Markus Ostermair: Der Sandler. Rezensiert von Thomas Feltes

Markus Ostermair: Der Sandler, Osburg-Verlag Hamburg 2020, ISBN: 978-3-95510-229-6, 350 Seiten, gebunden, € 22,00

Die Dschungelkönigin Désirée Nick wurde von RTL2 für das sog. „Reality-Format“ „Prominent und obdachlos“ auf die Straße geschickt. In Dortmund (ausgerechnet) sollte sie drei (!) Tage „ohne Dach über dem Kopf“ leben. Ihr aussagekräftiger Kommentar dazu: „Ist scheiße. Muss man ganz klar sagen. Ist scheiße. Ist halt scheiße“, wobei dieses Zitat wohl mehr über Désirée Nick aussagt, als über die Lage und Situation von Obdachlosen. Eines ist klar: Frau Nick gibt den Betroffenen keine Stimme, eher im Gegenteil. Sie macht sie zu Objekten ihrer Begierde, sich selbst zur Schau zu stellen. Wohltuend anders ist da der Roman von Markus Ostermair, der denen eine Stimme gibt, die im postmodernen Alltag so leicht übersehen werden.

Ziemlich zeitgleich (am 21.03.2021) strahlte die ARD einen Köln-Tatort zum gleichen Thema aus: „Wie alle anderen auch“ (noch bis September 2021 in der Mediathek), der sofort die Frage aufwarf, wie realistisch das dort Dargestellte denn eigentlich sei.

Der Roman von Ostermair, 2020 mit dem „Tukan-Preis“ der Stadt München ausgezeichnet, ist eher Realität, als das RTL2-Format, und die Protagnisten von Ostermair reden mit mehr Substanz als Frau Nick. Er ist gleichzeitig im Vergleich zum „Tatort“ weniger offensichtlich spektakulär, dafür aber hintergründiger und vielschichtiger. Zur Begründung der Preisverleihung hatte die Münchner Jury folgendes gesagt: „Wie moderne Gespenster streifen sie durch Brückengewölbe, Notschlafstellen und Kleiderkammern, unbeachtetes Treibgut der Wohlstandsgesellschaft. Obwohl mitten unter uns, blicken wir meist durch sie hindurch. Die Obdachlosen auf dem teuren Münchner Pflaster haben keine Stimme, um von ihrem täglichen Überlebenskampf zu berichten, davon, wie ihnen das Leben entglitten ist oder von ihrer Scham darüber, und wie sie einen verstummen, letztlich ganz verschwinden lässt. Für ihre Sprachlosigkeit und die der Stadt, die sie umgibt, findet Markus Ostermair in seinem Roman ‚Der Sandler‘ eine so angemessene wie anspruchsvolle Form. Er spannt das Panorama einer Gegenwelt auf, die von Abgründen durchzogen ist, aber auch von Hoffnung und unerwartetem Zusammenhalt.

Der Münchner Laudator, Clemens Pornschlegel, schreibt dazu: „Wie Brecht, so schreibt auch Ostermair energisch gegen den sozial-darwinistischen Schicksals- und Glücks-Glauben an, der seit dem 19. Jahrhundert unter den Titeln „Individualismus“ und „Liberalismus“ als honorige philosophische Theorie umgeht. Die einfachen und grundlegenden Lehren, die der Roman zum Thema „Obdachlosigkeit“ in offenem Widerspruch zu den liberalen Dogmen erteilt, sind die folgenden: erstens dass Obdachlosigkeit in erster Linie kein persönliches Schicksal und keine private Schuld ist, sondern eine straff organisierte, präzise strukturierte Lebensform unter den gegebenen sozio-ökonomischen Bedingungen. Sie greift genau dann – alle wissen es, niemand will es wahrhaben –, wenn man keine Aktienpakete, Eigentumswohnungen, geregelte Lohnarbeit, folglich auch kein ordentliches Zuhause, keine Dusche, Küche, Kleider und lustigen Wochenenden mehr hat. … Die zweite grundsätzliche Lehre, die der Roman erteilt, ist die, dass die Obdachlosen in keiner fremden anderen Welt leben, sondern inmitten der ordentlichen bürgerlichen, wie alle anderen Leute auch. Obdachlosigkeit ist darin vorgesehen als das eingeschlossene Andere der durchreglementierten Normalität: als deren Drohung und letzte, böse Konsequenz, als jene a-soziale Ausnahme, welche die soziale Regel bestätigt. Anders gesagt, Obdachlosigkeit ist eine sozial-politisch konstruierte Institution der industriellen, sozialstaatlichen Moderne, die es aus diesem Grund in den sogenannten vor-modernen Gesellschaften weder dem Begriff noch der Sache nach gibt“.

Mit der – so die Jury – „präzise gestalteten, an Döblin geschulten Sprache, die seinen Figuren Würde gibt, ohne ihnen falsche Nähe aufzuzwingen, ohne zu urteilen oder zu verklären“ zieht der Autor den Leser in seinen Bann. Ostermair geling tatsächlich eine ziemlich einmalige Innenschau einer gesellschaftlichen Außenperspektive. „Ein wichtiger, kraftvoller Roman über Ausgrenzung und Selbstbehauptung – auf dem dünnen Firnis unserer so sicher geglaubten Welt.

Am ehesten noch vergleichbar ist das Buch von Ostermair mit der Studie von Roland Girtler, Vagabunden in der Großstadt (1980), in der er seine teilnehmende Beobachtung in der Lebenswelt der Sandler Wiens beschreibt (sehr spannend dazu die WebsiteRoland Girtler´s Erkundungen“, auf der die Hintergründe auch der anderen Studien von ihm zu Randgruppen und Subkulturen in unsere Gesellschaft dargestellt werden. Dazu gehören „Ganoven, Zuhälter und Dirnen“ in dem Buch „Der Adler und die die drei Punkte – Pepi Taschner und die Kultur der Ganoven“ (nebenbei bemerkt eines meiner Lieblingsbücher), Pfarrersköchinnen, aber auch die Wiener Polizei (in Girtler´s einzigartiger Studie über den Polizei-Alltag).

Auch das Buch von Richard Brox, Kein Dach über dem Leben kann hier genannt werden. Während jedoch Brox die Biographie eines Obdachlosen vorgelegt hat[1], ist „Der Sandler“ fiktiv, auch wenn man diesen Eindruck nicht unbedingt beim Lesen hat. Es ist die Genauigkeit des Beobachtens, die Ostermair auszeichnet, und die filigrane, dennoch treffende Sprache, die das Buch gleichermaßen spannend macht, wie es den Leser betroffen zurück lässt mit der Frage: Wieso ist so etwas in unserer Gesellschaft möglich? Wobei: Mitleid ist wohl das, was den Betroffenen, die auf der Straße leben, am wenigsten hilft. Selbst der Euro, der in den Becher oder Teller wandert (wir lernen in dem Buch, dass ein Sandler niemals die Hand hinhält, um keine unnötige Nähe mit dem Gebenden zu provozieren, der dadurch vielleicht abgehalten würde, etwas zu geben), kann niemals die Achtung vor dem Menschsein des Anderen ersetzen – so anders der Andere auch sein mag.

Für die Kriminologie ist das Thema Obdachlosigkeit übrigens ein noch (zu) wenig beachtetes: Zwar wird durchaus auf die Hintergründe von Straftaten innerhalb der Wohnungslosigkeit abgestellt (wie z.B. von Marion Müller 2006 in ihrer Dissertation „Kriminalität, Kriminalisierung und Wohnungslosigkeit“). Noch in den 1970er Jahren wurde (wie von Kürzinger in seiner Dissertation 1970 mit dem Titel „Asozialität und Kriminalität“) eine direkte Verbindung zwischen Obdachlosigkeit, Kriminalität und „Asozialität“ hergestellt.

Es fehlt nach wie vor eine explizit wissenschaftliche Beschäftigung mit der Delinquenz von Wohnungslosen und deren Folgen im deutschsprachigen Raum, und es fehlt, worauf Müller (S. 25) hinweist, sogar eine sozialwissenschaftliche Forschungstradition bezüglich Wohnungslosigkeit: „Nimmt man die letzten 20 Jahre als Bezugszeitraum, so erschienen nur wenige aussagekräftige Studien zu Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit, die Aspekte Delinquenz und Kriminalisierung werden – wenn überhaupt – nur am Rande behandelt. Auch innerhalb der kriminologischen Forschung fehlen seit Ende der 70er Jahre – damals existierte noch die so genannte Randgruppenforschung, vor allem innerhalb der Kritischen Kriminologie – neuere Auseinandersetzungen mit der Thematik“. Manchmal ersetzen Romane auch kriminologische Studien – sie entbinden aber nicht davon, sich mit den Hintergründen der beschriebenen Situation theorieorientiert zu beschäftigen und sie gesellschaftspolitisch zu analysieren.

Thomas Feltes, März 2021

[1] Zuerst in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung und 2017 auch bei Rowohlt erschienen und 2020 mit dem „The Open Book Award“ für das beste fremdsprachige Sachbuch in Taiwan ausgezeichnet.