durch Einwanderer in der jeweiligen Diaspora. Da das Werk nur eine Darstellung von Rolle und Herkunft des Gewohnheitsrechts ist, geht der Autor verständlicherweise hierauf nicht ein. Dies würde auch den physischen Rahmen dieses Werkes sprengen, obschon es gerade unter dem Gesichtspunkt der Migrationsbewegungen unserer Zeit eine Untersuchung wert wäre.

Bezogen auf die Blutrache ergibt sich ein bemerkenswerter Denkansatz. Der Autor vertritt die Auffassung, dass die Blutrache, ohne diese zu rechtfertigen, nicht realitätsfremd sei. So sieht er beispielsweise die heute noch bestehende Todesstrafe in den USA, Japan und China gleichrangig mit der Blutrache, auch wenn diese eine Form von Selbstjustiz sei.

Verfolgt man die durch den Autor aufgeworfene These weiter, so dürfte sich tatsächlich kein Unterschied darstellen. Im ersten Fall, staatliche organisierte Todesstrafe, wie auch im zweiten Fall, der Blutrache, scheint sich eher ein archaisches Denken im Sinne eines längst überkommen geglaubten alttestamentarischen Aug um Aug Prinzips zu verstecken.

Insgesamt ist diese kleine Abhandlung, die im Fußnotenapparat durch Quellenangaben belegt ist, eine lesenswerte Darstellung und Kurzeinführung in das auch heute noch in der Tradition tiefverwurzelte albanische Gewohnheitsrecht, wobei die Gastfreundschaft der albanischen Menschen nicht nur legendär, sondern vor allem gelebte (positive) Tradition grundfreundlicher Menschen ist.

Verständlich wird erklärt, warum das Gewohnheitsrecht, im Vergleich zu anderen Völkern, bis in unsere heutige Zeit überleben konnte. Genauso wird dargestellt, dass der Kanun sehr fein ausdifferenziert ist und den Vergleich mit anderen Völkern und Kulturen in keiner Weise scheuen muss. Er ist im historischen Kontext als absolut gleichrangig anzusehen.

Lars Dippel, Januar 2021