Sanja Kutnjak Ivkovich u.a.: Police Integrity in South Africa. Rezensiert von Thomas Feltes

Police Integrity in South Africa. Sanja Kutnjak Ivkovich, Adri Sauerman, Andrew Faull, Michael E. Meyer, Gareth Douglas Newham. London, New York (Routledge) 2020, 256 Seiten. ISBN-10: 1138639656, ISBN-13: 978-1138639652. Gebundene Ausgabe ca. 140.- Euro, e-book ca. 40.- Euro.

Polizeiliche Integrität ist ein Thema, das seit vielen Jahren weltweit diskutiert wird. Selten aber gibt es dazu (auch) empirische Studien. Eine solche wird hier für Südafrika vorgelegt, natürlich vor dem besonderen historischen und gesellschaftlichen Hintergrund dieses Landes, aber mit Ergebnissen, die auch die Diskussion über die Situation in Deutschland anregen können. Und dabei geht es nicht nur um die Tatsache, dass überhaupt eine solche Studie durchgeführt werden konnte (was in Deutschland heftig umstritten war[1]), sondern auch, wie diese Studie von Kutnjak Ivkovich u.a.  methodisch und analytisch aufgebaut ist.Die Studie beschäftigt sich mit der Entwicklung und der Dynamik, die polizeiliches Fehlverhalten in den 25 Jahre seit der Gründung des South African Police Service (SAPS) beeinflusst hat. Das Buch selbst ist in 10 Kapitel gegliedert:

  • Chapter 1: Studying Police Integrity in South Africa
  • Chapter 2: The Origin and Functions of the Police in South Africa: From Colonialism to Democracy
  • Chapter 3: Transition to a Police Service: From Enforcer to Protector
  • Chapter 4: South African Policing through Normative and Legal Boundaries
  • Chapter 5: Policing the Police: Internal Control of Police Misconduct
  • Chapter 6: Curtailing the Code of Silence
  • Chapter 7: Apartheid Aftershock: Race, Police, and Police Integrity
  • Chapter 8: Gender (In)Equality within the SAPS
  • Chapter 9: Police Integrity across Rank and File
  • Chapter 10: Police Integrity in the South African Context

Eine Zusammenfassung des Inhalts sowie eine Kommentierung der Inhalte findet sich auch bei YouTube.

Die Demokratisierung und Professionalisierung der Polizeiarbeit in Südafrika war eine Priorität für die erste demokratische Regierung des Landes. Das SAPS wurde ein Jahr nach den Wahlen von 1994 gegründet und sollte alles sein, was die elf Polizeiinstitutionen des Apartheidsystems nicht waren: dienstleistungsorientiert, rechtsstaatlich, kriminalitätsorientiert, zurückhaltend, vertrauenswürdig, transparent und rechenschaftspflichtig. Obwohl zahlreiche Reformen abgeschlossen und große Fortschritte erzielt wurden, gibt es Hinweise, dass das SAPS nach wie vor eine durch Fehlverhalten gekennzeichnete Organisation ist.

In der vorgelegten Studie werden Gesetze und Vorschriften zur Integrität der südafrikanischen Polizei ebenso untersucht wie die einschlägigen historische Ereignisse in Südafrika in die Analyse einbezogen werden. Die Analyse der Gesetze und Regeln, die das Fehlverhalten der Polizei verbieten, zeigt, dass das Problem des Polizeimissbrauchs nicht in rechtlichen oder politischen Lücken besteht. Tatsächlich enthalten die einschlägigen Gesetze ebenso wie der SAPS-Verhaltenskodex und die Disziplinarbestimmungen ausreichend Vorschriften zur Verhinderung und Bekämpfung polizeilichen Fehlverhaltens.

Behandelt und untersucht werden auch die interne (S. 136 ff.9 und externe (S. 88 ff.) Kontrolle der Polizei. Der Kernbereich aber ist eine landesweite Befragung von fast 900 SAPS-Angehörigen. Diese Polizeibeamt*innen bieten mit ihren Antworten Einblicke in Faktoren und Dynamiken, die ihre Einstellungen und ihr Verhalten beeinflussen. In der Umfrage, die auf der Organisationstheorie der Integrität der Polizei basiert, wurden die Beamt*innen gebeten, 14 hypothetische Szenarien (beschrieben auf S. 21 f.) zu bewerten, die polizeiliches Fehlverhalten beschreiben. In einem Szenario begeht beispielsweise ein/e Beamt*in an einen Tatort einen Diebstahl, in einem anderen Fall schießt der/die Beamt*in nach einer gewaltfreien Konfrontation einen flüchtenden Verdächtigen in den Rücken. Die Ergebnisse zu den jeweiligen Szenarien werden auf S. 289 ff. des Buches ausführlich dargestellt.

In der Umfrage wurde zudem die Vertrautheit der Beamten mit den SAPS-Regeln, ihre Erwartungen an die Strafe für solche Handlungen sowie ihre Bereitschaft und die Bereitschaft ihrer Kolleg*innen, ein solches Fehlverhalten zu melden, untersucht. Während eigentlich jede/r Beamt*in erkennen sollte, dass Diebstahl an einem Tatort, das rechtswidrige Erschießen von Personen, das Akzeptieren von Bestechungsgeldern sowie das Fälschen von offiziellen Formularen (Szenario-Beispiele) Verstöße gegen einschlägige Vorschriften darstellen, waren zwischen 15% und 30% der befragten Beamt*innen nicht dieser Auffassung, hielten das Verhalten also für zulässig. Beispielsweise war einer von vier Befragten unsicher, ob das rechtswidrige Schießszenario einen Verstoß gegen die SAPS-Regeln darstellt. Jeder Dritte konnte nicht erkennen, dass das Schlagen eines mit Handschellen gefesselten Mannes in die Nieren oder das wiederholte Schlagen und Treten eines wegen Kindesmissbrauchs verhafteten Mannes gegen institutionelle Regeln verstieß. So waren sich auch die meisten Befragten nicht sicher, ob die Ansprache eines Autofahrers als „Arschloch“ einen Verstoß gegen die SAPS-Regeln darstellt.

Um die Ergebnisse zu interpretieren, haben die Autor*innen die Umfrageergebnisse in den sozialen und historischen Kontext des Landes gestellt und analysiert. Sie heben hervor, dass in der Vergangenheit selbst hochrangige Politiker der Regierungspartei die Polizei offen dazu ermutigt haben, „zu schießen, um zu töten“. Und in jüngerer Zeit, nachdem die Polizei 34 Bergleute in Marikana getötet hatte, versuchte die SAPS-Führung, dies zu vertuschen.

Die Tatsache, dass viele Beamt*innen solches Verhalten nicht als Regelverstoß beurteilen, kann, so die Autor*innen, auf verschiedene Arten erklärt werden. Einige Beamte sind möglicherweise nicht mit den offiziellen Regeln vertraut; alternativ kann eine inkonsistente Durchsetzung von Regeln durch Vorgesetzte zusammen mit der Missachtung von Regeln und Gesetzen durch führende Polizei- und Regierungschefs die Wirksamkeit der Regeln in der Basis untergraben. Die Daten deuten auch darauf hin, dass die Nichtbeachtung von Fehlverhalten im SAPS durch einen starken „Code of Silence“ unterstützt wird. Es gibt ein gemeinsames Verständnis, dass man Verstöße anderer nicht meldet und bei Ermittlungen gegen sie nicht kooperiert.

Für jedes Szenario in der Umfrage wurden die Beamt*innen auch gefragt, wie wahrscheinlich es sei, dass sie und ihre Kolleg*innen das beschriebene Fehlverhalten melden. Obwohl 90% angaben, dass sie selbst schwerwiegendes Fehlverhalten melden würden, waren zwischen 20% und 40% der Ansicht, dass die meisten anderen SAPS-Beamt*innen dies nicht tun würden. Und obwohl die in acht der 14 Szenarien beschriebenen Verhaltensweisen eigentlich zur Entlassung eines/r Beamt*in führen sollten, erwartete die Mehrheit der Befragten die Entlassung in nur einem einzigen Szenario – der Annahme eines Bestechungsgeldes von einem rücksichtslosen Fahrer.

Die Autor*innen des Buches weisen auch darauf hin, dass die Hälfte der Südafrikaner glaubt, dass die meisten Polizisten korrupt sind und zwei Drittel ihnen nicht vertrauen. Obwohl 2018/19 mehr als 5.000 formelle Beschwerden gegen die Polizei eingereicht und 535 Mio. Rand (ca. 30 Mio. Euro) an Opfer von Fehlverhalten der Polizei auf Schadensersatz ausgezahlt wurden, wurde lediglich knapp 1% der fast 193.000 SAPS-Mitarbeiter*innen einem förmlichen Disziplinarverfahren unterzogen. Von den knapp 1.900 Beamten, gegen die Disziplinarverfahren eröffnet wurde, wurden 47% nicht sanktioniert. Es sei daher nicht verwunderlich, dass die meisten Befragten nicht damit gerechnet hätten, auch wegen schwerwiegenden Fehlverhaltens entlassen zu werden. Ähnlich vorhersehbar war nach der Auffassung der Autor*innen, dass so viele SAPS-Mitglieder in den ersten Wochen der COVID-19-Sperrung in Südafrika ihre Autorität missbrauchen würden[2].

Im Ergebnis fordern die Autor*innen der Studie, dass Führungskräfte besser ausgewählt und geschult werden müssen. Führungskräfte müssten bereit sein, Fehlverhalten zu erkennen und darauf zu reagieren und diejenigen, die Vorschriften übertreten, zur Rechenschaft zu ziehen. Sie müssten in der Lage sein, den Schweigekodex der Organisation zu brechen und sich für den Aufbau einer Kultur der polizeilichen Integrität einzusetzen. Deprimierend ist dann aber die Feststellung der Autor*innen am Ende, dass es zwar viele polizeiliche Führungskräfte gebe, die dazu in der Lage seien; eine unangemessene politische Einmischung im Laufe der Jahre habe aber deren Bemühungen untergraben.

Thomas Feltes, Februar 2021

[1] Vgl. dazu das Interview mit der Leiterin der vom BMI in Auftrag gegebenen Studie Anja Schiemann bei lto.de  https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/polizei-studie-rechtsextremismus-gewalt-rassismus-antisemitismus-bmi-seehofer-dhpol/

[2] Vgl. https://issafrica.org/iss-today/insight-into-the-integrity-of-south-africas-police