Ostendorf, Heribert (Hrsg.); Jugendgerichtsgesetz; 11. völlig überarbeitete Auflage, 2021, 896 Seiten, gebunden, Nomos-Verlag Baden-Baden, ISBN 978-3-8487-6113-5, 98.- Euro
Bereits die 10. Auflage des Kommentars von Ostendorf wurde im PNL besprochen, wo die „nach wie vor … klare Sprache und die durchgängige kritische Kommentierung der Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes“ gelobt wurde. Gute Übersichten (z.B. auf S. 32 in der aktuellen Auflage zu den Gesetzeszielen) helfen dabei, das JGG insgesamt besser zu verstehen; insofern kann der Kommentar auch zur Ergänzung in der jugendstrafrechtlichen Lehre verwendet werden und ist insgesamt zu empfehlen.
Hinzuweisen ist darauf, dass in der Neuauflage bedeutsame Gerichtsentscheidungen z.B. zur Bedeutung des „Erziehungspostulats“ bei der Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld sowie zur Ausweitung der Jugendstrafe auf bis zu 15 Jahren bei Heranwachsenden in Fällen von Mord wegen der besonderen Schwere der Schuld ebenso aufgenommen wurden wie fachwissenschaftliche Veröffentlichungen dazu. Während ich mich in der Kommentierung der 10. Auflage schwerpunktmäßig mit eben diesem Erziehungsbegriff befasst hatte, soll für die 11. Auflage das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten in Jugendstrafverfahren im Mittelpunkt stehen, das am 9.12.2019 in Kraft trat. Durch dieses Gesetz wurden wesentliche Neuerungen geschaffen, u.a. hinsichtlich der Unterrichtungs- und Belehrungspflichten der Strafverfolgungsbehörden, der Ausweitung der audiovisuellen Vernehmung der Beschuldigten, der Rechte der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter sowie der Rechte und Pflichten der Jugendgerichtshilfe. Diese gesetzlichen Erneuerungen machen, so Heribert Osterdorf als Herausgeber des Kommentars, eine Neukommentierung erforderlich.
Nach der Neuregelung soll z.B. die JGH über das Ergebnis der Nachforschungen nach § 38 Abs. 2 „zeitnah“ Auskunft geben, sobald es im Verfahren von Bedeutung ist (§ 38 Rn. 15 a). In der Zusammenschau mit dem neuen § 46 a hat das in aller Regel vor der Erhebung der öffentlichen Klage zu erfolgen (§ 46 a Rn. 1). Daneben ist mit § 38 Abs. 4 S. 1 die von Ostendorf bis zur 10. Aufl. geforderte Anwesenheitspflicht in der Hauptverhandlung nun ausdrücklich gesetzliche Bestimmung geworden (§ 38 Rn. 8); bei pflichtwidrigem Fernbleiben besteht gem. § 38 Abs. 4 S. 3 sogar die Möglichkeit, dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe die dadurch verursachten Kosten aufzubürden (§ 38 Rn. 8); zugleich soll durch die Anwesenheitspflicht die Prognose, die Voraussetzung für eine Anklageerhebung ohne vorherige Berichterstattung der JGH ist (§ 46 a Rn. 7), abgesichert werden.
Ostendorf fordert in Bezug auf die JGH noch immer und zu Recht, die Abschaffung des „Gerichtsgehersystems“, wie dies mit § 52 Abs. 3 SGB VIII sowie § 38 Abs. 4 S. 2 inzwischen auch gesetzlich gefordert ist. Organisatorisch soll weiterhin an einer spezialisierten JGH festgehalten werden, was im Kommentar ausführlich begründet wird (§ 38 Rn. 5). Zum anderen sei, so der Kommentar ebenfalls richtigerweise, ein Zeugnisverweigerungsrecht einzuführen, um die Betreuungsfunktion zu stärken und den Geheimnisschutz der Betroffenen zu sichern (§ 38 Rn. 12, 13). Eine Verstärkung der aktiven Rechte bis auf ein Frage- und Rederecht im Verfahren erscheine demgegenüber nicht angebracht, da damit die justizielle Einbindung indirekt sogar verstärkt werde. Entsprechende Vorschläge einer Arbeitsgruppe der DVJJ weist der Kommentar zurück, weil sie kurzsichtig und nicht im Interesse einer funktionalen JGH seien.
Auch in Bezug auf den Jugendstaatsanwalt gibt es wesentliche Änderungen durch das Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren. Dazu gehören neue Aufgaben und Zuständigkeiten für die Jugendstaatsanwaltschaft im Vorverfahren. So hat der Jugendstaatsanwalt nach § 38 Abs. 7 S. 1 – 3 über einen Verzicht auf die frühzeitige Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe nach § 38 Abs. 3 zu entscheiden, welcher insbesondere bei absehbaren Diversionsentscheidungen in Betracht kommt. Jenseits eines solchen Verzichts soll die Anklage zum Jugendgericht regelmäßig erst nach Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe erhoben werden.
Auch die in den Fällen der notwendigen Verteidigung nunmehr bereits im Vorverfahren von Amts wegen herbeizuführende Bestellung eines (Pflicht-)Verteidigers (§ 68 a Rn. 3 ff.) ist durch den Jugendstaatsanwalt zu beantragen (§ 142 Abs. 2 StPO). Generell sind die Kommentierungen zur Rolle und Funktion des Verteidigers im Jugendstrafverfahren besonders hervorzuheben. Während er wohl auch in der Praxis häufig noch immer als „pädagogisches Risiko“ gesehen wird, ordnet der Kommentar von Ostendorf ihn angemessen in das Gesamtsystem des Jugendstrafverfahrens ein, wobei er auch auf das Anwesenheitsrecht bei Explorationsgesprächen durch die JGH eingeht (§ 43 Rn. 25, § 73 Rn. 8). Auch die (nicht notwendige) „Erziehungsbefähigung“ (§ 68 a Rn. 6) und die „erzieherische Aufgabe“ des Verteidigers (§ 68 Rn. 3) wird im Kommentar angemessen kritisch gewürdigt. „Demgegenüber wird in der Rechtslehre dem Verteidiger häufig eine primäre oder gleichbedeutende erzieherische Aufgabe zugesprochen. Ja, der Verteidiger wird in einem erzieherisch gestalteten Strafprozess als Störenfried, als „pädagogisches Risiko“ betrachtet. Der kontradiktorische Prozess soll zu einer einvernehmlichen Verhandlung umgestaltet werden, indem die Konflikte notfalls unter Ausschluss des Hauptbeteiligten, des Angeklagten, außerhalb der Verhandlung vorab bereinigt werden. Diese Auffassung ist zurückzuweisen“ (§ 68 Rn. 3).
Leider findet sich außer dieser eher negativen Abgrenzung nichts dazu, welche persönlichen und fachlichen Voraussetzungen ein Verteidiger im Jugendstrafverfahren tatsächlich erfüllen soll, und dies obwohl unumstritten ist, dass die Verteidigung eines Jugendlichen oder Herauswachsenden andere Anforderungen an den Verteidiger stellt als die eines Erwachsenen. Hier hätte, ebenso wie bei den Qualifikationsanforderungen bei Jugendrichtern und Jugendstaatsanwälten, noch einiges an Literatur verarbeitet werden können. Ebenso wurde leider die 2020 erschienene empirische Studie von Artkämper zum Verfahren vor Jugendgerichten nicht berücksichtigt, obwohl hier intensiv die Kommunikation im Verfahren und die Problematik, dass viele Jugendliche und Heranwachsende gar nicht verstehen, was dort verhandelt wird, behandelt und empirisch belegt wird.
Insgesamt aber sind die durchgängig hohe Qualität der Kommentierung und vor allem der ebenfalls durchgängig kritische Ansatz zu betonen. Mit der 11. Auflage des Kommentars von Ostendorf wurde ein weiterer Meilenstein gesetzt in der Auseinandersetzung mit der Frage, wie mit Jugendlichen und Heranwachsenden im Jugendstrafverfahren auch und gerade vor dem Hintergrund unseres Rechtsstaatsprinzips umgegangen werden sollte. Es bleibt zu hoffen, dass durch die auch in Details fast immer sehr ausführliche und gut begründete Auseinandersetzung der Kommentator*innen auch jugendstrafrechtliche Irrlehren in der Praxis ausgeräumt werden. Zu befürchten ist allerdings, dass es an der dafür notwendigen konsequenten (und fachlich-empathischen) Arbeit von Strafverteidigern mangelt, was nicht nur fiskalische, sondern auch andere Gründe hat. Noch immer ist eine Verteidigung von Jugendlichen offensichtlich nicht attraktiv genug, und die Tatsache, dass in den allermeisten Fällen „nur“ eine Pflichtverteidigung mit eher bescheidenen Gebühren möglich ist, führt auch nicht dazu, dass der rechtliche und tatsächliche Druck auf die Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht wächst. Nur dieser Druck in allen Stadien des Verfahrens könnte aber dafür sorgen, dass tatsächlich alle Verfahren optimal vorbereitet (d.h. polizeilich ausermittelt und pädagogisch durch die JGH betreut) werden.
Zwar macht die Tatsache, dass der Kommentar durchgängig in Besprechungen gelobt wird, deutlich, dass er nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Rechtspraxis wahrgenommen und verwendet wird. Insofern ist der Werbetext des Verlages auf der Website ausnahmsweise einmal angemessen: „Der Ostendorf ist ein Muss für die Rechtsanwendung und jede Argumentationsbildung im Rahmen eines evidenzbasierten Jugendstrafrechts. Seine herausragende Stellung verdankt er einer wissenschaftlich fundierten Darstellung der Normen in ihrem kriminologischen Kontext, flankiert mit aktuellen Informationen zu rechtstatsächlichen wie kriminalpolitischen Entwicklungen.“ Es bleibt jedoch die Frage der Nachhaltigkeit und der tatsächlichen Wirkung des Kommentars in der Praxis. Diese Frage kann nur durch eine (derzeit leider nicht geplante) Evaluation des JGG und beständige Prüfung der Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht beantwortet werden – in Verbindung mit einer permanenten Qualitätssicherung, wofür juristische Instanzenwege nicht immer ausreichen.
Thomas Feltes, Juli 2021