Aiko Kempen, Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei. Besprochen von Holger Plank

Kempen, Aiko[1]: „Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei“[2] (ISBN: 978-3-95890-350-0, 286 Seiten, Europa-Verlag, München, 2021, 20.– €)

2020/2021 sind „besondere“ Jahre für die deutsche Polizei, die ansonsten (und nach wie vor auch in dieser für sie schwierigen Situation) bei Umfragen von hohen Vertrauens- und Zustimmungswerten in der Bevölkerung getragen wird. Es gibt wieder­kehrende Berichte über Rassismus und Rechtsextremismus in ihren Reihen, u. a. im Zusammenhang mit privaten Chatgruppen von Polizist*innen, in denen offenkundig Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und mutmaßlich „hochgradig fremdenfeindliche und menschenverachtende“[3] Inhalte geteilt wur­den.

Es folgte die unter diesem Label abstrahiert transponierte Annahme, der­artige, die Demokratie gefährdende Vorurteile und Stereotype führten in der Fol­ge auch zu diskriminierenden Kontrollpraxen, z. T. unter Anwendung unangemessener Gewaltanwendung über das zulässige Maß gerechtfertigten „Unmittelbaren Zwangs“ zur Durchsetzung rechtmäßiger Maßnahmen hinaus[4]. Und da ist auch noch die über viele Monate unter hohem öffentlichen Druck immer noch nicht widerlegte Annahme, Polizeibeamt*innen würden unter dem abscheulichen Chiffre „NSU 2.0“ in inzwischen hoher Anzahl kritische Personen der Zivilgesellschaft, deren Daten sie durch rechts­widrige Abfragen aus polizeilichen Informationssystemen erlangt haben sollen, massiv bedrohen.

Dies alles brach wie ein „Tsunami“ über die gesamte Institution Polizei herein und rüttelte im Kern an deren Selbstverständnis. Die Reaktionen? Zunächst schwei­gende Betroffenheit, dann zunächst das Bemühen der „Einzelfall­hypothese“, die tunlichst nicht in einen „Generalverdacht“ gegenüber den fast 300.000 Polizeivoll­zugsbeamt*innen münden dürfe, schließlich Unverständnis bis hin zu massiver Reaktanz gegenüber den „pauschalierten Vorwürfen“ sowie zuletzt vorsichtiges Problembewusstsein. Diese Abfolge, man kann sie bei Kritik an der Institution Polizei beinahe als ein wiederkehrendes „Paradigma“ beobachten, beschreibt zunächst eine auch im vorliegenden Buch immer wieder angemahnte verbesserungswürdige Fehler­kultur.

Nun ist Kritik an der Polizei nichts generell Neues, es gibt sie anlassbezogen seit ihrer in den vier Besatzungszonen ziemlich unterschiedlich verlaufenen Neu­orientierung nach dem Untergang des NS-Staates. Mit den ersten vorsichtigen Schritten allgemeiner kritischer Polizeiforschung hierzulande Ende der 1960er Jahre akzentuierte sich dann der institutionelle wissenschaftliche Fokus. Mah­nende Aspekte einsetzender kriminalsoziologischer Forschung veränderten insge­samt den Blick auf die Institution und ihre Mitglieder. Wenig differenziert wurde „die“ Polizei als Ganzes in ihrer Haltung als konservativ (obwohl das auch heute noch als Organisation per se ihr demokratisch-rechtsstaatlicher Wesenskern ist, S. 93), einseitig „staatstragend“ und ohne selbstkritisches Reflexionsvermögen analysiert. Hauptkritikpunkte wa­ren vor allem die autoritären hierarchischen Strukturen und ebensolches (robustes) Auftreten in der Öffentlichkeit, Ab­schottung und Bürgerferne, einseitig, vor allem gegen­über marginalisierten Grup­pen genutzte „Definitionsmacht“[5], „Etikettierung“ und „selektive Strafverfol­gung“[6], nicht zuletzt auch die einseitige Selbstzuschreibung als „crime fighter“ in Abkehr des (allerdings historisch belasteten) Ideals des „Freund und Helfers“.

Dieser Zwiespalt stand sinnbildlich für den generellen Vorwurf des Fehlens aus­reichenden Gespürs für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, daraus erwach­sende soziale Kohäsion (auch) als prägendes Element öffentlicher Sicherheit und Ordnung und hieraus geschöpftem Sicherheitsempfinden. Tadel kam also vor al­lem für den Mangel an hierzu notwendigem und hinreichendem gesamtgesell­schaftlich orientierten präventiven Engagement. Die deutlich wahrnehmbare Kri­tik verstetigte sich in den 1980er Jahren, einem besonderen Jahrzehnt für die Re­publik, in welchem mannigfaltige Protestbewegungen die Zivilgesellschaft bis in ihre Mitte hinein massiv erschütterten. Die Polizei war damals wie heute (z. B. zuletzt im Zusammenhang mit fortgesetzten Demonstrationsgeschehen von „Corona-Leugnern“) zwi­schen den tektonischen Platten gesellschaftspolitisch-weltan­schaulich disparaten, unversöhnlich vertretenen Positionen und Diskursen ungeheurem Druck ausge­setzt. Zu jener Zeit war sie anders als vielleicht heute jedoch angesichts der Dynamik und der mitunter aggressiven Entschlossenheit, ja Militanz von Teilen der Protes­tierenden überrascht und weder strategisch noch taktisch ausreichend vorbereitet (obwohl dieser Vorwurf angesichts der mangelhaften Durchsetzung von ver­sammlungsrechtlichen Auflagen bei teilnehmerstarken Kundgebungen oder nicht genehmigten „Stadtspaziergängen“ von „Corona-Leugnern“ auch heute deutlich vernehmbar ist[7]) und ausgerüstet. Deshalb reagierte sie zu dieser Zeit noch wenig deeskalativ, sondern eher mit massiver Machtpräsenz, die sich nicht selten und dann fast folge­richtig auch in gewaltsamen Auseinandersetzungen entlud. Hierbei wurde zwi­schen Teilen der Zivilgesellschaft und der „Obrigkeit“ letztlich ein tiefer Graben gerissen (und Vertrauen erheblich beeinträchtigt), der – verfassungsgerichtlich flankiert[8] – nur mit massiven kooperativen operativen, strategischen und vor allem kom­munikativen Anstrengungen und einem konsequent verfolgten Leitbild einer „Bürgerpolizei“ wieder geschlossen werden konnte, bis sich Ende des 20., eingangs des 21. Jahrhunderts sprichwörtlich wieder reichhaltiges und gesundes Grün auf den Abbruchkanten zeigte. So konnte Vertrauen, das die Polizei in allen Teilen der Gesellschaft benötigt, und zwar nicht als Selbstzweck, sondern um ihre Arbeit erfolgreich erledigen zu können, wieder hergestellt und stabilisiert werden. Ohne ein derartiges stabiles Grundvertrauen in die neutrale Rolle der Polizei, in ihre professionell-seriöse Arbeit, nehmen z. B. die Hinweise aus der Bevölkerung sehr schnell ab. Damit wird eine wichtige Funktion der Polizei, die Aufklärung von Straftaten oder die Ermittlung von Tatverdächtigen, immer schwerer oder gar unmöglich. Die Polizei muss also ein genuines Interesse daran haben, Vertrauen überall dort aufzubauen, wo es fehlt oder abzunehmen droht und dort wo es besteht, es weiterhin zu bestärken.

Doch zunächst zurück zur einleitenden Chronologie: Nach den ereignisreichen 1980ern kamen die ebenso folgenreichen 1990er Jahre. Die Bundesrepublik war angesichts der damals (wie heute) bedeutsamen Anzahl Asylsuchender in einer unseligen Debatte um die „richtige“ Asylpolitik gefangen, spätestens seit 2015 erkennt man eine erstaunliche Parallelität hierzu. Wir erinnern uns an die Aus­wirkungen dieser mit erbitterter Härte geführten gesellschaftlichen Debatte, an die schrecklichen Bilder, z. B. aus Hoyerswerda, Mannheim-Schönau oder Ros­tock-Lichtenhagen im August 1992, als ein Wohnheim für ehemalige viet­namesische Vertragsarbeiter vom rechten Mob unter Applaus mehrerer Tausend Umstehender mit Brandsätzen angegriffen wurde und die Polizei angesichts dieser damals wie heute unfassbaren rassistisch motivierten, menschen­verachtenden Hasskriminalität, in der Presse vielfach als „Progrom“ (!) kom­mentiert, hilflos und die Opfer dieser lebensbedrohlichen Übergriffe nicht hin­reichend zu schützen in der Lage schien. Es wurden umgehend Vorwürfe laut, man nehme die gesellschaftszersetzende, menschenfeindliche Brutalität des rech­ten Mobs nicht ernst genug, verharmlose die Gefahr, sei „auf dem rechten Auge blind“, vernachlässige die Opfer rechter Gewalt, denen besondere Aufmerk­samkeit und professionelle Hilfe zuteil werden müsse und viktimisiere sie mit dieser „Teilnahmslosigkeit“ bzw. „Ignoranz“ erneut schwerwiegend.

In der Retrospektive dieser der Buchbesprechung vorangestellten, zur Kontu­rierung der aktuellen Debatte m. E. erforderlichen einleitenden Bemerkungen, stellt allerdings die „ge­ballte Wucht“ der aktuellen öffentlichen Kritik, nicht nur an den mutmaßlichen Straf­täter*innen, disziplinarrechtlich oder Führungsverant­wortlichen, sondern an der Institution Polizei insgesamt ein neues und in dieser Feldstärke noch nicht beo­bachtbares Momentum dar. Schon deshalb bedarf diese Entwicklung einer nach­haltigen und interdisziplinären Aufarbeitung.

Neben vielen jüngst erschienenen[9] und noch in Vorbereitung[10] befindlichen Publika­tionen setzt hier auch das vorliegende Buch von Aiko Kempen an. Es soll angesichts multidisziplinärer Problemlagen als „Diskussionsgrundlage“ (S. 22) und gleichzeitig als eine Art „Bestandsaufnahme“ dessen dienen, was seit geraumer Zeit über die Polizei kritisch berichtet wird. Hierbei beginnt der Autor sein signifikant kasuistisch angereichertes Narrativ in der „Neuzeit“ der bun­desdeutschen Polizei, nach der Wiedervereinigung, einleitend mit dem polizei­internen „Whistleblower“ und Kronzeugen des „Hamburger Polizeiskandals“ 1994, Uwe Chrobok, der letztlich in den „parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss Hamburger Poli­zei“[11] mündete und  hierbei zahlreiche grundlegende Problemstellungen im poli­zeilichen Selbst- und Rollenverständnis und im Umgang mit manifester (wissenschaftlicher) Kritik offenbarte.

Sowohl als Diskussionsgrundlage als auch als Bestandsaufnahme sind das vorliegende Buch wie auch weitere Publikationen auch wichtig, schon weil „jeder der dokumentierten Fälle das Po­tenzial hat, die Demokratie und das Vertrauen in den Rechtsstaat zu gefährden“ (S. 13). Im Zusammenhang mit den 2018 im Zusammenhang mit dem Komplex „Nordkreuz“ sichergestellten „Feindeslisten“, auf denen rund 1200 Menschen aus Politik und Zivilgesellschaft gelistet waren, wird bspw. eine Kommunalpolitikerin aus Rostock zitiert, die sich, gerade durch die Polizei von diesem Umstand der Existenz einer solchen Liste, der Urheber sowie des mutmaßlichen Gefahrenpotenzials informiert, erschrocken zeigt, dass die Bedrohung in diesem Fall gerade von denjenigen ausgehe, die solche Bedrohungen abwehren sollen: „Das sind die Leute, die man im Zweifel anrufen soll. Da ist nun jedes Mal die Frage: Wenn ich jetzt bei der Polizei anrufe, hab ich dann den Kumpel von dem dabei, und wie läuft das?“ (S. 65). Die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz, eines der zahlreichen Opfer des „NSU 2.0,“ setzte sogar eine Belohnung von 5.000.- Euro für Hinweise auf die Verfasser der Briefe aus. Im November 2020 wird sie in einem Beitrag des Redaktionsnetzwerks Deutschland zu ihrer Motivation hierzu zitiert: „Zwei Jahre und drei Monate nach der ersten Drohung gehe ich nicht mehr von einem größeren Ermittlungserfolg aus“ So weit kann der Vertrauensverlust in das staatliche Gewaltmonopol im Einzelfall also reichen! Das ist nicht einfach hinnehmbar. Schon deshalb darf man die „Polizei nicht gegen jede Kritik immunisieren, indem man jede kritische Auseinandersetzung als General­verdacht abblockt“ (S. 17), denn „Vertrauen entsteht durch die Möglichkeit zur Kontrolle und wirksame Kontrolle kann (eben) nur von außen passieren“ (S. 17).

Eine grundlegende Frage, auf die Kempen mit reichlicher und substanziell erschreckender Kasuistik nach intensiver Recherche und zahlreichen Wortmeldungen Betroffener eine Antwort zu finden versucht ist, „(…) was für eine Polizei wir als Gesellschaft haben wollen und was Polizei an sich heißt“ (S. 226). Eine strukturelle Teilantwort, jedenfalls in punkto der Betrachtungsebene gibt er unmittelbar danach: „(…) die Antwort darauf muss jemand anderes geben dürfen als die Polizei selbst“ (S. 227).

Eine weitere bedeutsame Frage des Buches lautet: „Ist die Polizei in den letzten Jahren nach rechts gerückt? Oder werden schlicht mehr Fälle von rechtsextremen und rassistischen Beamten öffentlich?“ (S. 219) Hat etwa „die moderne und flächendeckende Nutzung von Messengern und Gruppenchats (in den bislang bekannt gewordenen polizeilichen Fällen) eine Alltagskomunikation konserviert, die vorher im Dunkeln blieb?“ (S. 37) Jedenfalls ließ sich „noch nie rechts­extremes Gedankengut in der Polizei so eindeutig belegen wie heute: technisch eindeutig dokumentierte Hakenkreuze und Hitlergrüße, die unter Polizisten verschickt wurden, und Nachrichten, die ihre Nähe zu rechtsextremen Gruppen deutlich machen“ (S. 46) führen jedenfalls zu der begründeten Feststellung, dass von „Einzel­fällen“ nicht mehr die Rede sein dürfe. Diese Floskel ist angesichts der dokumentierten Fälle nicht nur unpassend, sondern sie führt im Übrigen auch zu zivilgesellschaftlich wahrnehmbaren Konsequenzen – u. a. inzwischen nicht nur vereinzelten Dokumentations-Initiativen[12] im Netz -, die den Verant­wortlichen in Polizei und Politik zusätzliche argumentative Schwierigkeiten bereiten. Es stelle sich in diesem Kontext zudem die Frage, „wie viele Einzelfälle eine Struktur ergeben?“ (S. 51). Außerdem würden diese Vorfälle auf ein bedrohliches Potenzial hinweisen, welches in dieser Deutlichkeit nie zuvor dokumentiert war: „Es wäre naiv zu glauben, dass die jetzt dieses Gedankengut nur in sich tragen und in Chats zum Ausdruck bringen“, wird der Vorsitzende des BDK Sebastian Fiedler von Kempen zitiert. „Diejenigen, die sich hier auf derart menschenverachtende Weise geäußert haben, müssen ja eine völlig andere Ge­dankenwelt an den Tag legen, wenn sie jetzt polizeiliche Maßnahmen ergreifen.“ Deshalb sei die Gefahr groß, dass „das unprofessionell, falsch oder rechtsver­letzend“ geschehe, so Fiedler (S. 38f.).

Eine abschließende Antwort für die zweite Ausgangsfrage bietet Kempen zwar nicht, er identifiziert jedoch deutliche Hinweise für „strukturellen Rassismus“ in der Polizei. In Anlehnung an die Feststellungen der von der Innenministerkon­ferenz in den 1990er Jahren in Auftrag gegebene Studie zur „Fremden­feindlichkeit“ konstatiert er jedenfalls: „Als struktureller Rassismus und Racial Profiling, blaue Mauer des Schweigens und fehlende Fehlerkultur sind diese (…) Mechanismen auch heute noch in der Polizei präsent“ (S. 187), wenn sich auch langsam aber stetig „Risse in der blauen Mauer“ (S. 213f.) zeigen. An anderer Stelle (S. 196) ergänzt er hierzu: „Ein strukturelles Rassismusproblem bedeutet keineswegs, dass alle bekannten Fälle miteinander vernetzt sein müssen oder dass es um die schiere Menge der Verdachtsfälle geht. Es heißt schlichtweg, dass Probleme auf die herrschenden Strukturen der Institution Polizei zurückzuführen sind (…)“. Zudem präzisiert er diese Feststellung noch an verschiedenen Stellen des Buches, denn „Rassismus (wird) durch Struk­turen polizeilichen Handelns begünstigt“. U. a. reflektiert er hierbei auf anlass- und ereignisunabhängige Kontroll­befugnisse an bestimmten Orten. „Rassistisches Handeln (ist dort) sogar ohne explizit rassistische Haltung nicht nur möglich, sondern sogar weit verbreitet“ (S. 21). Im Polizeialltag gewöhne man sich daran, „auf äußere Merkmale zu reagieren“. Das „gründe in der Struktur einer Polizei, die darauf angelegt ist, schnell und effizient zu handeln.“ Polizeibeamte hätten gelernt, „auch in Extremsituationen handlungsfähig zu bleiben, (z. B.) indem sie sehr schnell urteilen“, zitiert Kempen den Presse­sprecher der Kieler Polizei (S. 71). Dieses polizeiliche (subjektive) Erfahrungs­wissen, diese „berufsbedingte Kon­struktion der sozialen Wirklichkeit“, wie sie Behr auch bezeichnet (S. 80), könne allerdings dazu führen, dass einige „Personengruppen offenkundig häufiger von der Polizei als potenzielle Krimielle wahrgenommen (und kontrolliert) werden als andere“ (S. 76). Wenn dieses Kontrollverhalten noch dazu mit der latenten Vorstellung verbunden sei, dass Herkunft und Kriminalität miteinander verknüpft seien“, entstehe ein kritischer „kultureller Deutungsrahmen“ (S. 80) und damit Stereotype / Vorurteile, die in der Polizeipraxis nichts zu suchen hätten. „Poli­zist*innen können also nicht nur rassistisch handeln, ohne überzeugte Rassisten sein zu müssen. In vielen Fällen erkennen sie (offenbar) rassistische Verhaltens­weisen nicht einmal“ (S. 84), z. B. wenn es um die Deutungshoheit / Wahr­nehmung ihres Gegenübers geht. „Diskriminierung (…) definiert sich nicht (nur) über die Intention, sondern (auch) über die Wirkung“ (S. 88). Strukturell problematisch könnten sich aber auch Narrative von der berufsbezogenen „Schicksals- oder Gefahrengemeinschaft“ bzw. von der „Polizeifamilie“ auswirken. So sei nahezu jeder konfrontative „Polizeieinsatz eine Handlung an der Schwelle zum Gesetzesbruch. Viele Praktiken im Polizeialltag liegen in einem rechtlichen Graubereich“, wodurch „vieles im Alltag meist stillschweigend geduldet wird, (denn) schließlich könnte man selbst ebenso schnell in die gleiche Situation geraten wie der / die Kolleg*in“. Deshalb, so wird wiederum Behr zi­tiert, würden Polizisten „Straftaten ihrer Kollegen verschweigen, nicht obwohl sie zur restriktiven Strafverfolgung verpflichtet sind, sondern gerade deswegen“ (S. 145)! Diese Feststellung ist nicht nur hier, sondern auch sonst in der Literatur immer wieder zu finden. So stellt bspw. Behrendes[13] fest: „Polizisten arbeiten (…) in emotional aufgeladenen, eskalierenden Konfliktsituationen. Jeder weiß, dass ihm dabei Fehler unterlaufen können, er sich auch einmal beleidigend äußert (…). Jeder, der auf der Straße arbeitet, hat diesen Graubereich an sich selbst und bei anderen wahrgenommen. Deshalb gesteht man Kollegen mal eine Fehlre­aktion zu. Nach dem Prinzip: Auch ich werde nicht immer klinisch sauber handeln (…) Danach ist es ganz schwer, die Grenze noch einmal neu zu ziehen.“ In dem Bewusstsein, dass in einer hochmoralischen Institution wie der der Polizei Fehler nicht gemacht werden (dürfen), diese „das in der Selbstwahrnehmung makellose und perfekte Ansehen beschmutzen“ (S. 152), erscheine somit ggf. „Schweigen als Ausweg“ und werde so „zur strukturellen Praxis“ (S. 145). Einschränkend wird man an dieser Stelle anmerken dürfen, dass gerade die jüngsten Vor­kommnisse, z. B. rund um die inkriminierten Chatgruppen quer durch die Republik, nahezu ausschließlich durch interne Hinweise aufgedeckt wurden. Die „Toleranzschwelle“ und das Bewusstsein um die Gefahren derartiger Praxis scheint sich also durchaus zu ändern.

Kempen stellt zwar fest, dass sich aufgrund der eingangs skizzierten Erfahrungen einiges zum Positiven entwickelt habe. Die Polizei sei durchaus „vielfältiger, weiblicher und demokratischer“ (S. 185) und damit auch trans­parenter und bürgerfreundlicher geworden. Das liegt auch daran, dass sich die Ausbildung über die Zeit erheblich verändert und verbessert habe. Dennoch scheint auch „eine qualitativ hochwertige Polizeiausbildung (…) kein Garant dafür zu sein, lang­fristig demokratische Grundwerte und ein (ausgeprägtes) Empfinden für Dis­kriminierung zu vermitteln“ (S. 121). Er beruft sich hierbei u. a. auf Dozenten, die „immer wieder verwundert seien, wie verändert ihre Schüler z. B. aus den (ersten Berufs-) Praktika bei den Polizeiwachen zurückkehren.“ Diese Erkenntnis war auch das Ergebnis von Studien in NRW[14] und Hamburg[15]. Demnach konnten zwar signifikante (positive) Effekte interkulturellen Trainings in den dualen Bachelorstudiengängen auf fremdenfeindliche Einstellungen ge­messen werden. Im Verlauf des dreijährigen Studiums kam es zu einer messbaren Abnahme vorurteilsgeleiteter Fremdenfeindlichkeit, im Verlauf des ersten Praxis­halbjahres nach dem Studium wiederum zu einem leichten Anstieg. Insgesamt lag der „Pe­gel“ nach dem knapp vierjährigen Beobachtungszeitraum (2013 – 2017) jedoch unter dem Wert bei Studienbeginn. Diese Erkenntnisse weisen darauf hin, dass es folglich nicht nur der Berufsbeginn, sondern die Laufbahn ist, die künftig verstärkt in den Blick genommen werden muss. Gerade der Anstieg im ersten Praxisjahr veranlasste daher das Land NRW, inzwischen eine erweiterte Replikationsstudie mit einer deutlich höheren Grundgesamtheit (450 statt 160) sowie einer deutlichen Ausweitung des Befragungszeitraums nach Abschluss des Studiums (von 6 auf 18 Monate während der ersten Praxiserfahrungen, Studien­beginn 2019) zu starten. Als vorsichtigen Befund halten die Forscher*innen fest, dass auch nach der Ausbildung die Notwendigkeit besteht, entsprechende An­gebote zum Erhalt und Ausbau interkultureller Kompetenz und notwendiger Selbstreflexion hinsichtlich implizit wirkender Vorurteile und Stereotype im Rah­men von Fort- und Weiterbildung (unter Einbezug der Führung) nach Beendigung des Studiums vorzuhalten und eine obligate Teilnahme an solchen Maßnahmen festzuschreiben. Diesen Befund greift auch Kempen unter Berufung auf Feltes (S. 121) auf.

Er reflektiert zudem auf den gängigen „Vulnerabilitätsdiskurs“, den vielfach von den Polizeigewerkschaften benutzten „klaren Tenor zwischen Kriegsrhetorik und verbalem Gegenangriff (auf die Vorwürfe), wonach die Polizei niemals Täter, sondern immer Opfer sei (…) und Unterstützung benötige“ (S. 201f.). Dies führe dazu, dass eine unabhängige Aufarbeitung der Problemstellungen mindestens erschwert werde.

Mit Scharlau lässt sich feststellen: „Zwar handeln immer nur wenige rassistisch, aber alle, die wegschauen, vertuschen, kleinreden und Aufklärung verhindern, untergraben ebenso das Vertrauen in die Polizei. Vor allem das Vertrauen von Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich im Stich gelassen fühlen.“[16] Schon deshalb steht auch die Frage im Raum, warum sich die überragende Mehrheit der Polizisten*innen (bis auf vereinzelte Stimmen) ob der permanenten Vorwürfe nicht selbst mit klaren Statements positioniert, ein eigenes klares Narrativ setzt und den Diskurs weitgehend anderen überlässt?[17] So sei es für die weit überwiegende Mehrheit der Polizist*innen u. a. „nicht damit getan, nicht rassistisch zu sein, sie müssten (vielmehr) dezidiert antirassistische Positionen einnehmen“ (S. 214, Behr) und diese eigeninitiativ und breit wahrnehmbar artikulieren.

Die mit zahllosen Vorkommnissen belegte Kritik von Kempen schmerzt, Polizist*innen wahrscheinlich gleichermaßen wie Bürger*innen. Für Letzt­genannte „steht jeder einzelne dokumentierte Bericht stellvertretend für ein Un­behagen, das Teile der vielfältigen Gesellschaft in Deutschland angesichts der Polizei (inzwischen) haben.“ Bei Erstgenannten schmerzt die Lektüre mitunter so sehr, dass man des öfteren versucht ist, das Buch zur Seite zu legen. Aber Verdrängung hilft bei den vielfältigen Vorwürfen, die im Raum stehen, nicht, schon weil die öffentlich geführte Debatte gerade erst richtig Fahrt aufnimmt. „An dem Thema Rassismus und Rechtsextremismus in den eigenen Reihen kommt die Polizei (nun) nicht mehr so leicht vorbei wie früher“ (S. 220). Und das ist auch gut so, denn – ob die Verantwortlichen es wahrhaben wollen oder nicht – die Diskussion schadet nachhaltig dem Vertrauen in den Rechtsstaat und seinen aus guten historischen Gründen mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Reprä­sentanten. Vertrauen ist jedoch der Nährboden von deren bislang erfolgreicher Arbeit und des damit verbundenen Zugewinns subjektiver und objektiver Sicherheit – natürlich für alle, denn in dieser subjektiven Perspektive ist Sicherheit tatsächlich ein unbedingt schützenswertes Menschenrecht – und hierauf begründeter sozialer Kohäsion in der Gesellschaft. Schon deshalb müssen alle lernen, einander wieder zuzuhören, auch denen, deren Stimme bisher kaum wahrgenommen worden ist. „Lautsprecher“, institutionalisierte „Abwehrreflexe“, unpassende Counter-Narrative oder das schlichte Beharren auf diametralen Positionen helfen nicht dabei, der Gefahr sich erneut entwickelnder Gräben zwischen der Polizei und Teilen der Zivilgesellschaft  entgegen zu wirken. Vor allem schaden sie auch der Wahrnehmung notwendiger Neutralität der Sicherheitsbehörden, ohne die sie – im gegenseitigen Bewusstsein ihres Vorhandenseins – ihre oftmals moderierende Funktion in sozialen Notlagen mit Aggressionspotenzial nicht zufriedenstellend und für alle Partein letztlich akzeptabel erledigen könnten. Obwohl Kempen angesichts der ohnehin facetten- und faktenreichen aktuellen Diskussion keine grundlegend neuen Fakten und Diskurslinien eröffnet und er auch die aufgeworfenen Fragen letztlich nicht abschließend beantworten kann, leistet er mit seiner vielstimmigen Recherche einen wichtigen Beitrag zur Diskussion. Zwar schimmert die Antwort auf die Frage „(…) was für eine Polizei wir als Gesellschaft haben wollen und was Polizei an sich heißt?“ an vielen Stellen des Buches durch: Eine demokratische, vielfältige, transparente, eine rechtschaffen(d)e Bürgerpolizei, die für alle Menschen in diesem Land, die sie brauchen, da ist. Ebenfalls recht überzeugend gelingt jedenfalls die argumentative Fundierung, warum „(…) die Antwort darauf jemand anderes geben dürfen müsse als die Polizei selbst“. Angesichts der derzeit avisierten wissenschaftlichen Aufarbeitung zahlreicher aufgeworfener Fragen ist die Wirklichkeit allerdings zur Zeit noch eine andere. Jedenfalls findet sie derzeit nur forschungsgeleitet eingeschränkt und weitgehend (intern) in polizeilichen Aus- und Fortbil­dungsstätten statt (vgl. z. B. Skizze „DEWEPOL“[18] oder Skizze MEGAVO[19]). Angesichts der Dynamik der Ereignisse wird dies aber sicher nicht das Ende der Entwicklung sein.

Wer sich (selbst-)kritisch mit der vielfältig behandelten Thematik auseinandersetzen möchte, für den bietet das Buch von Kempen jedenfalls zahllose Anknüpfungspunkte und ist trotz des beklemmenden Unbehagens, welches einen bei der Lektüre mitunter befällt, unbedingt lesenswert. Jedenfalls ist es auch ein beachtliches Plädoyer für eine offene und kritische Auseinandersetzung mit den Fakten, polizeiintern wie -extern.

Holger Plank, im April 2021

[1] Vgl. Autorenporträt auf der Verlags-Website.

[2] Vgl. Buchhinweis auf der Verlags-Website, zuletzt abgerufen am 15.04.2021.

[3] So jedenfalls der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul am 24.11.2020, dpa-infocom, dpa:201124-99-443023/7.

[4] Vgl. hierzu die Ergebnisse des an der RUB durchgeführten Projekts KviAPol.

[5] Feest / Blankenburg, 1972.

[6] Sack, “Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der labeling ap­proach”, 1972.

[7] Vgl. z. B. nur Behr, 04.04.2021 auf SWR Aktuell anl. eines Demonstationsgeschehens mit mehr als 10.000 Teilnehmern gegen die Coronavirus-Politik.

[8] Vgl. „Brokdorf-Beschluss“ des BVerfG, 1 BvR 233, 341/81 vom 14. Mai 1985 (BVerfGe 69, 315)

[9] Bspw. und ohne den Anspruch der Vollständigkeit: Meisner / Kleffner (Hrsg.), „Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz, 2019; Laabs, Staatsfeinde in Uniform. Wie militante Rechte unsere Institutionnen unterwandern, 2021; Feltes / Plank (Hrsg.), Rassismus, Rechtsextremismus, Polizeigewalt. Beiträge für und über eine rechtschaffen(d)e, demokratische Bürgerpolizei, 2021; Feltes / Plank, ständig aktualisierte Online-Wortmeldung zum Thema (letzter Stand 15.04.2021).

[10] Vgl. z. B. IDZ, CfP vom 17.11.2020; Singelnstein / Hunold, „Rassismus und Diskriminierung in der polizeilichen Praxis. Eine Bestandsaufnahme“, 2021.

[11] Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drs. 15/6200 vom 13.11.1996.

[12] Vgl. bspw. nur die „Einzelfallkarte“ der Stay Behind Foundation; „entnazifizierungjetzt.de“; Chronik der „Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt“ oder inzwischen bundesweite Initiativen wie „CopWatch“ (hier am Bsp. Frankfurt a. Main, aber auch in zahlreichen anderen dt. Städten mit Regionalvereinigungen) bzw. „Copservation“ (auf Twitter @cop_servation bzw. Instagram @copservation), die zuletzt 2020 mit einem „Adventskalender“ aufwartete.

[13] Behrendes, in: Süddeutsche Zeitung (Magazin), Heft 31, 2017. An anderer Stelle spricht er in diesem Zusammenhang auch von einer „psychosozialen Zumutung für die Beamt*innen“ (ders. in Die Zeit, Ausgabe 49, 2020, S. 20).

[14] Krott et al., 2018, 2019 („UMFELDER“-Studie).

[15] Kemme et al., Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 2020 (103), Heft 2, S. 129-149.

[16] So Maria Scharlau, Völkerrechtsexpertin bei Amnesty International Deutschland in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau vom 21.03.2021.

[17] So fordert z. B. Schlüter (jetzt vom 18.09.2020) z. B. eine „kritische Graswurzelbewegung“, z. B. eine Initiative „Ansändige Polizist*innen, zeigt euch doch mal!“

[18] Forschungsprojekt DEWEPOL der Akademie der Polizei (Demokratiebezogene Einstellungen und Werthaltungen innerhalb der Polizei Hamburg, an der sich auch Niedersachsen beteiligt), Hamburger Polizei Journal, Ausgabe 5, 2020, S. 32 ff.

[19] Forschungsprojekt MEGAVO an der DHPol (Motivation, Einstellung und Gewalt imn Polizeialltag), vgl. Projektskizze 2021.