Martin Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht. Band 11 der Enzyklopädie Europarecht, Nomos-Verlag 2021, rezensiert von Thomas Feltes

Martin Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht. Band 11 der Enzyklopädie Europarecht, herausgegeben von Martin Böse, Gesamtherausgegeben von Armin Hatje, Peter-Christian Müller-Graff, Gesamtschriftleitung: Jörg Philipp Terhechte, Nomos-Verlag Baden-Baden, 2. Auflage 2021, 1.348 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8487-6473-0, 188.- Euro

„Europäisches Strafrecht“ ist ein Begriff, der erst in jüngster Zeit Eingang in die Rechtspraxis und die Ausbildung von Juristen gefunden hat. Man versteht darunter die Gesamtheit der von der Europäischen Union erlassenen Rechtsakte auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafprozessrechts sowie die Gesamtheit der völkerrechtlichen Vereinbarungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Strafrechts. In insgesamt 28 Kapiteln werden so unterschiedliche Schwerpunkte wie Grund- und Verfahrensrechte, Einfluss des Europarechts auf das nationale Recht, aber auch die sog. „grenzüberschreitende Kriminalität“ und der europäische Haftbefehl, die europäische Ermittlungsanordnung, Vollstreckungshilfe und Beweisrechtshilfe abgehandelt. Auch polizeiliche Kooperationen sowie Einrichtungen wie Europol, Eurojurist, die Europäische Staatsanwaltschaft, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung OLAF u.a. werden vorgestellt.

Eine gute Übersicht, welche Bereiche das „Europäische Strafrecht“ umfasst, findet sich z.B. in den Vorlesungsunterlagen von M. Heger der HU Berlin und auf der Website des BMJV.

Das Europäische Strafrecht in dieser komplexen Gesamtheit nimmt zunehmend Einfluss auf die deutsche Strafrechtswissenschaft und -praxis. Die Entwicklungen nicht nur aufzuzeigen, sondern ihre Auswirkungen auf das nationale Straf- und Strafverfahrensrecht zu analysieren und einzuordnen, ist Gegenstand von Band 11 der „Enzyklopädie Europarecht“. Die 2. Auflage des Handbuchs systematisiert auf aktuellem Stand Schritt für Schritt die durch den Vertrag von Lissabon neuen primärrechtlichen Grundlagen, gibt detailliert Aufschluss über die Angleichung des Straf- und Strafverfahrensrechts und die Grundlagen der strafrechtlichen Zusammenarbeit in der Union. Ein Fokus liegt dabei zugleich auf der demokratischen wie gerichtlichen Kontrolle der Akteure. Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung (z.B. zu den unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Grenzen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung) und Gesetzgebung, z.B. zu gemeinsamen Mindeststandards für Verfahrensrechte im Strafverfahren, neuen Instrumenten der Zusammenarbeit (Europäische Ermittlungsanordnung oder den direkten grenzüberschreitenden Zugriff auf Clouddaten) oder zur Europäischen Staatsanwaltschaft, werden kritisch begleitet und systematisch im Gesamtkontext des europäischen Integrationsprozesses verankert.

Einen Schwerpunkt des Bandes bildet dabei immer wieder die Frage, welches Gegengewicht die Verteidigung der europaweiten Vernetzung der Strafverfolgungsbehörden entgegenstellen kann. Denn über Verfahren oder Sachverhalte im Ausland lassen sich gerade innerhalb des europäischen Raums, der gerne als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ bezeichnet wird, eine Reihe weiterer zunehmend häufiger auftretender Konstellationen ausmachen, die als in einem weiteren Sinne grenzüberschreitend bzw. transnational besondere Schwierigkeiten für die Verteidigung mit sich bringen.

Aber nicht nur das: „In Überlegungen zur Institutionalisierung einer europäischen Verteidigung, sollten danach insbesondere auch inländische Verfahren einbezogen werden, deren Ausgang wesentlich davon abhängt, inwieweit die Verteidigung erfolgreich gegen die Erlangung und spätere Verwertung von im Ausland befindlichen Beweismitteln vorgehen kann, und schließlich kann sich die Verteidigung in einer Vielzahl von Deliktsbereichen, etwa bei Wirtschaftsstrafsachen oder BtM-Verfahren, mit konkurrierenden parallel geführten Strafverfahren bzw. einem (drohenden),forum shopping“ der Strafverfolgungsbehörden konfrontiert sehen“ (S. 1163).

Unter praktisch-organisatorischen Gesichtspunkten dürfte zu den vordringlichsten Bedürfnissen der Verteidigung in transnationalen Verfahren der rasche Zugang zu qualifizierten Kooperationspartnern und zu verlässlichen Informationen über das Recht des anderen Staates zählen. Gerade mit Blick darauf, dass im Ermittlungsverfahren wesentliche vorentscheidende Weichenstellungen erfolgen und die Verteidigung insoweit unter Zeitdruck handeln muss, sind institutionalisierte Informations- bzw. Kommunikationskanäle wünschenswert, meinen die Autor*innen. Gleichwohl fehlen bislang, worauf sie hinweisen, Einrichtungen, die der Verteidigung den nationalen Strafverfolgungsbehörden vergleichbare Möglichkeiten bieten, welche ihrerseits auf das Europäische Justizielle Netz (EJN), Eurojust und Europol als Servicestellen zurückgreifen können, und neben denen in Bälde in ihrem Zuständigkeitsbereich die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) grenzüberschreitend ermitteln wird.

Diese Grundproblematik soll an folgendem konkreten Beispiel deutlich gemacht werden, an dem der Rezensent als Rechtsbeistand beteiligt war:

Nach einem Europa-League-Spiel von Borussia Dortmund im spanischen Sevilla am 15. Dezember 2010 kam es rund um das Spiel zu massiver Polizeigewalt gegen mitgereiste BVB-Fans. Nach dem Spiel wurden 15 Dortmunder Anhänger von der lokalen Polizei beleidigt, misshandelt, in Gewahrsam genomen und anschließend in einem Schnellverfahren zu Freiheitsstrafen von 12 Monaten zur Bewährung verurteilt. Mit einer „Task-Force Sevilla“ begann danach eine Arbeitsgruppe um Alexandra Schröder und Thomas Feltes an der Ruhr-Universität Bochum diesen Vorgang aufzuarbeiten, denn entgegen der Aussagen der spanischen Polizei wurden diese Urteile in das deutsche Bundeszentralregister eingetragen – mit teilweise massiven Folgen für die Betroffenen. Nachdem Versuche fehlschlugen, die Eintragungen durch das zuständige Bundesamt der Justiz löschen zu lassen, erhoben wir gemeinsam mit RA Marco Noli Klage beim für solche Fälle zuständigen Kammergericht in Berlin. Das Gericht lehnte unsere Klage überraschend schnell ab, so dass uns danach nur noch der Weg zum Bundesverfassungsgericht blieb, den wir – bezogen auf einen BVB-Fan als Beispiel – auch gingen (ein aktuelles Interview mit diesem Fan findet sich hier). Erst nach einem fast zehn Jahre andauernden Rechtsstreit wurde schließlich im Mai 2020 durch das Kammergericht Berlin unserer Klage auf Löschung der Eintragung stattgegeben (s. die Presseerklärung dazu), nachdem zwischenzeitlich das Bundesverfassungsgericht zu unseren Gunsten entschieden hatte (hier diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und hier die finale Entscheidung des Berliner Kammergerichts).

Im Verlauf dieses Verfahrens zeigte sich, dass es extrem schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ist, von Deutschland aus gegen eine Verurteilung in einem anderen europäischen Land vorzugehen. Dass es sich hier konkret um Spanien handelte und damit ganz besondere Probleme verbunden waren, erkannten wir erst im Verlauf unserer Versuche, Akteneinsicht in die spanischen Unterlagen zu bekommen und geeignete Kooperationspartner in Spanien zu finden. Einsicht in die vollständigen Akten wurde im Übrigen bis zum Schluss nicht gewährt, so dass sich das Kammergericht zu der Feststellung kam, dass „die spanischen Gerichte und Behörden eine Überprüfung der substantiierten Angaben des Antragstellers, die die Vermutung der Richtigkeit von Strafurteilen europäischer Mitgliedsstaaten erschüttern (…), nicht ermöglicht haben“. Daher war die Eintragung unzulässig weil der Antragsteller hinreichend dargelegt hat, „dass ihm im Verfahren der Schnellverurteilung  … kein rechtliches Gehör gewährt worden ist.“

Unsere Kooperationsversuche mit spanischen Anwälten scheiterten daran, dass engagierte Anwälte in Spanien extrem unter Druck stehen. Auszüge aus der Antwort eines spanischen Kollegen, den kontaktiert hatten, machen deutlich, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz mit kritischen Anwälten dort umgehen.

Der spanische Kollege riet uns dann auch davon ab, das Verfahren an einen seiner spanischen Kollegen zu geben – dies seien „zu 99% Feiglinge“:

Auch wenn das Beispiel inzwischen fast zehn Jahre zurückliegt, so finden man immer wieder Insider-Informationen, dass eine echte Chancengleichheit in Spanien bei Polizei und Justiz nicht vorhanden ist. So hat eine Delegation der die Anti-Folter-Kommission des Europarates (CPT) in Bezug auf das Verhalten der spanischen Polizei in dem (vorerst letzten veröffentlichten) Bericht nach ihrem Besuch 2018 in Spanien “once again received a number of allegations of ill-treatment, consisting mainly of kicks and punches to the head and body and blows with truncheons to the body, usually at the moment of apprehension after the persons concerned had been brought under control”. Auch in der U-Haft und im Strafvollzug wurden entsprechende Misshandlungen festgestellt.

Für die Situation nach den Verhaftungen 2010 in Sevilla berichteten uns die Fans nicht nur von Misshandlungen durch die Polizei am Stadion und auf dem Weg vom Stadion zur Polizeiwache, sondern auch darüber, dass grundlegende Menschenrechte verletzt wurden: das Recht auf einen Anwalt, das Recht, Angehörige zu informieren, das Recht auf menschenwürdige Unterbringung u.a.m. So gab es weder ausreichend zu Essen noch zu trinken, und ein Dolmetscher war ebenfalls nicht oder nur bedingt verfügbar. Nachdem sie ein Blanko-Formular (!) unterschrieben hatten, durften die BVB-Fans die Polizeiwache verlassen – ansonsten, so wurde ihnen angedroht, würden sie noch Monate in Haft bleiben.

Dieses Beispiel macht deutlich, wie wichtig es ist, dass Strafverteidiger über das „Europäische Strafrecht“ gut informiert sind – wozu dieser Band sehr gut beiträgt. Es stellt sich dabei weniger die Frage, ob die Verteidigung (als Institution) europaweit gestärkt werden sollte, sondern, auf welche Weise der Institution Verteidigung in (den zunehmend häufigeren) transnationalen Verfahren „im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die Möglichkeiten gewährleistet werden können, ihre rechtsstaatlich unverzichtbare Funktion wahrzunehmen“ (S. 1180).

Die Autoren betonen zurecht, dass die Schwierigkeiten, hierbei voranzukommen, eine kriminalpolitische Dimension haben, „zumal sich spätestens seit dem 11. September 2001 ein punitiver Trend gezeigt hat, der sich insbesondere im Europäischen Strafrecht auswirkt und in diesem Bereich auf den fruchtbaren Boden administrativ durchwirkter Strukturen fällt“. Obwohl sich vor dem Hintergrund der in der Idee eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angelegten Ausbalancierung der Interessen der Strafverfolgungsbehörden und des Einzelnen und der normativen Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten an das Gebot des fairen Verfahrens mit guten Gründen die Frage nach einer Verantwortung auch der Union dafür aufwerfen lasse, erscheine Skepsis angebracht, ob die Chancen der Verteidigung in transnationalen Verfahren verbessert werden.

Die ausführlichen Auseinandersetzungen mit der europäischen polizeilichen Kooperation in dem Band (S. 885 ff.) von Dieter Kugelmann sind verdienstvoll, an manchen Stellen aber ein wenig unkritisch – insbesondere, wenn man sich die Ereignisse von Sevilla 2010 vor Augen hält. Sehr unkritisch auch die Thematisierung der Arbeit von FRONTEX (S. 896), wobei man hier dem Autor zugutehalten kann, dass sich die eigentlichen Skandale um FRONTEX (s. dazu den Bericht des Spiegel von April 2021) erst nach Drucklegung des Buches ereignet haben. Die Grundproblematik (illegale Pushbacks, Zusammenarbeit mit Unrechtsstaaten wie Libyen) war aber schon vorher erkennbar und hätte intensiver behandelt werden müssen, ebenso wie der Bericht des CPT zum Abschiebeflug nach Afghanistan, der schon im Mai 2019 verfügbar war.

Am Ende und eher nebenbei sei auf das Kapitel 27 in dem Band hingewiesen, das sich mit „Evaluation“ beschäftigt (S. 1263 ff). Es macht nämlich deutlich, dass andere europäische Länder hier schon deutlich weiter sind als die Bundesrepublik, und dass es auch einer Evaluation der Rechtsstaatlichkeit von Strafjustizsystemen bedarf (S. 1279 ff.) – die vielleicht auch unser „Sevilla-Beispiel“ hätte nutzen können.

Thomas Feltes, Mai 2021