Besprechungsaufsatz/Sammelbesprechung zum Thema „Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen“ von Thomas Feltes

Besprechungsaufsatz/Sammelbesprechung Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen

Helmut Remschmidt, Katja Becker (Hrsg.): Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 7. Auflage 2020; Paulina Kernberg u.a.: Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen, 2018; Tanja Göttken, Kai von Klitzing: Psychoanalytische Kurzzeittherapie mit Kindern (PaKT). 2015, Donald W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität. 2020.

Corona und psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen

Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie berichten Kinder und Jugendliche in Deutschland vermehrt von psychischen und psychosomatischen Problemen. Betroffen sind vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien. In der sog. „COPSY“-Studie haben Wissenschaftler des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf die Auswirkungen und Folgen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland untersucht (http://www.uke.de/copsy). Für die Studie wurden im Mai und Juni 2020 mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren und mehr als 1.500 Eltern online befragt. Demnach? stieg das Risiko für psychische Auffälligkeiten von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise. Die Kinder und Jugendlichen zeigten häufiger Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, emotionale Probleme und Verhaltensprobleme. Auch psychosomatische Beschwerden traten während der Corona-Pandemie vermehrt auf. Vor allem Kinder, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss beziehungsweise einen Migrationshintergrund haben, erlebten die coronabedingten Veränderungen als äußerst schwierig.

Damit wird deutlich, dass die Corona-Pandemie nicht nur gesundheitliche Folgen hat, sondern auch soziale Ungleichheit in der Gesellschaft verstärkt, obwohl noch im Oktober 2020 Psychiater behauptet hatten, dass Corona keine entsprechenden Auswirkungen habe: „Es gibt aktuell keine Anhaltspunkte, dass sich in der psychischen Entwicklung der jungen Menschen etwas nachhaltig verändern könnte„, sagte ausgerechnet der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Michael Kölch. Dieses Beispiel zeigt, wie vorschnell Urteile sein können, vor allem wenn sie nicht auf empirischen Daten, sondern auf individuellen Einschätzungen oder Erfahrungen beruhen.

Spätestens im zweiten Lockdown Ende 2020 wurde die Lage dann dramatisch: Anderthalb bis doppelt so viele Notaufnahmen wie sonst habe die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Moment zu verzeichnen, so der stellvertretende Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Tübingen. Besonders häufig seien Zwangs- und Essstörungen: „Das sind diejenigen, die Bewältigungswege suchen“, erklärt Barth. Diese Patienten verschafften sich Sicherheit, in dem sie angesichts der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Pandemie einzelne Bereiche kontrollieren – zum Beispiel das Essen. Die andere große Gruppe von Patienten, die zunehme, sei die mit Depressionen und Ängsten. Auch andere Kliniken bestätigen Anfang 2021, dass die Wartelisten für die Aufnahme in eine Kinder- oder Jugendpsychiatrie erheblich größer geworden sind. Junge Menschen zählen, so Psychiater, zu den Haupt-Leidtragenden der Corona-Pandemie. Es kommt vermehrt zu Lerndefiziten, psychischen Belastungen, Entwicklungsstörungen, Bewegungsmangel und häuslicher Gewalt. So kommen auch in Berlin seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich mehr Kinder und Jugendliche zur Behandlung in psychiatrische Kliniken. Das geht aus einer Sonderauswertung der Krankenkasse DAK hervor. Danach haben sich in der Hauptstadt im ersten Halbjahr 2020 Psychiatrie-Einweisungen junger Menschen fast verdoppelt.

Corona verstärkt vorhandene Soziale Unterschiede

Schon länger ist bekannt, dass es sozial bedingte Unterschiede in der körperlichen Gesundheit von Menschen gibt. So zeigen die Ergebnisse im Datenreport 2021 eindrücklich, dass viele Krankheiten und Beschwerden bei Personen mit geringem Einkommen, unzureichender Bildung und niedriger beruflicher Stellung vermehrt vorkommen. Darüber hinaus schätzen diese Personen ihren allgemeinen Gesundheitszustand und ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität schlechter ein. Gründe hierfür liegen (neben dem schlechteren Zugang zu Gesundheitssystem) in Unterschieden im Gesundheitsverhalten, zum Beispiel in Bezug auf Tabakkonsum, körperlich-sportliche Aktivität und der geringeren Inanspruchnahme von Präventions- und Versorgungsangeboten. Folgen sind eine höhere vorzeitige Sterblichkeit und geringere Lebenserwartung. Studien auch aus anderen Ländern deuten eher auf eine Ausweitung als auf eine Verringerung der sozial bedingten Unterschiede in der Gesundheit und in der Lebenserwartung hin.

All dies deckt sich mir den kriminologischen Befunden, nach denen es einen Zusammenhang zwischen Kriminalität (sowohl als Täter, als auch als Opfer), sozialem Status, Bildung, Gesundheitsverhalten (Rauchen, Art des Essens), Freizeitaktivitäten sowie Armutserfahrung in der Kindheit gibt. Konsequenzen daraus hat die Politik bislang nicht gezogen.

Der Umgang mit psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen

Vor diesem Hintergrund werden im folgenden einige Bücher vorgestellt, die eine Einführung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie geben (Remschmidt/Becker), sich mit Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen (Kernberg/Weiner/Bardenstein), ein Beispiel für psychoanalytische Kurzzeittherapie beschreiben (Göttken/von Klitzing) oder sich mit der Notwendigkeit zum Träumen, Spielen und schöpferischen Handeln bei Kindern beschäftigen, das aktuell besonders unter Corona leidet (Winnicott).

Auf die unterschiedlichen Formen psychologischer oder psychiatrischer Störungen und Erkrankungen kann ebenso wie auf die Diskussion um die „richtigen“ Begrifflichkeiten an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Wer einen Überblick sucht, der wird auf der Website der „Neurologen und Psychiater im Netz“ fündig. Hier finden sich neben einer Übersicht über entsprechende Störungen und Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen auch Hinweise zur Diagnostik und Therapie, eine Darstellung von Risikofaktoren und Warnsignalen sowie eine Definition von psychischer Gesundheit.

Buch 1

Helmut Remschmidt, Katja Becker (Hrsg.): Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 7. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Thieme-Verlag Stuttgart/New York, 2020, 568 S., 60 Abb., Mixed Media Product, ISBN: 9783132411227, 107,99 Euro.

Richtig diagnostizieren und leitliniengerecht behandeln, das ist das Ziel des Standardwerkes von Remschmidt und Becker. Sie wollen, dass die/der Leser*in die psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter ganzheitlich betrachten und verstehen. Es bietet so die Voraussetzungen für alle diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen – orientiert an den verschiedenen Lebenswelten der Kinder- und Jugendlichen. Neben einem interdisziplinären Ansatz bezieht es die Familie in alle diagnostischen und therapeutischen Interventionen ein. Von der Behandlung bis hin zu Prävention sowie rechtlichen und organisatorischen Themen enthält es präzise Hinweise und praktische Anleitungen für den Umgang mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Wichtig: Der Inhalt des Buches steht ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung (Zugangscode im Buch).

Das Buch ist klar strukturiert in die Teile Entwicklung (I), Diagnostik (II) sowie den Hauptteil III, in dem es generell um die Beschreibung von Störungen, Therapie und Begutachtung geht. Unter „Entwicklung“ werden die wesentlichen Aspekte der körperlichen und psychischen Entwicklung skizziert. Darauf folgen Abschnitte über die Entwicklungspsychopathologie sowie Modellvorstellungen zu Ätiologie und Genese von psychischen Störungen. Im zweiten Teil (Diagnostik) werden die körperliche und neurologische Untersuchung sowie Anamneseerhebung, Erhebung des psychischen Befundes, Klassifikation und Beschreibung des diagnostischen Prozesses behandelt. Dabei geht es auch um Testdiagnostik sowie apparative und labormässige Untersuchungen. Im dritten Teil geht es dann um die einzelnen psychischen Störungen und Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Im Teil IV werden Therapie, Rehabilitation und Prävention behandelt.

Das Buch ist insgesamt für Berufseinsteiger konzipiert. Die Darstellung ist aber durchgängig sehr differenziert und auch angemessen kritisch. So wird bspw. zu Beginn des Kapitels über medikamentöse Behandlung explizit darauf hingewiesen, dass es nach dem derzeitigen Stand des Wissens „keine kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung (gibt), bei der die medikamentöse Therapie die alleinige Behandlungsmodalität darstellt. Medikamentöse, psychotherapeutische und soziotherapeutische Ansätze müssen sich im Rahmen einer multimodalen Therapie gegenseitig ergänzen“ (S. 485).

Auch die Thematisierung des Anlage-Umwelt-Streites (S. 50 f.) macht deutlich, dass die Autor*innen über ihren engen fachlichen Bereich hinausblicken und der/dem Leser*in deutlich machen, dass der pathologische Blick nicht alles ist, und dass dieser Blick und die darauf folgenden Maßnahmen auch Gefahr laufen kann, pathologisierend zu wirken.

Auch die Tatsache, dass die Autor*innen der körperlichen Misshandlung, dem sexuellen Missbrauch und der Vernachlässigung ein eigenes Kapitel widmen (S. 390 ff.), ist positiv anzumerken; ebenso das Kapitel, das sich mit „Elterntraining“ beschäftigt (S. 478 ff.) und dabei deutlich macht, wie dieses Training bei verschiedenen Störungen wirksam sein kann. Hier wie in vielen anderen Teilen des Buches werden auch grafische Abbildungen verwendet, um den Aufbau eines Themas oder die Abläufe verständlich zu machen (z.B. auf S. 108 ff. zu EEGs oder auf S. 289 zu Risikofaktoren). Hervorzuheben sind auch die umfangreichen (und aktuellen) Literaturhinweise nach jedem einzelnen Kapitel.

Insgesamt kann dieses Buch – im Gegensatz zu den folgenden Werken – auch für Nicht-Psychiater uneingeschränkt empfohlen werden, da es übersichtlich, klar und informativ ist, aber gleichzeitig die nötige Distanz zur eigenen Profession wahrt. Jede/r, der sich mit psychologischen, psychiatrischen, oder auch sozialen Problemen von Kindern und Jugendlichen beschäftigt, sollte dieses Standardwerk im (eigenen) Regal stehen haben. Es ist tatsächlich das optimale Handwerkszeug für eine umfassende Diagnostik und leitliniengerechte Therapie, ohne dabei die kritischen Aspekte sowie die Fallstricke, Risiken- und Nebenwirkungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie zu vernachlässigen.

Buch 2

Paulina Kernberg, Alan Weiner, Karen Bardenstein: Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Aus dem Amerikanischen von Sabine Mehl und Katrin Grommek, 4. Aufl. 2018, 323 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart, ISBN: 978-3-608-94943-8, 38.- Euro.

Persönlichkeitsstörungen könnten und müssten viel früher als bisher erkannt und behandelt werden. Darauf weisen die Autor*innen dieses Buches hin, und sie betonen, dass noch immer zu wenig Aufmerksamkeit der Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen geschenkt wird – weil danach in empirischen Studien „nicht gesucht“ werde (S. 14). Suche man nach solchen Störungen, so finde man „eine beachtliche Prävalenz“ (aaO.)[1]. Genannt werden dann %-Werte von bis zu 46%. Darüber muss und sollte man streiten, denn tatsächlich ist das Phänomen, dass man nur etwas findet, was man sucht, nur die eine Sichtweise. Die andere besteht darin, dass durch dieses gezielte Suchen unter Umständen erst Probleme benannt und geschaffen werden, die vorher entweder nicht als Problem wahrgenommen wurden, oder sich um weiteren Verlauf ohne diese „Definition“ als Problem und daran anschließende Maßnahmen möglicherweise von selbst erledigt hätten. Hierauf gehen die Autor*innen zwar ein; eine intensivere selbstkritische Bewertung dieser Problematik fehlt jedoch. Ihrer Auffassung nach liegt ein Grund für dieses Widerstreben darin, dass jeder, der beruflich mit Kindern zu tun hat, sich scheue, Kinder mit Diagnosen abzustempeln, die auf schwere und unbeeinflussbare Probleme hindeuten. „Wird ein Kind mit dem Etikett „Persönlichkeitsstörung“ versehen, dann könnte sich das, ebenso wie die Diagnose anderer schwerwiegender psychologischer Störungen, negativ auf das Selbstkonzept des Kindes (oder seiner Familie) auswirken oder die Zukunft des Kindes dadurch beeinträchtigen, dass diese Diagnose irgendwo in den persönlichen Unterlagen auftaucht“ (S. 17). Genauso ist es, und nicht umsonst haben wir in unseren Begutachtungen zur Prognose im Zusammenhang mit der Anordnung von Sicherungsverwahrung oder der Entlassung aus dem Vollzug in den Akten entsprechende Hinweise auf „Störungen“ in der Kindheit gefunden, die dann auch noch bei Straftätern oder Gefangenen, die älter als 40 oder 50 Jahre alt sind, in Anstaltsgutachten oder den Gutachten von sog. „Gerichtsgutachtern“ verwendet werden[2].

Darauf gehen die Autor*innen nur insoweit ein, als sie einwenden, dass auch das Versäumnis, eine Persönlichkeitsstörung bereits im Kindesalter zu diagnostizieren, die Zukunft des Kindes gefährden könne, „weil es ihm dadurch erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird, die notwendige und angemessene Behandlung zu bekommen“ (aaO.). Das mag zutreffen, allerdings hätte man sich eine intensivere Beschäftigung mit dieser Problematik gewünscht, ebenso wie ein geeignetes „caveat“ in Bezug auf die Erstellung von Gutachten und die sich daran anschließenden „Aktenkarrieren“.

Das Ziel ihres Buches ist es den Autor*innen zufolge, „Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen vorzustellen, damit diese leichter erkannt und behandelt werde können“ (S. 9). Ein in dieser Hinsicht kritisches Werk wurde an anderer Stelle im Polizei-Newsletter besprochen: Das Buch „Irren ist menschlich“ von Klaus Dörner u.a. Dieses Buch liefert Wissen über psychische Krankheiten, therapeutische Ansätze und Methoden, wissenschaftliche Grundlagen und den gesellschaftlichen Kontext – verständlich, kritisch, differenziert. Ein fundierter Diskurs zu Krankheitsmodellen, Diagnosen und Therapien ergänzt das Wissen über die verschiedenen Störungsbilder.

Zurück zum Buch von Kernberg u.a.. Es sei, so der Verlag, das erste Buch, in dem gezeigt werde, dass und wie Persönlichkeitsstörungen schon bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert und therapiert werden können. „War bisher die Lehrbuchmeinung vorherrschend, die Diagnose Persönlichkeitsstörung könne frühestens im jungen Erwachsenenalter gestellt werden, so wird in Zukunft ein Umdenken nötig werden“. Die Autoren liefern – so weiter der Verlagstext – „detaillierte, strukturierte Beschreibungen der einzelnen Störungsbilder aus den Bereichen der neurotischen, der psychotischen Persönlichkeitsorganisation und der Borderline-Störungen und zeigen im Anschluss daran die gesamte diagnostische Bandbreite sowie die Therapiemöglichkeiten auf. Fallvignetten illustrieren die Vorgehensweise.

C.J. Kestenbaum, Professorin für Psychiatrie an der Columbia University, Präsidentin der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, wird an der gleichen Stelle mit den Worten zitiert: „Es stellt eine ganz außergewöhnliche Leistung der Autoren dar, so überzeugend die Belege für das Vorhandensein von Persönlichkeitsstörungen auch bei Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen. Kernberg, Weiner und Bardenstein differenzieren die unterschiedlichen Symptome, stellen neueste Forschungsergebnisse vor und geben somit dem Therapeuten ein Werkzeug an die Hand, das ihm ermöglicht, die häufig noch im Erwachsenenalter fortbestehenden Symptome zu verstehen.“

Im ersten und zweiten Kapitel werden die Themen Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung unter dem Blickwinkel der kindlichen Entwicklung behandelt. Es werden epidemiologische Befunde vorgestellt und ein kritischer Blick auf Diagnostische und Statistische Manuals Psychischer Störungen (DSM) geworfen. Im Anschluss werden grundlegende Komponenten der Persönlichkeit wie Temperament, Identität, Geschlecht und Abwehrmechanismen behandelt und es werden Methoden zum Erfassen von Verhaltensmustern bei Kindern vorgestellt. Im zweiten bis zum fünften Kapitel werden die verschiedenen Arten von Persönlichkeitsstörungen behandelt: von der neurotischen Persönlichkeitsstruktur mit geringem Schweregrad über die Borderline-Organisation zur psychotischen Persönlichkeitsorganisation mit hohem Schweregrad. Das sechste Kapitel beginnt mit speziellen Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstörungen und Geschlechtsidentität, Suizidalität und Substanzmissbrauch sowie bestimmten sozialen Faktoren wie Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Scheidung der Eltern. Außerdem werden Probleme aus dem Bereich des DSM-V angesprochen, die sich auf Kindheit und Jugend beziehen. Den Abschluss bildet ein Überblick über die verschiedenen Forschungsrichtungen.

Insgesamt ein Buch, das sich auf die Problematik von Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert und dabei in weiten Teilen leider unkritisch ist und auch nicht (mehr) den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionsstand präsentiert. Aus diesem Grund nur für Psychologen und Psychiater geeignet, die bereits über das nötige Grundwissen und die kritische Distanz verfügen, um die Darstellungen angemessen einzuordnen.

Buch 3

Tanja Göttken, Kai von Klitzing, Psychoanalytische Kurzzeittherapie mit Kindern (PaKT). Ein Behandlungsmanual. 1. Aufl. 2015, 286 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart, ISBN: 978-3-608-94882-0, 38.- Euro.

Bei dem 2015 erschienenen Buch von Göttken und von Klitzing handelt es sich um ein psychoanalytisches Behandlungsmanual für die Kinderpsychiatrie und –psychologie. Damit ist gemeint, dass die Abläufe, Methoden und Hintergründe der psychoanalytischen (Kurzzeit-)Therapie beschrieben und erläutert werden. Das Buch richtet sich daher – noch enger als das zuvor vorgestellte – an eine relativ kleine Gruppe von Fachleuten und ist auf bestimmte Problematiken ausgerichtet. Dabei geht es um eine Therapie, die auch Fokaltherapie genannt wird, weil sie sich auf einen Fokus, d.h. ein zentrales Problem des Patienten, beschränkt. Die Kurzzeittherapie kann sehr effektiv sein, ist aber nicht bei jeder Symptomatik bzw. bei jedem Problem geeignet. Im Gegensatz zu einer „echten“ Psychoanalyse, die sich mit Neurosen und Persönlichkeitsstörungen beschäftigt, die ihre Ursache in unbewussten Konflikten in der Kindheit haben und zu massiven psychischen Symptomen führen und deren Ziel es ist, unbewusste Konflikte und Beziehungsstrukturen nachträglich verstehbar und damit bearbeitbar zu machen, hat die psychoanalytische Kurzzeittherapie daher eine grundsätzlich andere Zielrichtung. So findet die psychoanalytische Kurzzeittherapie in der Regel einmal wöchentlich statt und ist auf 25 Sitzungen begrenzt, während die klassische Psychoanalyse-Therapie in der Regel mehrere Jahre dauert und drei bis vier Sitzungen pro Woche erfordert. Entsprechend muss bei PaKT in den ersten Stunden ein begrenztes und seit Kurzem bestehendes Problem deutlich werden.

Generell dienen solche Kurzzeittherapien entweder der Krisenintervention, wenn nach einem schweren Erlebnis schnelle Hilfe benötigt wird, oder zur Überprüfung, ob nicht eine Langzeittherapie sinnvoller erscheint. Entsprechend stößt diese Therapie bei schweren und chronischen Krankheitsbildern schnell an ihre Grenzen, und es ist eine der Hauptaufgaben des Therapeuten, hier zum richtigen Zeitpunkt die Entscheidung zu treffen, ob die Kurzzeittherapie in eine Langzeittherapie umgewandelt muss, wobei man dann zwischen der tiefenpsychologisch fundierten oder der psychoanalytischen Langzeittherapie unterscheidet.

Lt. Verlagsankündigung geht man von der Annahme aus, dass die große Zahl psychisch kranker Kinder effektive und zeitlich begrenzte Behandlungsformen erfordert. Heute leide jedes achte Kind eines Kindergartenjahrgangs unter psychischen Symptomen wie erhöhter Ängstlichkeit oder depressiver Verstimmtheit (zu dieser Prävalenz s.o.). Diesen und anderen seelischen Störungen bei Kindern frühzeitig entgegenzusteuern, sei das Ziel der psychoanalytischen Kurzzeittherapie. Das Manual erläutere, wie in Therapiesitzungen – die teils mit, teils ohne Eltern stattfinden –, in Gesprächen und beim Spielen unverarbeitete Konflikte und ungelöste Entwicklungsaufgaben herausgearbeitet und verständlich gemacht werden.

Der Verlag schreibt auf seiner Website zu dem Buch auch, dass die Kassen (gemeint sind wohl Krankenkassen) und das Gesundheitssystem nach immer kürzeren Behandlungsformen und nach standardisiertem Vorgehen „schreien“. Solche plakativen und verkürzten Formulierungen gehören zwischenzeitlich wohl zum Werbemechanismus der Verlage; den Autor*innen der Bücher tun sie damit meist keinen Gefallen.

Das Manual für eine Kurzzeittherapie für junge Patienten geht von 20 bis 25 Sitzungen aus, die in abwechselnden Settings durchgeführt werden (Einzelsitzung, mit Eltern und Kind, ohne Kind). Die Grundannahme für die Entstehung affektiver Störungen ist dabei für die Autor*innen, dass die betroffenen Kinder ihre Affekte nicht im Umgang mit ihren Bezugspersonen ausleben, sondern dass sie ihre affektiven Impulse nach innen richten (vor allem bei Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten).

Bei dem im Buch vorgestellten Therapieprogramm handelt es sich um ein psychodynamisches Interventionsprogramm für Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren mit Angst- und Depressionsstörungen. Mit PaKT können, so die Autor*innen, „Kinder mit verschiedensten Symptomen (Verhaltensprobleme, »Hyperaktivität«, neurotische Beziehungs- und Leistungsstörungen etc.) behandelt werden, sofern Angst und/oder depressive Verstimmungen an der Symptomentstehung wesentlich beteiligt sind“ (S. 12). Da Depression und Angst im Vorschul- und jungen Schulalter häufig gemeinsam auftreten und auch Verhaltensprobleme wie oppositionelles Verhalten oder Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) oft bei genauerer psychoanalytischer Diagnostik mit emotionalen Symptomen einhergehen (so die Annahmen der Autor*innen), widme sich das PaKT-Manual ebenfalls Kindern, deren emotionale Probleme latent in Erscheinung treten (S. 17). Mit „latent“ ist gemeint, dass die Probleme „hinter externalisierenden Symptomen verborgen“ sein sollen. Gerade hier aber ist nachgewiesen, dass solche externalisierenden Störungen durch Kontrollverhalten, Ungeduld und Ablehnung der Eltern zumindest verstärkt, wenn nicht sogar hervorgerufen werden können. Umso wichtiger erscheint es, sich nicht zu sehr auf die individuellen Kinder oder Jugendlichen zu fokussieren, sondern immer (und meist zuvorderst) das Umfeld und dabei vor allem die Eltern oder andere primäre Bezugspersonen im Fokus zu haben.

Das Therapieprogramm richtet sich als Behandlungsleitfaden besonders an Psychotherapeut*innen in Ausbildung für Kinder und Jugendliche. Mit diesem Manual wollen die Autor*innen einen Behandlungsleitfaden entwickeln, „der von klaren psychoanalytischen Definitionen ausgeht und doch der Komplexität psychoanalytischer Konzepte in der praktischen Arbeit mit Kindern und ihren Eltern Rechnung trägt“ (S. 17). Durch Ausrichtung auch auf die Bedürfnisse von unerfahrenen Therapeut*innen komme es an manchen Stellen zu unvermeidlichen Verkürzungen psychoanalytischer Konzepte, die jedoch aus Sicht der Autor*innen unter behandlungspraktischen Gesichtspunkten angemessen sind. Das PaKT-Manual versteht sich als eine erste Orientierung, die auch als Ausgangspunkt für Vertiefungen der theoretischen Ansätze genutzt werden kann.

Die Autoren haben ihr Manual in der kinderpsychiatrischen Ambulanz des Universitätsklinikums Leipzig evaluiert (S. 262 ff.). Daher behaupten sie, dass sich das Programm in „klinischen Untersuchungen“ als wirksam erwiesen habe, sich bei allen Kindern die Symptome erheblich reduziert hätten und mehr als die Hälfte der Kinder danach störungsfrei war.

Sieht man sich die Angaben zu der Evaluation genauer an, dann „zeigten 66,67% (n = 18) der Kinder, die an der Nachuntersuchung teilnahmen (n = 27), eine komplette diagnostische Remission. Nach der Wartezeit (von durchschnittlich 16,39 Wochen) behielten alle Kinder der Wartekontrollgruppe (n = 12, 100%) ihre Diagnosen, während 12 Kinder (75%) aus der Behandlungsgruppe nach der Behandlung mit PaKT keine DSM-IV-Diagnose mehr aufwiesen“ (S. 265). Warum die Autor*innen hier mit zwei Stellen hinter dem Komma bei den Prozentangaben arbeiten, trotz einer doch sehr bescheidenen Gesamtzahl von 27 Proband*innen, bleibt ihr Geheimnis. Einer/m Kriminologie-Studierenden würde ich dies in einer Seminararbeit kritisch anmerken. Leider finden sich hier keine methodischen Hinweise, mit welchen Einschränkungen der Aussagekraft aufgrund der sehr kleinen Gesamtzahl zu rechnen ist. Auch die Frage, in welchem Zeitraum die Probanden ausgewählt wurden und welche Vorbelastungen oder Vorbehandlungen sie aufwiesen, wird nicht thematisiert. Stattdessen ist von einer „quasi-randomisierten kontrollierten klinischen Studie“ (S. 262) die Rede. Es wurden „30 Kinder im Alter zwischen 4 und 10 Jahren in die Untersuchung einbezogen, die (hauptsächlich von Pädiatern) an die kinderpsychiatrische Ambulanz des Universitätsklinikums Leipzig überwiesen wurden. Überweisungsgründe waren besonders schüchternes, ängstliches oder sorgenvolles Verhalten und/oder Wutanfälle sowie oppositionelles und aggressives Verhalten, das von internalisierenden Symptomen wie dysphorischer Stimmung oder verschiedenen Angstsymptomen begleitet war. Um in die Studie aufgenommen zu werden, mussten die Kinder die Kriterien für eine DSM-IV-Angststörung erfüllen (Saß et al., 2003). Dies wurde von 30 Kindern erfüllt“ (S. 263). Die Gruppe wurde in eine „Behandlungsgruppe“ (18) und in eine „Wartekontrollgruppe“ (12) unterteilt. Letztere wurde erst nach einer Wartezeit mit PaKT „behandelt“ (sic, S. 263). Sechs Monate nach Ende der Behandlung zeigten 22 der 25 nachuntersuchten Kinder keine DSM-IV-Diagnose mehr. Auch komorbide depressive Störungen zeigten einen signifikanten Rückgang. Während vor der Behandlung mit PaKT 10 Kinder unter einer depressiven Störung litten, waren es nach der Behandlung mit PaKT nur noch 2 Kinder.

Leider finden sich keine Angaben zum sozialen Hintergrund und auch keine zur Frage, wie die Auswahl in einer der beiden Gruppen erfolgte. Immerhin gibt es den Hinweis, dass „erste Hinweise auf die Bedeutung der elterlichen Mentalisierungsfähigkeit für die Wirksamkeit und Anwendbarkeit einer psychodynamischen Kurzzeittherapie im Kindesalter“ (s. 265 f.). Gemeint ist damit die Fähigkeit, sich mentale Zustände im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen. Ob und welche Wechselwirkungen es dabei mit den psychischen Störungen der Kinder und Jugendlichen gibt, oder ob diese mangelnde Fähigkeit vielleicht sogar Auslöser und Ursache der Störungen war, dazu findet man leider keine Aussage. Die Fokussierung auf das „problematische“ Kind scheint diesen Blick auf soziale und externe personelle Ursachen und Faktoren doch ziemlich zu verstellen.

Buch 4

Aus dem Englischen von Michael Ermann. 16. Druckaufl. 2020, 193 Seiten, Klett-Cotta, Stuttgart, ISBN: 978-3-608-96335-9, 27.- Euro

Dieses Buch ist in mehrfacher Hinsicht anders: Es ist im Original erstmals vor genau 50 Jahren (1971) erschienen, und es behandelt einen Teilbereich, der in den anderen Texten nicht angesprochen wird. Der Autor, D. W. Winnicott, geboren 1896 und gestorben 1971, hat hier seine Erkenntnisse zum Thema »Übergangsobjekt« zusammengefasst – gemeint ist jenes oft ganz unscheinbare Spielzeug des Kleinkindes, das ihm den Übergang vom Wachen zum Schlafen erleichtert, es kann der Teddybär oder auch ein Kissenzipfel sein. Wir alle kennen dieses Phänomen, dem wir (unbewusst) in der Erziehung unserer eigenen Kinder große Bedeutung beimessen. Winnicott macht deutlich, dass sich dahinter mehr verbirgt als das Klammern an einen Teddybären oder eine Puppe, und dass die Beschäftigung mit diesen „Übergangsobjekten“ sowohl analytisch, als auch therapeutisch wichtig sein kann.

Der Autor beschäftigt sich in dem Buch mit der Notwendigkeit zum Träumen, Spielen und schöpferischen Handeln auf der Suche nach dem Selbst. Das Übergangsobjekt ist für ihn die Verbindung zwischen der inneren und der äußeren Welt des Kindes. Die Beschäftigung mit ihm ist die Vorstufe des Spielens, und das Spiel wiederum ist der erste Schritt zur Entwicklung dessen, was man das Kreative nennt. So stehen die kulturellen, schöpferischen, erfinderischen Fähigkeiten des Menschen letztlich in einem engen Zusammenhang mit jenem kleinen fetischartigen Gegenstand seiner Kindheit.

Der Übergang von der Vorstellung- zur Wahrnehmungswelt ist selten konfliktfrei und wird oftmals fehlinterpretiert. Winnicott macht dies an verschiedenen Fallbeispielen deutlich, die er in die Bereiche Spielen, Kreativität, Objektverwendung, Spiegelfunktion und Kreuzidentifizierung unterteilt. So ist das Buch gleichermaßen spannend zu lesen, wie lehrreich in dem Sinne, dass es dem Autor gelingt, Zusammenhänge und Abhängigkeiten anschaulich darzustellen.

Interessant ist, wie sich der Autor mit den „heutigen“ (also den damaligen) Konzepten der Entwicklung Jugendlicher befasst (S. 156 ff.). Hier wird erstmals in den hier besprochenen Werken ausführlich auf die Rolle der Gesellschaft und der Gesellschaftsstruktur eingegangen, ebenso wie auf Politik, ökonomische und kulturelle Zusammenhänge – wenn auch nur stichwortartig. Aber er stellt z.B. fest, dass die emotionale Entwicklung eines Jugendlichen sich immer in der Beziehung zur Umwelt vollzieht, die „ausreichende Möglichkeiten bieten muß“ (S. 156). Und bei der Darstellung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder geht er auf eine Gruppe ein, die er als „schwierigste Gruppe“ bezeichnet, zu der viele Menschen gehören, „die sich in Macht- und Entscheidungspositionen bringen; vor allem die Paranoiden, die von einem System von Vorstellungen beherrscht werden“ (S. 158).

Dem Autor geht es auch darum, sicherzustellen, dass die Lebensfähigkeit von jungen Menschen sich möglichst optimal entwickelt: „Wir sollten zulassen, dass die Jungen die Gesellschaft verändern und die Alten lehren, die Welt neu zu sehen“ (S. 169).

Am Ende stellt Winnicott fest: „Kein psychiatrisches Etikett paßt jedoch für den Einzelfall, am allerwenigsten das Etikett „normal“ oder „gesund“ (aaO.). Dieser Satz passt sehr gut an das Ende dieses Besprechungsaufsatzes, der aus der aktuellen Corona-Lage des Jahres 2021 entstanden ist, aber deutlich macht, dass manchmal Überlegungen, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen, Wert sind, erneut gedacht und an die aktuelle Situation angepasst zu werden. Die Folgen, die Corona und unsere in diesem Zusammenhang eingeführten Maßnahmen für Kinder und Jugendliche haben werden, sind erst ansatzweise bekannt. Wir dürfen nicht den Fehler machen, sie zu individualisieren oder gar zu pathologisieren. Eine Gesellschaft, die Milliarden zur Unterstützung der Wirtschaft bereitstellt, muss auch in der Lage sein, Kindern und Jugendlichen nichtstigmatisierende Hilfen anzubieten. Ansonsten werden wir in den kommenden Jahren in den Akten der Kinder- und Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch des Strafvollzugs Corona-bedingte Auffälligkeiten finden, die sich mittel- bis langfristig nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt negativ auswirken werden.

Thomas Feltes, März 2021

[1] Während der Begriff Inzidenz auch aufgrund der aktuellen Diskussion über Corona allgemein bekannt sein dürfte, wird „Prävalenz“ eher im medizinischen und auch kriminologischen Bereich verwendet. Darunter versteht man die Rate der zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitabschnitt an einer bestimmten Krankheit Erkrankten (im Vergleich zur Zahl der Untersuchten) oder durch Straftaten auffällig gewordenen Personen.

[2] Vgl. Alex/Feltes: Ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist krank! Thesen zur psychiatrisierenden Prognosebegutachtung von Straftätern. In: Monatsschrift für Kriminologie 2011, S. 280-284. Eine längere Fassung des Beitrages findet sich hier.