Daniel Ricker, Anfangsverdacht und Vorurteil. Rezensiert von Thomas Feltes

Daniel Ricker, Anfangsverdacht und Vorurteil. Eine strafprozessrechtliche Untersuchung, Schriften zum Prozessrecht (PR), Band 272, Duncker & Humblot, Berlin 2021, 215 S., ISBN 978-3-428-18142-1, 69,90 Euro.

Dem strafprozessualen Anfangsverdacht kommt in vielfacher Hinsicht eine Schlüsselfunktion für das Ermittlungsverfahren zu. Von ihm sind Ermittlungsmaßnahmen ebenso abhängig wie die Entscheidung, ob überhaupt Ermittlungen eingeleitet werden. So hat bspw. die Staatsanwaltschaft Düsseldorf am 17.02.2021 Ermittlungen gegen den Vorsitzenden einer Polizeigewerkschaft abgelehnt, weil sie für die Vorwürfe von Untreue und Insolvenzverschleppung „nicht nur keine Anhaltspunkte gefunden“ hatte; vielmehr seien diese Vorwürfe teilweise „auch widerlegt“. Wie allerdings keine Anhaltspunkte gefunden und Vorwürfe widerlegt werden können, ohne dass ermittelt wurde, verrät die Staatsanwaltschaft nicht.

Schon dieses Beispiel macht deutlich, welche bedeutsame Rolle der sog. „Anfangsverdacht“ in unserem Rechtssystem und dort besonders für die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft spielt.  Dieser herausragenden Bedeutung werden, und dies ist eine der wesentlichen Feststellungen des Autors, seine unscharfen Voraussetzungen nicht gerecht. So bilde der Verdachtsgrad infolge des Rückgriffs auf den Maßstab diffuser »kriminalistischer Erfahrung« ein Einfallstor für Vorurteile. Damit greift Ricker ein Thema auf, das auch in anderen Zusammenhängen immer wieder eine Rolle spielt. Wenn es beispielsweise um Razzien in Shisha-Bars oder gegen Rocker geht, wird regelmäßig auch auf diese „kriminalistische Erfahrung“ verweisen, zumeist jedoch ohne dass sie angemessen und nachvollziehbar belegt wird. Selbst Gerichte verlassen sich (zu) oft auf die Behauptung, etwas sei durch „kriminalistische Erfahrung“ belegt, ohne dass sie entsprechende Nachweise verlangen.

Selbst das BKA nimmt auf diesen nebulösen Begriff Bezug, wenn es Rockerkriminalität „über die Motivation für die begangenen Straftaten, die in direktem Zusammenhang mit dem Motorradclub steht“, definiert. Für diese Zuordnung reiche „die durch kriminalistische Erfahrung untermauerte Betrachtung des Tatgeschehens“ (ausführlich dazu bereits Albrecht in lto online 2014). Damit bewegt sich, wie wir ebenfalls am Beispiel von Rockergruppierungen festgestellt haben (Feltes/Reiners in KrimJ 2018), polizeiliches Handeln oftmals am Rande der Legalität oder überschreitet es auch, wenn Razzien aus dem Ruder laufen, Räumpanzer eingesetzt oder unbeteiligte Kinder und Familienangehörige verletzt werden. Diese Erfahrung wird dann auch mal so formuliert und medial vermittelt: „Wo Hells-Angels aktiv sind, wird in der Regel mit Drogen gedealt. Das lehrt die kriminalistische Erfahrung“ (Oliver Huth, OK-Ermittler im LKA Düsseldorf).

Aber zurück zur Arbeit von Ricker, die zeigt, dass Grenzen, die aufgrund von verfassungs-, völker- und europarechtlichen Demarkationslinien gezogen werden müssen, vor allem dann nicht berücksichtigungsfähig sind, wenn sie an personenbezogene Merkmale anknüpfen. Ricker gelangt auch auf der Grundlage kriminologischer Studien zu dem Ergebnis, dass die rechtlichen Grenzen einer vorurteilsbedingten Anfangsverdachtsschöpfung teilweise systematisch missachtet werden.

Einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung bildet die Auswertung sowie Systematisierung einschlägiger strafprozessrechtlicher Rechtsprechung. Der Autor will zudem den Wechselwirkungen zwischen Vorurteilen und dem strafprozessualen „Verdachtsmanagement“ und den anderen, die StPO beherrschenden Verdachtsgraden nachgehen. Hierfür beschäftigt sich Ricker zu Beginn mit der Bedeutung des Anfangsverdachts (2. Kapitel). Zuvor hatte er an mehreren Fällen aus der Praxis beispielhaft deutlich gemacht, welche Facetten Ermittlungen, die auf einem Anfangsverdacht basieren haben können. Zusammenfassend stellt er dazu fest: „Bei sorgfältiger Betrachtung … tritt neben der Impertinenz des behördlichen Auftretens eine weitere Gemeinsamkeit der Geschehnisse zu Tage, … der blinde Verfolgungseifer“ (S. 36, Hervorh. TF). In vielen Fällen sei eine Umschreibung des Anfangsverdachts als Auslöser sowie Voraussetzung strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen „unzulänglich, da unzureichend“ (S. 62).

Demgegenüber gäbe es kaum strafrechtswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Zusammenhang zwischen der Begründung des Anfangsverdachts sowie Vorurteilen. Dieser Befund überrasche insbesondere dann, wenn man sich die Aktualität und Brisanz der dargelegten „rechtsstaatlich „hemdsärmeligen“ Vorgehensweise“ (S. 37) sowie die vielgestaltigen Erscheinungsformen des Phänomens und die zahlreichen Forschungsdesiderate sowie die sich aufdrängenden Fragen vor Augen führe. Ricker stellt daher u.a. die folgenden Fragen (aaO.): „Wird der Anfangsverdacht in Deutschland systematisch auf Vorurteile gestützt? Erlaubt die Rechtsordnung der Bundesrepublik wenigstens faktisch eine Berücksichtigung von Vorurteilen bei der Anfangsverdachtsbegründung? Was versteht man exakt unter einem Vorurteil? Können Entwicklungslinien in der einschlägigen deutschen Rechtsprechung ausgemacht werden? Kann der Terminus „Anfangsverdacht“ trennscharf definiert werden?“.

In der Studie werden im 3. Kapitel die von der Strafprozessordnung, der Wissenschaft und Rechtsprechung formulierten Anforderungen an den Verdachtsgrad und dessen Gewinnung herausgearbeitet, sowie auf ihre Vereinbarkeit mit einer von Vorurteilen bestimmten Verdachtsbegründung hin überprüft. Danach werden einschlägige kriminologische und rechtssoziologische Studien ausgewertet vor dem Hintergrund der Frage, ob man bei uns von einer vorurteilsbedingt selektiven Annahme des Anfangsverdachts ausgehen muss (4. Kapitel), was der Autor im Ergebnis bejaht. Im Kapitel 5 wird dann die einschlägige Rechtsprechung einer eingehenden Analyse unterzogen, bevor eine Zusammenfassung sowie konkrete Reformvorschläge (6. Kapitel) den Abschluss der Arbeit bilden.

„Wer Verdacht schöpft, indem er Erkenntnisse aus anderen Fällen auf den in Rede stehenden Sachverhalt überträgt, urteilt, jenseits absoluter Erfahrungssätze, verallgemeinernd und damit … auf der Grundlage von Vorurteilen im engeren Sinne. … Verstärkt wird die Konturenlosigkeit des Verdachtsgrades u. a. durch die Anerkennung von Vorermittlungen sowie der Doktrin vom Beurteilungsspielraum, die Verdachtsschöpfungen überprüfungsfest für rechtmäßig befindet, solange diese nicht auf bloßen Vermutungen oder vagen Anhaltspunkten beruhen“ (S. 182).

Der Anfangsverdacht stellt daher für Ricker einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, dessen unscharfe Voraussetzungen seiner herausragenden Bedeutung nicht gerecht werden (S. 96), auch, weil in der Rechtswirklichkeit oftmals Polizeibeamte „eigenverantwortlich die Entscheidung über das Vorliegen eines Verdachtsgrades treffen“ (S. 97). Ungleiche Verteilungen von Nationalitäten oder Altersgruppen in der PKS sind, so Ricker, „auch auf unzulässige vorurteilebedingte Anfangsverdachtsschöpfungen seitens Polizeibeamter zurückzuführen“ (S. 108). Polizeibeamte seien oftmals „ihrer Definitionsmacht nicht gewachsen“ und „verfahren, contra legem, nach dem Prinzip: „Meine Schweine erkenne ich am Gang“ (S. 128). Ricker zitiert hier eine Aussage, die Jo Reichertz in seiner empirischen Studie zur Typisierung typisierender Kriminalpolizisten von einem Kriminalkommissar wiedergegeben hat.

Somit sei der „in der Rechtswirklichkeit oftmals anzutreffenden bloßen Behauptung kriminalistischer Erfahrung in Form eines lakonischen Verweises auf solche eine Absage zu erteilen, da hierdurch der Bedeutung selbiger als ,,Transformationsriemen“ nicht Rechnung getragen wird“ (S. 188). Er verlangt eine im Einzelfall hinreichende Plausibilisierung. So sei wenigstens im Falle einer gerichtlichen Überprüfung der Verdachtsfindung darauf zu bestehen, dass „mithilfe von Sachverständigen, vergleichbaren Sachverhalten aus der Vergangenheit, sofern ausnahmsweise vorhanden, statistischen Daten o.Ä. konkret begründet wird, warum ein die Annahme eines Anfangsverdachts rechtfertigender überzufälliger Zusammenhang zwischen Anknüpfungstatsachen und der Begehung einer besteht“ (aaO.).

Letztlich plädiert Ricker für eine „Entsubjektivierung der Verdachtsfindung“ (S. 189), und verlangt, dass die tatsächliche Grundlage sowie die kriminalistische Erfahrung, aufgrund derer die Verdachtsfindung erfolgte, schriftlich dokumentiert werden müsse, und zwar in Form einer Einleitungsverfügung oder eines Aktenvermerkes, und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens (S. 190) – damit eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle möglich ist und verdachtsbegründende Umstände nicht später nachgeschoben werden können. Und er verlangt eine intensivere Kontrolle dieser Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft – die ja „eigentlich“ Herrin des Ermittlungsverfahrens ist (S. 191). Forderungen, denen man uneingeschränkt zustimmen kann.

Thomas Feltes, Februar 2021