Martin Kirchhoff, Norbert Wolf: Kriminalprognose und ihre Bedeutung für die Polizei. Rezensiert von Thomas Feltes

Martin Kirchhoff, Norbert Wolf: Kriminalprognose und ihre Bedeutung für die Polizei. Richard Boorberg Verlag, Stuttgart 2021, 128 S., ISBN 978-3-415-07012-7, € 34,80

Prognosen kennt jeder, und sei es aus dem Wetterbericht. Im Bereich der Kriminalität gibt es verschiedene Bereiche, in denen Prognosen eine Rolle spielen: So versucht man, die zahlenmäßige Entwicklung der Straftaten ebenso wie mögliche Veränderungen in der Deliktstruktur vorherzusehen. Daher lässt ein Buch mit diesem Titel Interessantes erwarten. In ihrem Vorwort weisen die Verfasser darauf hin, dass die Aktualität dieses Themas dadurch unterstrichen wird, dass „Prognoseinstrumente immer mehr Einzug in die polizeiliche Praxis erhalten.“ In dem vorliegenden Band geht es vor allem um die Prognose personenbezogener Delinquenz, also um Rückfallprognosen. Die Verfasser unterscheiden dementsprechend zwischen Kollektiv- und Individualprognosen. Im dem Buch von Kirchhoff und Wolf werden verschiedene Kriminalprognosen vorgestellt und die „Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis“ herausgearbeitet. Übersehen (oder zumindest nicht ausdrücklich angemerkt) wird dabei, dass die Erstellung einer Individualprognose Aufgabe entsprechend ausgebildeter Fachleute ist und sein muss – und dazu gehören Polizeibeamt*innen in der Regel eher nicht. In dem Kapitel „Prognosen im Polizeialltag“ (ab S. 54) verwischen sich diese Grenzen, was der Sache nicht dienlich ist. Zwar wollen die Autoren „den Blick über den Tellerrand hinaus“ schärfen. Eine solche Betrachtungsweise helft den mit Kriminalprognosen beschäftigten Polizeibeamten dabei, „Abläufe z. B. der Justiz besser zu verstehen und ihre eigene Vorgehensweise auf diese Abläufe einzustellen“, wobei offenbleibt, was damit konkret gemeint ist, denn primäre Aufgabe der Polizei ist die Ermittlung einer Straftat und nicht die Vorbereitung oder gar Durchführung einer Individualprognose. Durch die Kenntnisse im Bereich der Prognose soll es (und hier wird es problematisch) Polizeibeamt*innen gelingen, „ihre eigenen Aktenbestandteile rechtssicherer zu verfassen und möglichen Einwänden von Rechtsanwälten, Staatsanwälten oder Richtern entgegenzuwirken“ (S. 12). Ziel soll es demnach wohl sein, eine möglichst „wasserdichte“ Ermittlungsakte anzulegen, mit der die Verurteilung des Straftäters sichergestellt ist. Dass polizeiliche Ermittlungen eine primär andere Aufgabe haben, nämlich das Zusammentragen von be- und (ja, auch das!) entlastenden Beweisen, wird verschwiegen – auch deshalb, weil Faktoren, die eine Individualprognose positiv beeinflussen können (sog. protektive Faktoren oder Aspekte von Resilienz) in dem Buch nicht behandelt werden.

Eher nebenbei weisen die Autoren auch darauf hin, dass der Verwendung der vorgestellten Prognosemethoden „die grundlegende Praxis der individuellen Beurteilung von Rückfallrisiken bei der justiziellen Beurteilung, welche eine statistisch erhobene Wahrscheinlichkeit als nicht ausreichend für Grundrechtseingriffe bewertet“, problematisch ist. Dennoch erweckt das Buch bzw. die Art und Weise, wie es verfasst ist, den Eindruck, dass man „mal so eben“ mit Hilfe der entsprechenden Skalen oder Instrumentarien eine Prognose erstellen kann – und solche Skalen werden dann auch am Ende des Buches mitgeliefert (z.B. S. 103 ff.). Genau davor hätten die Autoren aber warnen müssen, wenn sie wissenschaftlich seriös gearbeitet hätten, und zwar nicht nur aus dem genannten Grund, dass eine statistische Wahrscheinlichkeit nichts über ein individuelles, zukünftiges Verhalten aussagt, sondern vor allem deshalb, weil Prognosen in die Hände von Fachleuten gehören. Im Bereich der Vorhersage zukünftigen delinquenten Verhaltens sollten Prognosen nur und ausschließlich von Psychologen und/oder Psychiatern erstellt werden, wobei selbst diese nicht die Gewissheit geben, eine solche Prognose „lege artis“ zu erstellen, worauf wir schon früher anhand von Beispielen hingewiesen haben[1]. Es sind ebendiese Zweifel und kritischen Anmerkungen, die in dem Buch fehlen und die den Eindruck erwecken, dass hier eine Anleitung zur Erstellung von Prognosen durch nicht dafür kompetente Personen gegeben werden soll. Die Risiken und Nebenwirkungen (nicht nur, aber vor allem für den/die Betroffenen) werden dabei ausgeklammert.

Für eine Prognosestellung werden zwar mittlerweile empirisch validierte Kriterienlisten als Leitfaden eingesetzt. Dabei werden relevante Risikofaktoren benannt und gewichtet. Solche Listen dienen primär als Arbeitsinstrument für die fachpsychiatrische Individualbeurteilung. Sie ermöglichen es zwar Lai*innen, erstellte Prognosegutachten auf ihre Plausibilität zu überprüfen; sie sind aber nicht dafür gedacht, dass solche Lai*innen selbst prognostisch tätig werden[2].

Aussagen wie die, dass durch „sein standardisiertes und zeiteffizientes Verfahren (…) die Nutzung des SORAG durch die Polizei grundsätzlich möglich“ sei (S. 37) sind daher irreführend und fahrlässig. Wenn dann noch der Hinweis erfolgt, dass die „Durchführung oder Anordnung der psychologischen Untersuchungen durch die Polizei selbst ist ohne die Mithilfe des Straftäters und klinisch-psychologisch geschultem Personal nicht möglich“ sei (S. 38), dann disqualifizieren sich die Autoren selbst. Denn was ergibt sich aus dieser Feststellung? Doch nichts Anderes, als dass man dann eben die Prognose mit eigenen Mittel durchführen soll.

Im zweiten Teil (ab S. 54) geht es dann um „Prognosen im Polizeialltag“. Wie und warum dieser Teil mit dem ersten Teil verbunden ist, verraten die Autoren nicht. Vielmehr wird so getan, als wenn die Erkenntnisse der psychologisch-psychiatrische Prognose mal so eben auch von Polizeibeamt*innen übernommen und angewendet werden könnten. Wenn dann noch als Hinweis an die polizeiliche Praxis auf Anhaltspunkte hingewiesen wird, „die sich aus kriminalpolizeilichem Erfahrungswissen (!!!, TF) ergeben, (und) bezüglich der Art bzw. Ausführung der Tat und der Persönlichkeit des Täters als Voraussetzungen zur Anlage einer kriminalpolizeilichen Kriminalakte dienen“ (sollen) (S. 55), dann wird die Grenze zum auch rechtlich Zulässigen überschritten. In eine Kriminalakte gehören polizeiliche Ermittlungsergebnisse, und nicht Mutmaßungen zur Persönlichkeit des Täters. Letzteres sollte man – wenn und wo zulässig – Fachleuten der Bewährungs- oder Jugendgerichtshilfe oder Psycholog*innen überlassen, wenn es zu einem Strafverfahren kommt. Das immer wieder zitierte „kriminalistische Erfahrungswissen“ wird bekannter Weise nicht systematisch reflektiert oder gar evaluiert, und ist zudem noch durch verzerrte und selektive Wahrnehmungen beeinflusst. Es sollte und darf daher bei der polizeilichen Prognose keine Rolle spielen.

Gänzlich durcheinander geht es, wenn eine Beziehung zur erkennungsdienstlichen Behandlung (S. 57 ff.) hergestellt wird. Dort steht dann: „Die kriminologische (!, TF) Prognose basiert auf bisherigen Ermittlungsverfahren. Diese setzen sich zusammen aus generellen Rückfallquoten in speziellen Deliktsbereichen oder speziell aus dem kriminellen Vorleben des Täters“ (S. 61). Immer wieder wird dabei von den Autoren durchgängig übersehen (und/oder verschwiegen), dass die selbst zu Beginn gemachte Einschränkung, wonach statistische Werte gerade keine Individualprognose zulassen.

Singelnstein und Kunz stellen in der aktuellen Auflage ihres Kriminologie-Lehrbuches zu recht fest: „Die Verlässlichkeit der statistischen Prognose bestätigt sich nur bei Anwendung auf Extremgruppen sehr hoch oder praktisch nicht risikobehafteter Personen – dort also, wo die Prognosebeurteilung trivial, weil nahezu tautologisch wird. Im Übrigen überschätzen statistische Beurteilungen das Kriminalitätsrisiko[3]. Es wird daher dringend angeraten, die ausführlichen Kapitel zu diesem Thema in dem Lehrbuch von Singelnstein und Kunz zu lesen. Warum Kirchhoff und Wolf dies nicht auch getan haben, bevor sie ihr Büchlein verfasst haben (denn dieses Standardlehrbuch taucht in ihrer Literaturliste nicht auf), bleibt offen.

Ein Buch, wie es hier vorgelegt wird, sollte prinzipiell von Personen verfasst werden, die über die einschlägige wissenschaftliche Kompetenz und den entsprechenden Überblick im Bereich der Prognostik verfügen, wenn es nicht Gefahr laufen will, pseudowissenschaftlich daherzukommen. So lässt auch der Inhalt des hier besprochenen Buches an verschiedensten Stellen erhebliche wissenschaftliche Zweifel am Inhalt und der Darstellung aufkommen. Es ist daher letztlich ungeeignet, selbst (oder besser: besonders) für die polizeiliche Praxis. Wer sich über (Individual-)Prognosen angemessen informieren will, was durchaus auch für Polizeipraktiker angeraten wird, der sollte zu entsprechenden Veröffentlichungen aus dem psychologisch-medizinischen Bereich greifen, z.B. zu dem Werk von Kobbé[4]. Dort wären die knapp 35.- Euro, die für das lediglich 128 Seiten „starke“ Buch von Kirchhoff und Wolf aufgerufen werden, besser angelegt.

Thomas Feltes, Juli 2021

 

[1] Vgl. Feltes/Alex: Probleme der Kriminalprognose aus kriminologisch-psychologischer Sicht. In: Ulrich Kobbé, Forensischen Prognosen. Ein transdisziplinäres Praxismanual, Lengerich 2017, S. 29-40 sowie Alex/Feltes: Ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist krank! Thesen zur psychiatrisierenden Prognosebegutachtung von Straftätern. In: Monatsschrift für Kriminologie 2011, S. 280-284.

[2] S. dazu im Einzelnen Singelnstein/Kunz: Kriminologie, 8. Auflagen. Bern 2021, § 8 Rdnr. 31, auch mit Hinweisen auf einschlägige Literatur.

[3] aaO, § 10, Rdnr. 27.

[4] Kobbé (Hrsg.): Forensische Prognosen. Ein transdisziplinäres Praxismanual. Lengerich 2017