Melz, Joanna: Öffentlichkeitsfahndung im Internet. Rezensiert von Holger Plank

Melz, Joanna[1]: „Öffentlichkeitsfahndung im Internet. Im Spannungsfeld zwischen Recht und Praxis“[2] ISBN: 978-3-428-18028-8, 408 Seiten, Verlag Duncker & Humblot, Berlin, 2021, Reihe Internetrecht und Digitale Gesellschaft, Band 26, 109,90 € [E-Book 98,80 €])

Die Geschichte des „Steckbriefs“, so hieß der öffentliche behördliche Fahn­dungsaufruf tatsächlich noch bis zur Fortschreibung der StPO im Jahr 1999[3], ruft wahrscheinlich die unterschiedlichsten Bilder in uns allen hervor. In historischem Kontext ursprünglich der „Ladebrief eines Femegerichts“ an den Angeklagten, der – deshalb der Name – in dessen Torriegel „gesteckt“ wurde[4] und damit als zugestellt galt[5], denken wir wahrscheinlich aber zuerst an den „Outlaw“, den gesuchten „Wells Fargo-Postkutschen­räuber“ und dessen handgezeichnetes Porträt, aufgehängt im Saloon irgendeiner namenlosen Kleinstadt im mittleren Westen der USA, martialisch gestaltet mit einem einleitenden „Wanted – Dead or Alive“, im klassischen Kino-Western. Im Gedächtnis meiner Generation sind hingegen die überall präsenten Fahndungs­plakate und später regelmäßige Fahndungsaufrufe in Fernsehsendungen, z. B. in Aktenzeichen XY, vor allem aber nach den Mit­glie­dern der RAF in den 1970er und 1980er-Jahren präsent.

Unter datenschutz­rechtlichen Gesichtspunkten, vor Genese und Präzisierung des „(Grund-)Rechts auf informa­tionelle Selbstbe­stimmung“ durch das BVerfG im Rahmen des so genannten „Volkszählungsurteils“[6], schien das zur damaligen Zeit jedenfalls noch kein großes strafprozessuales Problem darzustellen, worauf bspw. Beiträge eines Sammelbands des BKA zum Thema „Fahndung“ aus dem Jahr 1970 hinweisen, z. B.: „Unproblematisch ist insoweit der Steck­brief. Seine Voraus­setzungen sind in den §§ 131 und 457 Abs. II StPO geregelt. Der Sache nach stellt er eine Aufforderung an die Behörden um Amtshilfe bei der Fahndung dar; auch kann er sich an die Öffentlichkeit wenden mit der Bitte, den Strafverfol­gungsorganen geeignete Hinweise zu geben (…) Es bestehen keine recht­lichen Bedenken, sich heute über die dem Gesetzgeber des Jahres 1877[7] bekannten Formen des Plakataushangs oder der Aufnahme in die Tageszei­tungen hinaus auch des Rundfunks oder Fernsehens zu bedienen (…).“[8]

Das Internet und das Phänomen der sozialen Netzwerke eröffnet den Behörden inzwischen völlig neue Mög­lichkeiten. Gleichzeitig entstehen aber bedeutsame neue persönlich­keits- und datenschutz­rechtliche Problemstellungen, schon weil das „Internet nichts vergisst.“ Dieser Umstand, verbunden mit einer potenziellen „Stigma­tisierung“ Be­troffener in einer vollständig digitalisierten Umwelt im Span­nungs­feld der „Un­schulds­vermutung“, führt mitunter zu regen kritischen öffentlichen und auch (rechts-) dog­matischen Diskursen, die sich in jüngerer Vergangenheit am Beispiel der umfangreichen Öffentlichkeitsfahndung nach dem G20-Gipfel in Hamburg sehr gut exem­plifizieren lassen. So kritisierte bspw. Heribert Prantl in einem Kom­mentar die Maßnahmen der Hamburger Polizei als „gesetzeswi­drig und stigma­tisierend“: „Das ist eine gigantische Öffentlich­keitsfahndung, ein Massen­screening, eine Aufforderung zur öffentli­chen Rasterfahndung. [..] Es handelt sich um die umfassende Aufforderung an die Bevölkerung, Hilfssheriff zur spielen. Es handelt sich um die Aufforderung, eine Vielzahl von Menschen zu jagen, deren Tat oder Tatbeitrag völlig ungeklärt ist (…) Diese Art von Fahndung geht über das, was der Paragraf 131b Straf­prozessordnung erlaubt, weit hinaus. Die Ermittler dehnen den Paragrafen bis zur Unkenntlichkeit aus. Sie unterscheiden nicht zwischen Beschuldigten und Nicht­beschuldigten, sie machen alle abgebildeten Personen zu Beschuldigten.“[9]

Die Strafverfolgungs­be­hörden suchen aber nicht nur nach bekannten / unbe­kannten Straftätern, z. T. auch mit im­mer professionelleren Phantombildern, sondern z. B. auch nach Vermissten bzw. mutmaßlich hilflosen Personen und bewegen sich damit sowohl auf dem Gebiet des Strafprozess- als auch des Gefahrenabwehrrechts und dort notwendiger eigenständiger Befugnisgrund­lagen.

Die Autorin greift das beschriebene Spannungsfeld der „Öffentlichkeitsfahn­dung im Internet“ zwischen Praxis und Recht sachkundig auf und untersucht systematisch, ob die spezifischen repressiven / präventiven Rechtsgrundlagen, die z. B. im Rahmen des StVÄG 1999 mit den §§ 131a – c StPO vor mehr als 20 Jahren eingeführt worden sind, der rasanten Entwicklung des Internets stand­halten können oder aber der Anpassung bedürfen.

Vorweggenommen: De lege ferenda gelangt sie zu der Feststellung (S. 347), dass die 1999 modifizierten, technikoffenen strafprozessualen Fahndungsvor­schriften „die Zeitprobe grundsätzlich überstanden und sich in der Praxis der Internetfahndung bewährt haben“, auch wenn schon hier ein leichter Vorbehalt bei der Autorin mitklingt. Sie seien „ein Kind ihrer Zeit, in der der Fokus nicht auf der aktiven Nutzung des Webs, sondern dem passiven Konsum seiner Inhalte lag.“ Spätestens seit der Etablierung der sozialen Netzwerke bedürfe die prak­tische Ablauforganisation der Polizei einer Einhegung, wie sie bspw. über die frühzeitige Modifikation der Nr. 3.2 der Anlage B („Richtlinien über die Inanspruchnahme von Publikationsorganen und die Nutzung des Internets sowie anderer elektronischer Kommunikationsmittel zur Öffentlichkeitsfahndung nach Personen im Rahmen von Strafverfahren“) der „Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren“ (RiStBV) als bundeseinheitlich ermessensleitende behörd­liche Verwaltungs­vor­schrift erfolgt sei. Die Tiefe des Eingriffs in Persönlich­keits­rechte erfordere es vor dem Hintergrund des technischen Fortschritts und der gegenwärtigen Entwicklungen des Datenschutzes dennoch, gesetzliche Korrekturen vorzunehmen (S. 348). Nur so könne i. S. der „Wesentlichkeits­the­orie“ des BVerfG der Bedeutung der Eingriffe adäquat Ausdruck verliehen werden. Hierzu unterbreitet die Autorin de lege ferenda einige semantisch, systematisch und dogmatisch grds. gut nachvollziehbare Änderungs- und Ergän­zungsvorschläge (S. 348ff.), bspw.

  1. Die Einführung einer komplementären, die Internetfahndung präzise (über die Anl. B zur RiStBV, für die die Autorin ebenfalls Ergänzungen vor­schlägt, hinausgehende) regulatorisch eingrenzende Vorschrift 131d StPO neu, für den die Autorin auch gleich einen Formulierungs­vorschlag unterbreitet (S. 351):

„In den Fällen des § 131 Abs. 3, § 13a Abs. 3 und § 131b Abs. 1 ist die Internetfahndung in ihrer konkreten Erscheinung auf im Einzelfall schwerwiegende Straftaten aus § 100a Abs. 2 und § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 zu beschränken. Bei der Nutzung von Diensten privater Inter­net­anbieter ist dafür Sorge zu tragen, dass sämtliche personenbezogenen Daten der Betroffenen im Verantwortungsbereich der Strafverfolgungsbe­hörden verbleiben[10]. Negative Folgen für den Betroffenen sind nach dem Stand der Technik möglichst gering zu halten. Nach Beendigung der Fahndung sind personenbezogene Daten der Betroffenen unverzüglich aus dem Internet zurückzunehmen.“

  1. Die Verstärkung des Zeugenschutzes, etwa über die Einschränkung der Öffentlichkeitsfahndung auf einen „wichtigen Zeugen“ (S. 353).
  2. Die semantische Anpassung des 131b StPO, der bislang nur auf „Ab­bildungen“ fokussiert und bei Zeugen nicht nach deren Bedeutung für die Aufklärung der zugrundeliegenden Straftat unterscheidet. Auch hier­für hält die Autorin einen Formulierungsvorschlag für eine Neufassung bereit (S. 355f.):

„(1) Bei einer Straftat von erheblicher Bedeutung darf eine Öffentlich­keitsfahndung angeordnet werden, wenn der Beschuldigte der Begehung der Straftat dringend verdächtig ist und die Aufklärung einer Straftat, ins­besondere die Feststellung der Identität eines unbekannten Täters oder eines wichtigen Zeugen auf andere Weise erheblich weniger Erfolg ver­sprechend oder wesentlich erschwert wäre. Die Öffentlichkeitsfahndung unterbleibt, wenn überwiegende schutzwürdige Interessen des wichtigen Zeugen entgegenstehen.

(2) § 131 Abs. 4 gilt entsprechend. Abbildungen des wichtigen Zeugen dür­­fen nur erfolgen, soweit die Erreichung des Fahndungsziels auf an­dere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Bei Fahndungs­maßnahmen nach einem wichtigen Zeugen ist erkennbar zu machen, dass die abgebildete Person nicht Beschuldigter ist.“

  1. Hinsichtlich der Neugestaltung / Modifizierung der Anordnungskompe­tenzen (§ 131c StPO) und
  2. in Bezug auf die Folgen der Beendigung der Maßnahme, ausgestaltet als verfah­rensrechtliche Schutzvorkehrungen (ähnlich wie bereits in den §§ 100e Abs. 5 S. 1, 110b Abs. 1 S. 2 Hs. 2, Abs. 2, S. 4; § 163d Abs. 4 S. 1 StPO).
  3. Änderungsbedarf bestehe teilweise auch noch bei den gefahrenab­wehrrechtlichen Polizeige­setzen in Bund und Ländern. Jedenfalls könne die präventive Öffent­lichkeitsfahndung nach Vermissten oder auch Warnung vor Personen, von denen eine Gefahr ausgehe, nicht auf die allgemeinen Vorschriften zur Daten­übermittlung an Personen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs gestützt werden, da sie der Intensität des Grundrechtseingriffs nicht genügend Rechnung tragen, so die Autorin (S. 360f.). In diesem Zusammenhang verweist sie bspw. auf die im Ansatz derartige dogmatische Überlegungen berücksichtigende Vorlage in § 44 Abs. 2 des Brandenburger Polizeigesetzes[11] und modifiziert diese Be­stimmung wiederum im Rahmen eines erweiterten eigenen Formu­lierungs­vorschlags für den Bereich der präventiven Öffentlichkeits­fahn­dung:

„(1) Die Polizei kann personenbezogene Daten und Abbildungen einer Person zum Zweck der Ermittlung ihrer Identität oder ihres Aufent­haltsortes oder zur Warnung öffentlich bekannt geben, wenn

  1. dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder Freiheit der Per­son unerlässlich ist oder
  2. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person eine Straftat von erheblicher Bedeutung (§ x) begehen wird, und die Bekanntgabe zur Verhütung dieser Straftat unerlässlich ist.

Die Bekanntgabe kann mit auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen­den wer­tenden Angaben über die Person verbunden werden, wenn dies zur Abwehr der in Satz 1 genannten Gefahren erforderlich ist. Die Maßnahme darf nur durch die Behördenleitung oder die jeweilige Vertretung angeordnet werden.

(2) Bei dem Einsatz des Internets zu den in Abs. 1 bezeichneten Zwecken, ins­besondere bei der Nutzung von Plattformen privater Inter­net­anbieter ist dafür Sorge zu tragen, dass sämtliche personenbezo­genen Daten der Betroffenen im Verantwortungsbereich der Behörden verbleiben. Negative Folgen für den Be­troffenen sind nach dem Stand der Technik möglichst gering zu halten. Nach Beendigung der Maßnahme sind personenbezogene Daten der Betroffenen un­verzüglich aus dem Internet zurückzunehmen.“

Dogmatisch nicht nachvollziehbar, jedenfalls für die Alternative des Abs. 1 Nr. 2, ist allerdings die Anordnungskompetenz. M. E. müsste für diesen Fall eines für den Gefahrenverursacher schweren Eingriffs in dessen Persönlichkeitsrechte – eingeleitet ggf. noch im Rahmen einer Eilkom­petenz der Behördenleitung bei „Gefahr im Verzug“ – unverzüglich eine richterliche Bestätigung statuiert werden.

Die Öffentlichkeitsfahndung im Internet ist ohne Zweifel eine äußerst effektive Maßnahme, sowohl zur Strafverfolgung als auch zur Gefahrenabwehr. Gleich­zeitig gehe sie mit vielfältigen Risiken für die Betroffenen einher, allen voran der Gefahr einer dauerhaften Brandmarkung nicht nur durch unberechenbare Reaktion der Internetnutzer, sondern auch durch das Verbleiben rufschädigender Informationen im Netz, heute noch sehr viel stärker als vor zwanzig Jahren, so die Autorin zutreffend. Ihr gelingt es in ihrer sehr gut strukturierten, schlüssig aufgebauten und daher aussagekräftigen Arbeit, dieses Spannungsfeld adäquat auszuleuchten, dadurch die wesentlichen Schwachstellen unter Bezugnahme auf sich dynamisch entwickelnde, moderne digitale Informationsstrukturen zu markieren und rechtsstaatlich zwingend gebotene, gleichzeitig aber praktikable Vorschläge zur Reparatur derselben zu unterbreiten, um den grds. anerkannten Wert der Öffentlichkeitsfahndung auch im digitalen Zeitalter nicht zu gefährden. Eine im Ergebnis sehr lesenswerte Arbeit, die für den Leser implizit einen erweiterten Fokus auf die informationstechnischen Besonderheiten einer nahezu durchgängig digitalisierten Umwelt der Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehr­behörden setzt und so – parallel zum Thema – auf grundlegende Implikationen staatlicher Informationsverarbeitung reflektiert.

Holger Plank, im März 2021

[1] Dr. iur. Joanna Melz (Buch zugleich Dissertation), akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler, Europa Universität Viadrina, Frankfurt/Oder.

[2] Hinweis und Inhaltsverzeichnis auf der Verlags-Website Duncker & Humblot.

[3] Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts (StVÄG), BGBl. I 2000, S. 1253.

[4] Groebner, „Der Schein der Person – Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München, 2004.

[5] In Zeiten modernen Zustellungs- und Vollstreckungsrechts kaum mehr vorstellbar.

[6] BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Dezember 1983, 1 BvR 209/83, BVerfGE 65,1.

[7] Hinweis auf die erste deutsche Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877, verkündet im RGBl., Band 1877, Nr. 8, Seite 253 – 346.

[8] Krause, Friedrich-W., „Fahndung und Prozeßrecht“, in: BKA (Hrsg.), 1970, S. 203, in: Fahndung, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden vom 9. März bis 13. März 1970, zuletzt abgerufen am 15.03.2021.

[9] Prantl, „G 20 ist keine Lizenz zum Rechtsbruch“, in: Süddeutsche Zeitung, 18.12.2017, zuletzt abgerufen am 15.03.2021. Prantl war bis zum 01.03.2019 Mitglied der Chefredation der SZ.

[10] So wird bspw. bereits heute darauf Wert gelegt, dass Abbildungen Gesuchter nur über eingebettete Links auf Server im behördlichen Kontrollbereich erreichbar sind, die unmittelbar nach Erledigung inaktiv geschaltet werden können. Nicht nur wegen des rechtsstaatlichen Gebots, dem Grundrechtsschutz der Betroffenen umfassend Rechnung zu tragen, dies sei schon wegen der EuGH-Entscheidung aus dem Jahr 2018 (EuGH, NJW 2020, 414 (417)), nach der die Betreiber von Auftritten in sozialen Netzwerken Mitverantwortung für die Datenverar­beitung tragen, unbedingt geboten.

[11] Die Autorin benennt neben Brandenburg noch fünf weitere Bundesländer (Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz), die in ihren pol. Gefahrenabwehr­gesetzen spezifische (aber noch nicht hinreichende) Bestimmungen für die präventive Öffentlichkeitsfahndung geschaffen haben.