Benjamin Ferencz: Sag immer deine Wahrheit. Rezensiert von Uli Rothfuss

Benjamin Ferencz: Sag immer deine Wahrheit. Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben. Geb.,160 S. Heyne Verlag, München 2020, 17 €. ISBN 978-3-453-21808-6.

100 Jahre Leben und ein Ziel: Menschlichkeit

Von einem, der kämpft, ein Leben lang. Der nicht aufgibt, sein Ziel zu verfolgen, seinen Weg zu gehen. Der nun über ein Jahrhundert erlebt hat, und der diese Zeit nutzt, bis heute, seine Vorstellung von Gerechtigkeit durchzusetzen. Eine Vorstellung, die geschult ist an seiner vielschichtigen Lebenserfahrung, an seiner fundierten juristischen Ausbildung an der wohl besten Juraschule der Welt, Harvard, und an seiner in der Folge an seinen Zielen fokussierten Berufstätigkeit. Benjamin Ferencz, er war einer der Chefankläger in den Nürnberger Folgeprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, der letzte noch lebende;

der dafür sorgte, dass über die Initiatoren, die Durchsetzer der Massenmorde an Juden, an Minderheiten, in der Nazizeit, schließlich Gericht gehalten werden konnte, der akribisch Beweise sammelte, noch zu Kriegszeiten und als Kriegsteilnehmer, sogar an den kriegsentscheidenden Schlachten zu Ende des Krieges als junger Kriegsteilnehmer, und unmittelbar danach, und der dann als Ankläger, US-Amerikaner jüdischen Ursprungs, geboren in Transsilvanien als Kind armer Landjuden, als Kleinkind emigriert nach New York, der sich dort durchgebissen hat und zum Jura-Harvard-Absolventen durchstieg. Und es sich zur Aufgabe machte, erst die Kriegsverbrechen zu dokumentieren, die Verbrecher vor Gericht zu stellen, der damit aber nicht aufgab; aus diesen Tätigkeiten heraus erwuchs das Ziel, insgesamt, umfassend einen internationalen Strafgerichtshof auf die Beine zu stellen – und dies ist ihm und vielen Mitstreitern gelungen – heute kann sich kein diktatorisches Staatsoberhaupt, kein menschenmissachtender General mehr sicher sein, nicht für seine Gräueltaten vor Gericht gestellt zu werden. Darauf kann der heute über Hundertjährige, der in Florida lebt, mit Genugtuung blicken. Und sich weiter, so es sein muss, einmischen, in Interviews, mit schriftlichen Beiträgen; gerade auch in der letzten Präsidentschaft meldete er sich und sah durchaus Parallelen, vor allem im Sprachgebrauch der Nazis – insbesondere im Vornanstellen der eigenen Nation, im Vermeiden des Miteinander, und den Folgen dieses vorsätzlichen Handelns, auf die eindringlich hinwies.

Dieses Buch ist eine Dokumentation seines Lebens aus seiner Sicht, geschrieben von einer Journalistin des Londoner Blattes Guardian, erarbeitet in vielen Gesprächen. Man merkt am Stil des Buches die Sympathie, mit der sich die beiden begegnen, auch die Nachsicht des viele Jahrzehnte Älteren, der bis heute die aktuellen Ereignisse verfolgt und, viel geehrt, immer wieder zu Vorträgen geladen und mit Preisen bedacht wird, auch hierzulande. Auch wenn manches im Buch etwas amerikanisch Großsprecherisch daherkommt, im Kern ist die Botschaft dieses Mannes, der es vom kleinen, jüdischen Emigrantenkind zum angesehen Juristen, über die Kriegsverbrecherprozesse hin zu einem der Vertreter des israelischen Staates bei den Reparationsprozessen hin zu einem renommierten amerikanischen Anwalt geschafft hat, der diesen Beruf irgendwann aufgab, um ganz in seiner Aufgabe aufzugehen, sich weltweit für die Menschenrechte, für die Sühnung von Unrecht und die Durchsetzung des Rechts einzusetzen. Er sprach im deutschen Bundestag, er sprach in der UNO, er schaffte es, wahrgenommen zu werden, und ging dafür manchmal unkonventionelle Wege. Das Ziel, und dieses nicht aus den Augen zu verlieren, zählt bei ihm bis heute. Ehrlichkeit zu sich selbst und zum Nächsten, aber auch Findigkeit in der Durchsetzung seiner Ziele – bei der Wahrheit zu bleiben, wie er im Buchtitel auffordert: Sag immer deine Wahrheit.

Das Buch sollte von allen Nachkommenden gerade hierzulande gelesen werden, gerade von denen, denen wieder von Abgrenzung dem Fremden gegenüber, von Verharmlosung dessen, was in der Zeit der deutschen Diktatur passiert ist, träumt, die das als Kleinigkeit oder Missgriff in der Geschichte verharmlosen. Der Appell von Ferencz ist nicht anklagend, sondern mahnend, so etwas nicht wieder zuzulassen. Tendenzen dahin früh und entschieden zu begegnen; Verstöße zu ahnden, egal wo sie passieren, sie aufzuspüren und vor Gericht zu stellen. Er fand in seinem Leben Mitstreiter, indem er unermüdlich ackerte, mächtige Mitstreiter. Und heute stehen Diktatoren, Massenmörder, vor Gericht, die früher – weil sie eben gedeckt waren durch eine staatliche Unrechtsmaschinerie – ungestraft davongekommen wären, und es geht nicht nur darum, Recht zu sprechen und Schuldige zu bestrafen, sondern erstmal das Unrecht nachzuweisen, zu dokumentieren, der Weltöffentlichkeit zugänglich zu machen.

Hochachtung vor diesem Leben, vor dieser Leistung in einem langen Leben, nicht entmutigt zu werden, trotz Rückschlägen, und ein lesenswertes, wichtiges Buch geschaffen zu haben, auch an die Autorin Nadia Khomami, dass sie die Initiative ergriffen und Ben Ferencz dazu gebracht hat, so offen, so detailliert, so in die Tiefe gehend zu berichten – und uns damit zu Zeugen werden zu lassen, dass es möglich ist, das Unmögliche für die Menschlichkeit zu schaffen, wenn ein Ziel verfolgt wird und Beharrlichkeit da ist. Wichtig.

Uli Rothfuss, April 2021 http://www.uli-rothfuss.de/