Alex S. Vitale, The End of Policing. Rezensiert von Thomas Feltes

Alex S. Vitale, The End of Policing. Verso-Verlag London/Brooklyn, 2017, 266 S. (Taschenbuch) ISBN 9781784782894 (Hardcover); Preise: Taschenbuch 3,90 £ (beim Verlag; bei Amazon 12,49 Euro), gebunden 16,99 £ , E-Book 7,79 £.

Selten schafft es ein Buch zu einem eigenen Eintrag bei Wikipedia. Alex S. Vitale`s Werk hat dieses Kunststück vollbracht. Das mag dem (vielleicht zu) provozierenden Titel zu verdanken sein, zeigt aber, dass das Thema einer grundlegenden Reform der Polizei eines ist, das die Gemüter leicht erhitzt. Dabei wird dann die eigentliche Aussage eines Buches ebenso gerne mal falsch eingeschätzt wie Details übersehen werden.

Der Beitrag bei Wikipedia betont neben dem Schwerpunkt vor allem die unterschiedliche Rezeption des Werkes: “The book was met with mixed critical reception by academics and reviewers, including praise for Vitale’s writing style and level of research, but criticism that his suggested political approaches needed further development. The book was variously criticized as not arguing against all forms of policing, or as failing to acknowledge research which suggests that police reduce the rate of crime” (Wikipedia aaO.).

Tatsächlich kann man das Buch durchaus unterschiedlich beurteilen, aber das trifft wohl auf jedes wissenschaftliche Werk zu. Dabei sind die Kritiken, zumindest soweit Wikipedia sie wiedergibt, nicht grundlegend ablehnend, sondern betonen nur, dass das Buch verschiedene Aspekte nicht oder unzureichend beachtet hat. Es lohnt sich also, einmal genauer hinzusehen.

Die „message“ des Buches geht praktisch schon aus seinem Cover hervor: „The problem is not police training, police diversity, or police methods. The problem is the dramatic and unprecedented expansion and intensity of policing in the last forty years, a fundamental shift in the role of police in society. The problem is policing itself”.

Und genau darum geht es: Vitale´s These ist, dass es nicht ausreicht, an Stellschrauben wie Polizeiausbildung, Einsatzmethoden oder Diversitäts-Trainings zu drehen; stattdessen muss grundlegend in Frage gestellt werden, wie sich die Polizei – oder besser gesagt: das Polizieren – in den vergangenen 40 Jahren entwickelt hat. Den Begriff des Polizierens hatten Jo Reichertz und ich schon vor vielen Jahren geprägt um deutlich zu machen, dass es nicht ausreicht, Polizeiarbeit i.e.S. anzusehen, d.h. sich ausschließlich mit der Institution Polizei zu befassen. 2019 haben wir dies nochmals beschrieben. Mit der Reihe „Polizieren. Polizei, Wissenschaft und Gesellschaft“ im Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt, hatten wir auch eine Plattform geschaffen, um diese Aspekte zu diskutieren, zuletzt im Zusammenhang mit Polizei und Rechtsextremismus und Rassismus (auch auf diesen Aspekt geht Vitale in seinem Buch ein, ab S.28).

Auf der website des Verso-Verlages (der das Buch als Taschenbuch übrigens derzeit für nur 3.90 Pfund verkauft) findet sich dieses Zitat auf einer Besprechung von Ruth Wilson Gilmore, Professor am CUNY Graduate Center: “The End of Policing combines the best in academic research with rhetorical urgency to explain why the ordinary array of police reforms will be ineffective in reducing abusive policing. Alex Vitale shows that we must move beyond conceptualizing public safety as interdiction, exclusion, and arrest if we hope to achieve racial and economic justice.”

Gilmore betont dabei zurecht zwei wichtige Aspekte: “the best in academic research” und „rhetorical urgency“, und genau diese beiden Punkte zeichnen das Buch aus: Es baut auf wissenschaftlichen Studienergebnissen auf und stellt die Ergebnisse in eindrucksvoller und gut lesbarer Art und Weise dar. Inhaltlich ist für Polizeiwissenschaftler eigentlich nichts Neues dabei; es ist aber die Intensität und Klarheit, mit der Vitale seine Argumente verdeutlicht.

Vitale setzt dabei an den Grundfesten polizeilicher Arbeit an: Er beginnt mit der „warrior mentality“ und dem verbreiteten Glauben innerhalb dieser Institution, „that entire communities are disorderly, dangerous, suspicious, and ultimately criminal“ (S. 3) und hält sich nicht bei dem Thema exzessive Polizeigewalt auf, da er das nur als „tip of the iceberg of over-policing“ ansieht (aaO.).

In den Kapiteln des Buches werden diese Schwerpunkte behandelt:

  1. The Limits of Police Reform
  2. The Police Are Not Here to Protect You
  3. The School-to-Prison Pipeline
  4. “We Called for Help, and They Killed My Son“
  5. Criminalizing Homelessness
  6. The Failures of Policing Sex Work
  7. The War on Drugs
  8. Gang Suppression
  9. Border Policing
  10. Political Policing

Conclusion

Jedes dieser Kapitel stellt schlaglichtartig die für das Thema wichtigen wissenschaftlichen Studienergebnisse vor und zieht daraus kriminalpolitische Schlüsse. Dabei geht es auch darum, dass Kriminalitätsbekämpfung nur einen kleinen Teil polizeilicher Aufgaben ausmacht – eine Selbstverständlichkeit, die ich bereits vor mehr als 30 Jahren mit meiner Studie zu Notrufen und Funkstreifenwageneinsätzen verdeutlicht hatte, die aber noch immer nicht angemessen wahrgenommen, geschweige denn umgesetzt wird. Wenn Polizeibeamte ihre Arbeit als „99 percent boredom and 1 percent sheer terror“ beschreiben (S. 31), dann wird auch deutlich, warum dieser „Terror“ die individuelle Wahrnehmung ebenso bestimmt wie er die öffentliche Diskussion in die falsche Richtung leitet.

Letztlich geht es Vitale nicht darum, die Polizei abzuschaffen – wie man aus dem Titel des Buches fälschlicherweise schließen könnte. Vielmehr will er erreichen, dass sich die Polizei auf den Kernbereich ihres Handelns besinnt, Aufgaben, die von anderen (Institutionen) besser erledigt werden können, von diesen übernommen werden und der „war on crime“ in den angemessenen sozial- und gesellschaftspolitischen Kontext gestellt wird.

Ein Buch, das man auch und gerade jetzt lesen sollte, und zwar nicht nur, weil der Preis erschwinglich ist, sondern weil es direkt und unmittelbar die Diskussion betrifft, die wir derzeit in Deutschland führen.

Thomas Feltes, Februar 2021